Die Kommentierung – Kategorien und Prinzipien

Eine kommentierte Ausgabe von Hitlers Mein Kampf war aus nationalsozialistischer Sicht etwas Unmögliches, ja geradezu ein Sakrileg: »Wohin aber würden wir kommen, wenn allerorts das Buch des Führers, seine Reden oder das Programm der Partei zum Gegenstand von Untersuchungen, Vergleichen oder gar der Diskussion gemacht würden?«366, hieß es im April 1937 in einem Artikel der Nationalsozialistischen Bibliographie unter Berufung auf die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums. Rücksichtnahmen dieser Art sind heute glücklicherweise nicht mehr nötig, im Gegenteil: Sinnvoll ist eine Edition von Hitlers Buch nur dann, wenn der Text systematisch erklärt, kontextualisiert und in seinen Aussagen kritisch geprüft wird. Nicht ganz so einfach ist freilich die Frage nach der Umsetzung eines solchen Vorhabens zu beantworten. Wie hat die Kommentierung einer solchen Quelle auszusehen, wie groß darf bzw. muss der »Schatten« der Editorenhand bei einem Text wie diesem sein? Zu Beginn dieser Einleitung war von einer »Edition mit Standpunkt« die Rede. Was genau ist darunter zu verstehen?

Generell gilt: Über das Verhältnis von Edition und Interpretation existieren verschiedene Meinungen. Kurz gesagt bewegen sich diese zwischen den beiden Polen einer eher restriktiven Erläuterung, einem primär »von der Textdokumentation bestimmten Editionsverständnis«367, das bewusst auf jeden interpretierenden Zusatz verzichtet, und – im Gegensatz dazu – einem Kommentar, »der zugunsten einer als ›Deutung‹ ausgewiesenen Interpretation votiert«. 368 Für Letzteres spricht im vorliegenden Fall schon die Tatsache, dass die Entstehung von Hitlers Buch bereits 90 Jahre zurückliegt. Allein aus Gründen der Verständlichkeit wird man um entsprechende Kommentare kaum herumkommen. Doch sind die Probleme und Herausforderungen, die sich mit der Edierung von Mein Kampf stellen, ungleich komplexer.

Das Kernproblem ist die nach wie vor hohe Symbolkraft von Hitlers Buch. Schon bald nach seiner Entstehung erhielt es eine symbolische Bedeutung, die sich mehr und mehr von seiner inhaltlichen Relevanz löste. An dieser Symbolkraft von Mein Kampf hat sich bis heute nichts geändert, nur dass es inzwischen die dunkle Faszinationskraft des Bösen ist, auf die sich der Mythos dieses Texts gründet. Die Notwendigkeit der Dekonstruktion ist jedoch nicht der einzige Aspekt, der dafür spricht, Hitlers Buch ausführlich, allgemein verständlich, aber auch mit der notwendigen Entschiedenheit und Klarheit zu kommentieren. Dies begründet sich auch in der Textvorlage selbst: Weder handelt es sich bei Mein Kampf um ein seltenes Unikat, noch hat sich, von wenigen Splittern abgesehen, das Originalmanuskript erhalten. 369 Bei der Edition eines Texts, dessen Genese nur in Ausschnitten bekannt ist, muss zwangsläufig der Inhalt der Textvorlage noch mehr in den Vordergrund rücken.

Dagegen sind andere klassische editionswissenschaftliche Aufgaben zweitrangig oder schlichtweg unmöglich: die Dokumentation der Textgenese, die Textkonstitution oder auch die bloße Beschränkung auf jeden einzelnen Nachweis der – meist unbedeutenden – philologischen Varianten des Buchs während seiner 20-jährigen Verbreitungsgeschichte zwischen 1925 und 1945. Dafür, dass der Schwerpunkt dieser Edition auf einer kritischen Kommentierung des Inhalts liegt, gibt es allerdings noch ein weiteres, zentrales Argument: Hitlers Text lebt von einer konsequenten Verleugnung der Wirklichkeit; Mein Kampf ist Propaganda, historisches Wunsch­denken, autobiografische Selbststilisierung und schließlich eine Ansammlung von Ankündigungen und Zukunftsentwürfen, begründet mit einer nicht ungeschickten Mischung aus Lügen, Halbwahrheiten und Tatsachen. Zu seiner manipulativen Strategie gehört, dass Hitler häufig mit Bedacht und demagogischer Berechnung vage und unbestimmt bleibt. Dies verlangt nach einem Anmerkungsapparat, der entsprechend darauf reagiert. Welchen Sinn hätte die Vielzahl an Fachliteratur, an Editionen, Memoiren und wissenschaftlichen Debatten, wenn sie bei einem Editionsprojekt wie diesem unberücksichtigt blieben? Eine Einbeziehung der neueren und neuesten Forschung in den Anmerkungsapparat eröffnet überdies die Möglichkeit zu einer Diskussion dieser Forschung, die dann gewissermaßen »am Punkt« geführt werden kann – dort, wo die Gegenüberstellung von Quelle und Forschung zwangsläufig Fragen aufwirft.

Und schließlich gibt es noch einen weiteren Grund, der für eine intensive Kommentierung von Mein Kampf im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung spricht: Der Respekt vor denen, die der hier ausformulierten Ideologie zum Opfer fielen. So brutal, primitiv und abstoßend Hitlers Absichtserklärungen in Mein Kampf auch sein mögen, im Vergleich zu dem, was die Nationalsozialisten später aus diesen Ankündigungen machten, wirken sie oft noch verhältnismäßig unverbindlich. Die Erinnerung an die Folgen von Hitlers Fantastereien, deren Konkretisierung mit Fakten und Zahlen, ist daher immer auch ein Anliegen dieser Edition.

Nimmt man alles zusammen, so geht es hier also um eine Gratwanderung: eine Kommentierung, die sich sowohl dem Prinzip nüchterner Wissenschaftlichkeit verpflichtet fühlt als auch dem einer selbstbewussten, entschiedenen und durchweg kritischen Stellungnahme. Auf diese Weise soll eine Art Subtext zu Mein Kampf entstehen, der sich schon mit Blick auf das große öffentliche Interesse an dem Editionsprojekt nicht nur an den historisch versierten Experten richtet.

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Die kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat in Deutschland eine lange Tradition. Die Möglichkeiten, sich über diesen beispiellosen Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte zu informieren – sei es durch Bücher, Dokumentationen, Gedenkstätten, Ausstellungen und Museen  – sind immens. Mein Kampf ist für sich genommen in dieser breit angelegten Kultur der Erinnerung und des Gedenkens ein Relikt geblieben, wenn man so will einer der letzten wirklichen Überreste des Nationalsozialismus. Dass dieses Buch bislang noch nicht mit einem umfassenden, wissenschaftlichen Kommentar erschienen ist, hat historische, politische und juristische Gründe. Dass es sich in diesem Fall nicht allein um ein deutsches, sondern um ein internationales Problem handelt, macht es noch komplizierter, aber auch brisanter. Aufgrund des offenen englischen Copyrights, der zahlreichen Raubdrucke sowie der unkontrollierten elektronischen Verbreitung im Internet ist Mein Kampf in seiner unkommentierten Form zu einem Produkt geworden, das leicht zugänglich ist und mit dem sich noch immer Geschäfte machen lassen. Und: Der Verkauf dieser unkommentierten Ausgaben kann den Eindruck vermitteln, als geschähe dies mit deutscher Billigung. 70 Jahre nach Hitlers Tod ist es daher höchste Zeit für eine kritische Ausgabe. Deren Kommentierung folgt den folgenden Ansätzen:

Prüfung und Korrektur biografischer Angaben

Der erste Band von Mein Kampf ist über weite Strecken als Autobiografie Hitlers angelegt – beginnend mit den Tagen seiner Kindheit bis hin zum Beginn seiner politischen Karriere in DAP und NSDAP. Dass Hitler in einem »planvollen Prozeß der Selbststilisierung«370 der Öffentlichkeit hier nur ausgesuchte Schlaglichter präsentierte, wurde bereits geschildert. 371 Die biografischen Forschungen – insbesondere die wegweisenden Werke von Brigitte Hamann, Anton Joachimsthaler, Thomas Weber und Othmar Plöckinger372 – haben gezeigt, dass es zwar schwierig, aber durchaus möglich ist, die einseitige oder selektive Darstellung einer Biogra­fie zu widerlegen, für die fast keine persönlichen Dokumente existieren. Was liegt näher, als auf die vielfältigen Forschungsergebnisse zur Prüfung und Korrektur von Hitlers Behauptungen und Lebenslügen zurückzu­greifen? Allerdings eröffnet die vorliegende Edition auch den Blick auf die noch bestehenden Lücken der Forschung; das gilt besonders für die Frühgeschichte von DAP und NSDAP, sodass zur Kommentierung viele Archivalien und zeitgenössische Zeitungsartikel herangezogen werden mussten.

Die Attraktivität der Hitlerschen Lebenserzählung beruht nicht zuletzt auf den zahlreichen Anekdoten, die seine sonst langatmige und spröde Darstellung durchziehen, sowie auf einer nicht ungeschickten Vermischung von Realem und Erfundenem. Ein Beispiel für die dramatische wie tendenziöse Ausgestaltung seiner Lebensgeschichte ist Hitlers Darstellung über seine Meldung als Kriegsfreiwilliger im August 1914.  Im Kapitel Der Weltkrieg (I/5) schildert Hitler zunächst seine eigene Kriegsbegeisterung; bereits am 3. August 1914 habe er in einem »Immediatgesuch an Seine Majestät König Ludwig III.« darum gebeten, »in ein bayerisches Regiment eintreten zu dürfen« – ein Gesuch, das schon am Folgetag durch die »Kabinettskanzlei«373 bewilligt worden sei. Nur »wenige Tage später« sei er dann eingezogen worden. Während unbestritten bleibt, dass sich Hitler im August 1914 als Kriegsfreiwilliger meldete, verweist die Kommentierung auf die Ungereimtheiten seiner Darstellung und den wahrscheinlichen Ablauf der Ereignisse:

Hitlers Darstellung ist aus mehreren Gründen unglaubwürdig: Erstens war nicht die Kabinettskanzlei ermächtigt, Ausländer als Freiwillige an­zunehmen, sondern allein das Kriegsministerium; Hitler war zu dieser Zeit noch österreichischer Staatsbürger. Zweitens ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Beamten in der Situation des Kriegsausbruchs Hit­lers Gesuch innerhalb eines Tages bearbeiteten, beantworteten und ihm zustellten. Drittens haben sich keine Belege für dieses Immediatgesuch erhalten, obwohl das Bayerische Kriegsarchiv schon 1924 danach geforscht hat. Und viertens kam Hitler erst am 16. 8. 1914 zum Ersatz-Bataillon des 2.  Infanterie-Regiments, also knapp zwei Wochen nach der angeb­lichen Genehmigung seines Immediatgesuchs. Sehr wahrscheinlich meldete sich Hitler Anfang August 1914 einfach beim nächstliegenden Truppenteil und wurde angenommen. Ob dabei seine österreichische Staatsbürgerschaft übersehen wurde, ist unklar; möglicherweise profi­tierte Hitler auch entscheidend von dem »juristischen Rat«, den ihm der Assessor Ernst Hepp in dieser Sache erteilt hatte. Am 1. 9. 1914 wurde er schließlich der 1.  Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 16 zugewiesen. Vgl. BayHStA, Kriegsarchiv, Bay. Reserve-Infanterie-Regiment 16, 3046. KrStR, Bd. 2, Eintrag 1062; Joachimsthaler, Weg, S. 88 f., 100 – 108; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 128 f.; Weber, Krieg, S. 25 f.; Plöckinger, Soldaten, S. 28; Pyta, Hitler, Zitat S. 122. 

Hitlers Stilisierung hatte einen sehr konkreten Zweck: Die angebliche Bestätigung von »Allerhöchster Stelle« musste fast schon wie eine offizielle Einbürgerung Hitlers wirken, der zur Zeit der Entstehung von Mein Kampf noch immer nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügte und seit Ende April 1925 faktisch staatenlos war. 374

Hitlers Quellen

Die Frage nach Hitlers Quellen kam schon sehr früh auf. »Aber wir wollen ja nicht wissen, ob Hitler recht oder unrecht hat, sondern wie er zu seinen Ideen kam und was er mit ihnen erreichte«375, schrieb Konrad Heiden, einer der frühesten und kritischsten Analytiker der NS-Bewegung, bereits 1936. Diese Frage, hinter der stets auch die Frage steht, was an einer Erscheinung wie Hitler zeittypisch war, lässt sich durch Mein Kampf selbst nur schwer beantworten. In der »immerwachen Sorge des Autodidakten vor dem Verdacht geistiger Abhängigkeiten«376 gab Hitler seine Quellen für gewöhnlich nicht preis. Angesichts des schon damals unüberschaubaren Dickichts völkischer Pamphlete wollte er keinesfalls als bloßer Epigone erscheinen. Sein Text sollte vielmehr den Anschein des Neuen und Originellen erwecken und damit auch die Legende nähren, dass Hitler gleichsam »als genialer Autodidakt die nationalsozialistische Weltanschauung ohne Vorläufer erschaffen habe«. 377 Gleichwohl lassen sich in Mein Kampf eine ganze Reihe von Schriften identifizieren, die meist in der Zeit zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den frühen 1920er Jahren entstanden sind und in denen zumindest sinngemäß argumentiert wird. Zwar kann in aller Regel nicht mit endgültiger Sicherheit bestimmt werden, woher Hitlers »Weisheiten« genau stammen, doch gibt es durchaus Ausnahmen; diese werden in der Kommentierung besonders berücksichtigt.

Eine dieser Ausnahmen ist fraglos Gottfried Feders Schrift Der Deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage (1923). Hitlers Kenntnis und Wertschätzung dieser Schrift, die zum »Kernbereich der nationalsozialistischen Literatur«378 zählte, ist schon dadurch dokumentiert, dass er für sie ein Geleitwort schrieb, in dem er das Buch zum »Katechismus«379 der NS-Bewegung erklärte. Darüber hinaus gehört Gottfried Feder zu jenem sehr kleinen Kreis von Personen, die Hitler in Mein Kampf namentlich nennt und rühmt: Nach Feders erstem Vortrag über die »Brechung der Zinsknechtschaft« habe er, Hitler, »sofort« gewusst, »daß es sich hier um eine theoretische Wahrheit handelt, die von immenser Bedeutung für die Zukunft des deutschen Volkes werden wird«. 380 Dieser demonstrative Schulterschluss war indes nicht allein Ausdruck prinzipieller Übereinstimmung; er sollte auch kaschieren, dass Hitler auf dem zentralen Feld der Wirtschaftspolitik nichts Eigenständiges zu bieten hatte. Aber auch in anderen Punkten stimmte Hitler mit Feder überein: Zu Hitlers Aussage im Kapitel Staatsangehöriger und Staatsbürger (II/3), wonach das deutsche »Staatsbürgerrecht« erst auf Grundlage einer »Erziehung zum rasse- und nationalbewußten Volksgenossen«381 und weiterer staatlich vorgeschriebener Verpflichtungen verliehen werden dürfe, findet sich eine direkte Entsprechung bei Feder. Zwar hat Feder – wie die Kommentierung ebenfalls hervorhebt – diese Forderung nicht als erster Autor der damaligen deutschen Rechten erhoben, doch gibt es keine Schrift, die in diesem Fall als Vorlage Hitlers plausibler gemacht werden könnte als jene Feders; daher lautet die entsprechende Anmerkung:

Die Idee, dass sich der »erwachsene Deutsche« das Staatsbürgerrecht erst durch die Aneignung und Beibehaltung eines bestimmten Verhaltenskodex und völkisch-nationalistischen Wertesystems verdienen müsse, dürfte Hitler direkt aus Gottfried Feders Broschüre Der Deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage (1923) übernommen haben. Feder erhob diesen »Grundsatz« – unter expliziter Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung – zum wesentlichen Kennzeichen des »nationalsozialistische[n] Staat[es]«. Eine weitere mögliche Quelle ist Alfred Rosenbergs Broschüre Der völkische Staatsgedanke (1924), in der sich diese These ebenfalls findet. Originell waren jedoch weder Feder noch Rosenberg, denn auch für die­ses Denken lassen sich konkrete Vorläufer in der völkischen Bewegung vor 1918 aufzeigen. So hatte schon Heinrich Claß in seinem Pamphlet Wenn ich der Kaiser wär’ (1912) betont, dass ein von seinem »Deutschtum […] abgefallene[r] Volksgenosse kein Recht darauf« habe, »weiterhin als Glied des von ihm verachteten Gemeinwesens betrachtet zu werden«. Vgl. Frymann, Kaiser, Zitat S. 88; Feder, Staat (1924), Zitat S. 64f.; Rosenberg, Staatsgedanke, S. 26f.

Ein weiterer Autor, dessen Schriften Hitler mit Sicherheit kannte und dessen Einfluss in Mein Kampf immer wieder erkennbar wird, ist Alfred Rosenberg. So schildert Hitler beispielsweise im Kapitel Volk und Rasse (I/11) den historischen »Werdegang des Judentums« und spricht mit Blick auf das 18. Jahrhundert von der angeblich systematischen »Umgarnung der Fürsten« durch »den Juden«. Letzterer habe die »ewige Finanznot« der Herrschenden dadurch gefördert, dass er sie ihrer »wahren Aufgaben immer mehr« entfremdet und sie gezielt »zu Lastern« angeleitet habe, um sich so »immer unentbehrlicher« zu machen. 382 Hier verweist die Kommentierung auf Rosenbergs Pamphlet Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten (1920), an das die Passage in Mein Kampf stark erinnert: »Den Fürsten gegenüber versuchten und verstanden die Juden es oft sich unentbehrlich zu machen, indem sie ihnen für kriegerische Unternehmungen Geld vorschossen, ihre Leichtlebigkeit und Freigebigkeit in derselben Weise förderten, dafür aber hohe Zinsen und Privilegien herauszudrücken.«383 Derart evidente Übereinstimmungen bleiben in Mein Kampf jedoch die Ausnahme. Umso wichtiger ist es, weitgehend auf die zumeist unergiebigen Spekulationen über Hitlers Lektüre zu verzichten und stattdessen in der Kommentierung nur jene klar erkennbaren Quellen zu benennen, aus denen Hitler seine Ideologie unverändert, variiert oder auch in radikalisierter Form entnahm.

Ideengeschichtliche Wurzeln

Die Frage, wie es möglich war, dass ein Text wie Mein Kampf zumindest in Teilen der deutschen Gesellschaft anschlussfähig werden konnte, lässt sich ohne Kenntnis des übergreifenden geistes- und ideengeschichtlichen Kontexts nicht beantworten. Bei einer Edition von Hitlers Buch kommt man daher nicht umhin, heute meist vergessene zeitgenössische Vorstellungswelten in der Kommentierung abzubilden. Nur so lässt sich die Schrift in ihrer Zeit verorten. Dabei wird rasch deutlich, wie bemerkenswert wenig selbstständiges und originäres Gedankengut sich in Hitlers Buch findet und wie relativierungsbedürftig das bis heute immer wieder reproduzierte Bild von Mein Kampf als einem vermeintlich singulären Dokument rechtsradikaler Ideologie ist. Deutlich wird aber auch, wie falsch es wäre, für die Entstehung dieser Ideologie allein Hitler verantwortlich zu machen, dessen Weltanschauung immer auch das Produkt überpersönlicher Zeittendenzen war, hinter denen sich viel verbarg: Menschen und Gruppen, Kräfte und Ideen. Dieser umfassende Referenzrahmen ist nicht nur nötig für das Verständnis von Genese und Wirkung von Hitlers Schrift; auch »die schwer entschlüsselbare Korrespondenz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen«384, tritt erst vor dem Hintergrund dieses ideengeschichtlichen Spannungsfelds genauer hervor.

Die Frage nach den ideengeschichtlichen Wurzeln führt zunächst unweigerlich zu den zentralen Schriften der völkischen Bewegung des wilhelminischen Kaiserreichs wie Houston Stewart Chamberlains Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899), Heinrich Claß’ Wenn ich der Kaiser wär’ (1912), Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage (1878) oder auch Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) – um nur einige der bekanntesten Stichwortgeber zu nennen. Es ist daher kein Zufall, wenn diese Werke in der Kommentierung immer wieder auftauchen, bilden sie doch gleichsam das ideologische Koordinatensystem, in dem Hitlers Denken bei der Niederschrift von Mein Kampf weitgehend, wenn auch keineswegs vollständig befangen blieb. Von besonderem Interesse bei der Kontextualisierung von Hitlers Buch mit den »klassischen« Texten der völkischen Bewegung ist die Frage, welche Aspekte praktisch unverändert in Mein Kampf Eingang gefunden haben und welche nicht. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Kommentierung stets nur exemplarische Ausschnitte jener Schriften aufgreifen kann. Lamentiert Hitler etwa im Kapitel Ursa­chen des Zusammenbruches (I/10) über die angebliche »allgemein um sich greifende Verweichlichung und Verweibung«385 im Deutschen Reich vor 1914, so verweist die Kommentierung auf die lange Vorgeschichte dieser Vorstellung:

Hitler wiederholt auch hier zeittypische Topoi. Seit der Jahrhundertwende erhob die deutsche Kulturkritik immer wieder den Vorwurf, die wilhelminische Gesellschaft habe sich in den langen Friedensjahren seit 1871 an ein Leben in Pomp und Luxus gewöhnt und sei dadurch völlig verweichlicht. Beteiligt an dieser Debatte war auch Heinrich Claß, der die »Neigung zu weichlichem Wohlleben« als typische »Geistesrichtung« seiner Zeit kritisierte; »die männlichen Instinkte« des Volkes könnten nur noch »durch Zwang sichergestellt« werden. Teil dieses Diskurses waren auch Warnungen vor einer zunehmenden »Verweiberung der Männer«, so 1912 der Vorsitzende des Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation, Ludwig Langemann. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden solche Töne noch schärfer. So sprach Ernst von Wolzogen in seinem Kriegsbuch Landsturm im Feuer (1915) etwa von einer »schmachvolle[n] Verweibsung [sic!]« des »modernen intellektuellen Kulturlebens«, die durch »soldatische Volkserziehung […] wettgemacht« werden müsse. Dieses Denken fand weite gesellschaftliche Verbreitung und wurde mitunter auch von linkspolitischen Autoren aufgegriffen: So nahm der Philosoph und spätere Gründer des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds Leonard Nelson in der Schrift Die Reformation der Gesinnung (1917) zwar kritisch zum »Antifeminismus« Stellung, sprach jedoch zugleich von einer »erschreckend[en]« »Verweibung« der männlichen Jugend. Vgl. Wolzogen, Landsturm, Zitat S. 64; Frymann, Kaiser, Zitat S. 102; Nelson, Reformation, Zitat S. 28; Planert, Antifeminismus, bes.S. 241294, Zitat S. 280; Flemming, Wahrnehmungen, S. 3338; Planert, Kulturkritik.

Im Übrigen werden zur Illustration der ideengeschichtlichen Wurzeln von Mein Kampf nicht nur Vordenker der völkischen Bewegung des wilhelminischen Kaiserreichs berücksichtigt, sondern punktuell auch ausländische Autoren, deren Einfluss bis nach Deutschland reichte. Verwiesen sei etwa auf Henry Fords Pamphlet Der internationale Jude (1920), das in der frühen NSDAP zum Kanon jener Bücher gerechnet wurde, die »jeder Nationalsozialist kennen«386 müsse, sowie auf den bekannten Essai sur l’inégalité des races humaines (1853/55) von Joseph Arthur Comte de Gobineau. Infolge seiner Übertragung ins Deutsche durch Karl Ludwig Schemann unter dem Titel Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen entwickelte der Essai um die Jahrhundertwende einen prägenden Einfluss auf die völkische Gedankenwelt; seine Aussagen und Interpretationen lassen sich – ungeachtet der Frage, ob Hitler den Essai in seiner deutschen Übersetzung kannte oder nicht  – auch in Mein Kampf nachweisen. Dies gilt insbesondere für die rassentheoretischen Ausführungen der Kapitel Volk und Rasse (I/11) und Der Staat (II/2). So findet etwa das von Gobineau popularisierte Ideologem, wonach die »weiße Rasse« und insbesondere die »Arier« infolge einer »unendlichen Reihe von Mischungen« sukzessive »an Leibeskraft, an Schönheit [und] an Geistesgaben« verlieren müssten, bis schließlich ein »allgemeine[s] Niveau […] von der empörendsten Niedrigkeit«387 übrig bliebe, eine Entsprechung in Mein Kampf: So behauptet Hitler, eine der Folgen der »Rassenmischung« sei die »Minderung der geistigen Elastizität und schöpferischen Fähigkeit« und schließt daraus: »Jegliche Rassenkreuzung führt zwangsläufig früher oder später zum Untergang des Mischproduktes.« 388

Berichtigung sachlicher Fehler

Verwoben in Hitlers Schrift sind immer wieder schlichte Falschaussagen, bei denen schwer abzuschätzen ist, ob es sich um bewusste Irreführungen oder aber um Informationen handelt, die Hitler aufgrund mangelnder Bildung und sozusagen in »gutem Glauben« präsentiert. Ein Beispiel dafür ist eine Aussage Hitlers im Kapitel Ostorientierung oder Ostpolitik (II/14), wonach bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die »größten Militär- und Industriestaaten der Erde«389 gegen Deutschland gekämpft hätten. Die Kommentierung verweist hier darauf, dass das Deutsche Reich in Wirk­lichkeit von allen Krieg führenden Staaten zunächst die stärkste Industrienation war und dass sich dies erst mit dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 änderte:

Hitlers Aussage über die Koalitionen des Ersten Weltkriegs ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Die Entente umfasste mit Frankreich, Großbritannien und Russland keineswegs die größten Industriestaaten der Erde. Deutschland war 1913 die zweitstärkste Industrienation der Welt und wurde lediglich von den USA übertroffen. Die USA traten dem Bündnis gegen die Mittelmächte jedoch erst 1917 bei – und dies lediglich als »assoziierte Macht«, um sich nicht an die Kriegsziele der Entente zu binden. Außerdem war die Entente kein »aktiver Angriffsverband«, wie Hitler behauptet. Frankreich und Russland hatten zwar vereinbart, Deutschland anzugreifen, falls ein Staat des Dreibunds seine Armee mobilmachen würde; Großbritannien schloss sich dieser Abmachung jedoch nicht an und versuchte bis zuletzt, soviel Handlungsfreiheit wie möglich zu bewahren. Selbst bei Kriegsausbruch blieb Großbritannien zunächst zurückhaltend, da es sich nicht in einen Konflikt verwickeln lassen wollte, der seine Interessen nicht unmittelbar bedrohte. Erst der deutsche Einmarsch in das neutrale Bel­gien führte in Großbritannien zu einem Stimmungsumschwung und löste letztendlich die britische Kriegserklärung an Deutschland aus. Vgl. Wilson, Policy, S. 135147; Wallach, Coalition, S. 720; Bell, France, S. 5359; Avice-Hanoun, L’Alliance; Harris, Great Britain, S. 278ff.

Ein weiteres Beispiel, das anschaulich die mitunter frappierende Unbildung Hitlers illustriert, ist im Kapitel Der Föderalismus als Maske (II/10) seine Äußerung über »Süditalien«, das ihm als abschreckendes Beispiel einer »jüdische[n] Bastardierung«390 gilt. Hitler, der bis dato nur während der Jahre 1914 bis 1918 den deutschen Sprachraum verlassen hatte und sich der Erfahrung von Reisen oder dem Erlernen von Fremdsprachen konsequent verschloss391, hatte von Italien – in seinen Augen immerhin ein potenzieller Bundesgenosse392 – ganz offensichtlich wenig Ahnung:

Hitlers Behauptung ist in zweifacher Hinsicht falsch: Generell war der Anteil der Juden an der italienischen Gesamtbevölkerung verschwindend gering; so lag er 1938 bei lediglich 1,1 ‰. Diese rund 56.500 Menschen waren vor allem in den größeren Städten Nord- und Mittelitaliens ansässig, die Hälfte von ihnen in Triest, Livorno, Rom, Mailand und Turin. In Süditalien lebten hingegen fast keine Juden, nachdem sie unter der spanischen Herrschaft bereits bis 1541 nahezu vollständig vertrieben worden waren. Sehr kleine jüdische Gemeinden existierten lediglich in Neapel und in Palermo. Vgl. Michaelis, Mussolini, S. 345; Schlemmer/Woller, Faschismus, S. 169179; Woller, Geschichte, S. 154f.

Zeitgenössische Kontextualisierung

Mein Kampf ist voll von Randinformationen und mehr oder weniger versteckten Anspielungen, die Hitler nicht weiter erläutert, da er sie in den 1920er Jahren als bekannt voraussetzen durfte. Inzwischen gilt dies aber nur noch für einen sehr kleinen Kreis von Spezialisten. Eine Edition, die sich nicht nur an diese richtet, sollte in ihrer Kommentierung auch diesen Kontext entschlüsseln. Viele Ausführungen Hitlers würden sonst unverständlich bleiben oder sich noch mehr im Vagen verlieren, als es der Text aufgrund seiner oft verqueren Diktion ohnehin immer wieder tut. Ein Beispiel für einen solchen Kommentierungsansatz findet sich im Kapitel München (I/4), in dem Hitler die ironisch gemeinte Bemerkung einstreut, Großbritannien sei im August 1914 »für die ›Freiheit‹« in den Ersten Weltkrieg eingetreten »und nicht einmal für die eigene«, sondern »für die der kleinen Nationen«. 393 Hier bietet die Kommentierung nicht nur einen Hinweis auf die britische Begründung für den Kriegseintritt, sondern auch darauf, dass Großbritannien damals in der Tat als Schutzmacht einer kleinen Nation wie Belgien auftrat:

Ironisierende Anspielung auf die offizielle Begründung britischer Staatsmänner und Publizisten für den Eintritt ihres Landes in den Ersten Weltkrieg. Gerechtfertigt wurde dieser – innenpolitisch sehr stark umstrittene – Schritt in erster Linie mit dem Hinweis auf die Verletzung der Neutralität Belgiens durch den Einmarsch deutscher Truppen am 4. 8. 1914.  So be­tonte der britische Finanzminister (Chancellor of the Exchequer) David Lloyd George am 19. 9. 1914 in einer berühmt gewordenen Rede in der Londoner Queen’s Hall: »Why is our honour as a country involved in this war? Because, in the first instance, we are bound by honourable obligations to defend the independence, the liberty, the integrity, of a small neighbour that has always lived peaceably. […] We entered into a treaty – a solemn treaty – two treaties – to defend Belgium and her integrity.« Vgl. Copeland/Lamm/McKenna (Hrsg.), Speeches, Zitat S. 202; Leonhard, Büchse, S. 109f., 137f.

Durch solche Informationen wird auch unterstrichen, dass sich Mein Kampf keineswegs in einer bloßen Aneinanderreihung frei erfundener Behauptungen erschöpft. Vielmehr arbeitete Hitler mit einem der schlagkräftigsten Mittel der Demagogie: der Mischung aus »Dichtung und Wahrheit«. Auch deshalb konnte eine Schrift wie Mein Kampf ungeachtet ihrer oft abstrusen Behauptungen eine solche Wirkung entfalten.

Dass es sich bei Mein Kampf über weite Strecken um eine unbestimmt formulierte Schrift handelt, deren Anspielungen heute mitunter nur noch schwer zu entschlüsseln sind, begründete sich auch in der Situation des Autors. Hitler war vorbestraft, auf Bewährung entlassen und von einer Ausweisung nach Österreich bedroht, die vermutlich das Ende seiner politischen Karriere bedeutet hätte. Außerdem war er in seiner propagandistischen Wirkung stark durch das Redeverbot behindert, das während der Entstehung von Mein Kampf fast im gesamten Deutschen Reich galt. 394 Dies hatte zur Folge, dass er – allen Hasstiraden zum Trotz – in seinen Äußerungen vorsichtig sein musste, um dem verhassten »Weimarer System« keinen Anlass zu geben, gegen ihn mit zusätzlichen Maßnahmen vorzugehen. Ein besonders heikles Thema waren etwa die politischen Morde, welche die Republik in ihren ersten Jahren erschüttert hatten. Da sie zumeist von rechtsradikalen Tätern begangen worden waren, war die Frage nach Hitlers Haltung von besonderem Interesse. In Mein Kampf bezeichnet Hitler diese Form des politischen Terrors jedoch kurzerhand für »vollkommen belanglos«, da an die Stelle des Ermordeten lediglich »andere ebenso große und ebenso durstige Blutsauger«395 treten würden. Die ganze Dimension und Bedeutung dessen, was sich hinter diesen wenigen, lapidaren Angaben Hitlers verbarg – die Mordanschläge der geheimen Organisation Consul, die wehrhafte Reaktion des Weimarer Staats in Gestalt des Republikschutzgesetzes sowie der prinzipielle Richtungsstreit im rechtsradikalen Lager über die angemessene Strategie im Kampf gegen die Republik – wird durch die Kommentierung aufgezeigt. 396

Erläuterung zentraler ideologischer Begriffe

Wie andere völkische Ideologen seiner Zeit operiert Hitler in Mein Kampf bewusst mit einer Vielzahl affektiver Signalwörter. Angesichts der Bedeutung dieser Begrifflichkeiten für die Genese und Wirkung der NS-Ideologie erklärt die Kommentierung die Herkunft, Verbreitung und Wirkung dieser Begriffe, auch mit Blick auf die Geschichte nach 1933.  So verwendet Hitler etwa allein den Begriff der »Volksgemeinschaft« in Mein Kampf nicht we­niger als vierzig Mal. Allerdings war, wie die dazugehörige Anmerkung erläutert, dieser Begriff damals noch nicht nationalsozialistisch kontaminiert, sondern selbstverständlicher Bestandteil der politischen Sprache, nicht zuletzt in den öffentlichen Reden von Reichspräsident Friedrich Ebert. Erst später, Jahre nach der Veröffentlichung von Mein Kampf, wurde der Begriff ganz von rechtsradikalen Ideologen vereinnahmt. 397

Anders liegt der Fall bei einem Begriff wie dem der »Rassenschande«, der seit jeher fast ausschließlich im Sprachgebrauch der völkischen Rechten heimisch war. In der Kommentierung wird der Begriff – den Hitler in Mein Kampf zweimal verwendet, zunächst im Kontext von Geschlechtskrankheiten, dann mit Blick auf den Einsatz von Kolonialsoldaten bei der Rheinlandbesetzung 398 – zunächst auf seine kolonialgeschichtlichen Wurzeln zurückgeführt, ehe die zunehmend spezifisch antisemitische Konnotation des Begriffs in nationalsozialistischen Schriften erläutert wird – bis hin zur pervertierten Rechtsprechung der »Nürnberger Gesetze«:

Der Begriff »Rassenschande« lässt sich bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen. Der ADV versuchte mit ihm, vor allem den Geschlechtsverkehr zwischen weißen Frauen und dunkelhäutigen Männern zu stigmatisieren. Ähnlich argumentierte der später durch den Roman Volk ohne Raum (1926) bekannt gewordene Schriftsteller Hans Grimm. In seinem Kolonialhandbuch Afrikafahrt West (1913) bezeichnete er es als »unsühnbar[es]« Verbrechen, »wenn ein weißes Weib mit einem Farbigen in Geschlechtsverkehr« trete. »Kein Tod« sei schnell und »kein Grab […] tief und verschwiegen genug für solche Ungeheuerlichkeit«. Diese völkische Perzeption blieb jedoch nicht auf die Kolonien beschränkt. In seinem Buch Rassenlehre und Rassenpflege (1913) bezeichnete Max Robert Gerstenhauer, führender Funktionär des Deutschbunds, die »Vermischung« von »Slawen« sowie »ungarischen, galizischen und russischen Juden […] mit dem deutschen Volke« als »Rassenschande«.

Nach dem Verlust der Kolonien durch den Versailler Vertrag diente der Begriff »Rassenschande« schließlich primär dazu, den Einsatz von Kolonialtruppen durch die Alliierten im Ersten Weltkrieg und während der Besetzung des Rheinlands zu skandalisieren. Der Begriff blieb weiterhin sexuell konnotiert: In Reden, Romanen, Karikaturen, auf Plakaten und Postkarten wurde unentwegt die Gefahr der Vergewaltigung und »Schändung« deutscher Frauen durch schwarzafrikanische Soldaten beschworen, denen ein übersteigerter, quasi animalischer Geschlechtstrieb nachgesagt wurde. Zugleich gingen völkische Autoren vermehrt dazu über, den Begriff »Ras­senschande« exklusiv zur Diffamierung von Geschlechtsbeziehungen zwischen Juden und Nichtjuden zu gebrauchen. Dieses veränderte Begriffs­verständnis wurde von der NSDAP übernommen und vor allem in Julius Streichers Hetzblatt Der Stürmer radikalisiert. Im Dritten Reich stellte das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. 9. 1935 den Geschlechtsverkehr zwischen Juden und »Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes« unter Strafe. Vgl. Grimm, Afrikafahrt, Zitat S. 175; Gerstenhauer, Rassenlehre, Zitat S. 39; RGBl. 1935/I, S. 1146f.; Przyrembel, Reinheitsmythos, bes.S. 4365, 127150, 185200; Ruault, Streicher, bes.S. 63103; Wigger, Afrikaner.

Sachinformationen

Mit seinem Buch erhob Hitler einen grundsätzlichen Anspruch auf »Welterklärung«. Die Folge war, dass er sich in Mein Kampf so gut wie zu allem und jedem äußerte – vom Föderalismus über die Geburtenbeschränkung, die »Verprostituierung der Kunst«, die Bewaffnung der deutschen Kriegsmarine, die Syphilis und den Mädchenhandel, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Geschichte des jüdischen Volks bis hin zu den »langen Röhrenhosen« der männlichen Jugend. Sieht man einmal ab vom ideologischen Anteil dieser Ausführungen, so sind diese stets auch Reflexe auf eine Wirklichkeit, die heute längst vergangen und nur noch wenigen Experten vertraut ist. Das betrifft die großen, übergreifenden historischen Zusammenhänge und Ereignisse ebenso wie die unzähligen historischen Details, mit denen Hitler seine eigene Lebensgeschichte wie auch die allgemeine politische Geschichte ausschmückt.

Die Kommentierung liefert daher Sachinformationen, die dem professionellen Historiker möglicherweise als überflüssig, als »allgemein bekannt« erscheinen. Doch wird Hitlers Darstellung, jener »Sumpf« aus Lüge, Verzerrung, Unterstellung, Halbwahrheit und realen Fakten, nur dann »begehbar«, wenn die Kommentierung auch Informationen bietet, die Hitlers verzerrte und unvollständige Darstellungen ergänzen oder konterkarieren. So spricht Hitler im Kapitel Die Revolution (I/7) von der immer stärker anschwellenden »Flut« der alliierten Propaganda im letzten Kriegsjahr und stilisiert sie zu einer geradezu kriegsentscheidenden Waffe: »auf Schritt und Tritt« seien nun »die Wirkungen dieses Seelenfanges [zu] erkennen« gewesen. »Die Armee lernte allmählich denken, wie der Feind es wollte«. 399 Die dazu gehörende Anmerkung nimmt nicht nur die historischen Hintergründe von Hitlers Behauptung in den Blick, sie erklärt auch, welchen politischen Zweck Hitler mit dieser Aussage verfolgte:

Gemeint ist hier in erster Linie die alliierte Flugblattpropaganda, der sich vor allem die britischen Truppen bedienten. 1918 wurde diese Form der psychologischen Kriegführung in der Tat enorm ausgeweitet: Die Zahl der über und hinter den deutschen Linien abgeworfenen britischen Flugblätter stieg zwischen Juni und Oktober 1918 von knapp 1,69 auf 5,36 Millionen. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg erklärte am 2. 9. 1918 in einem öffentlichen Aufruf: »[Der Feind] überschüttet unsere Front nicht nur mit einem Trommelfeuer der Artillerie, sondern auch mit einem Trommelfeuer von bedrucktem Papier. Seine Flieger werfen ne­ben Bomben, die den Leib töten, Flugblätter ab, die den Geist töten sollen.« Auf britischer Seite wertete man Hindenburgs Aufruf als Beweis für den Erfolg der eigenen Bemühungen. Da Hindenburg damals aber schon von Ludendorff eröffnet worden war, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, enthält dieser Aufruf gewissermaßen schon einen Keim der spä­teren Dolchstoßlegende, nach der das Heer nicht durch Überforderung oder innere Schwäche, sondern durch eine demoralisierte Heimat zu Fall gebracht worden sei. Auch die deutschen Feldzeitungen über­nahmen damals diesen Tenor, etwa in dem Artikel Der moralische Zu­sammenbruch Deutschlands – die einzige Siegesmöglichkeit des Verbandes. Vgl. Ursachen und Folgen, Bd. 2, Dok. 354, Zitat S. 293f.; Liller Kriegszeitung vom 6. 9. 1918; Kriegszeitung der 1.  Armee vom 15. 9. 1918; NA London, CAB/24/75: Report on the Work of the Department of Propaganda in Enemy Countries (1919), S. 1; Taylor, Propaganda, S. 54f.; Gering, Kriegsflugblätter, S. 214219.

Korrektur falscher oder einseitiger Darstellungen

Mit Vorliebe stilisierte sich Hitler in Mein Kampf zur Gestalt eines Propheten, eines verkannten, verleumdeten, ganz und gar verlassenen Mahners in der Wüste. Zu welch abwegigen Aussagen er sich dabei mitunter hinreißen ließ, illustrieren exemplarisch seine Behauptungen über das angeblich völlige Desinteresse der Deutschen an der Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs; nach Kriegsende, so Hitler zu Beginn des Kapitels Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede (II/6), habe sich dafür »kein Mensch«400 interessiert. Eine kritische Kommentierung kann an einer solch kruden Behauptung nicht vorübergehen, zumal Hit­lers nachfolgende Argumentation auf ihr aufbaut. Wie sehr Hitlers Bemerkung die Wirklichkeit auf den Kopf stellte, legt die entsprechende Anmerkung offen:

Spätestens seit dem 23. 11. 1918, als Kurt Eisner Akten des bayerischen Ministeriums des Äußern vom Juli 1914 veröffentlichen ließ, um die Schuld der deutschen Regierung am Ausbruch des Kriegs zu belegen und durch das Bild eines grundlegend gewandelten Deutschlands bei den Siegermächten um günstige Friedensbedingungen zu werben, stand die Frage der Kriegsschuld im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Erst recht galt dies nach Bekanntwerden von Artikel 231 des Versailler Vertrags, der die Alleinschuld des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten am Ausbruch des Kriegs und an den in ihm entstandenen Schäden postulierte. In allen politischen Lagern sorgte dies für empörten Protest. Besonderen Eifer beim Versuch, eine deutsche Alleinschuld zu widerlegen, zeigte das Auswärtige Amt. Bereits seit Dezember 1918 bemühte sich ein eigenes Referat (seit 1919 »Kriegsschuldreferat« genannt) darum, Material zur Widerlegung der Kriegsschuldthese zu sammeln und es einem nationalen wie internationalen Publikum zur Kenntnis zu bringen. 1921 wurde die Zentralstelle zur Erforschung der Kriegsursachen gegründet, die seit 1923 die Zeitschrift Die Kriegsschuldfrage herausgab und zwischen 1922 und 1927 die umfangreiche Quellenedition Große Politik der Europäischen Kabinette 18711914 veröffentlichte. Vgl. Heinemann, Niederlage; Geiss, Kriegsschuldfrage; Krüger, Außenpolitik, bes.S. 6165; Dreyer/Lembcke, Diskussion, bes.S. 56179.

Als ein zweites Beispiel solch einseitiger, differenzierungsbedürftiger Aussagen sei auf Hitlers Ausführungen zur französischen Deutschlandpolitik seit Ende des Ersten Weltkriegs verwiesen. So behauptet er im Kapitel Notwehr als Recht (II/15), Frankreich habe gegenüber Deutschland eine »Politik politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausplünderung […] durchgeführt«. Damit sei »das französische Kriegsziel dann endgültig erreicht. Dies mußte man im Winter 1922/23 doch schon längst als Frankreichs Absicht erkannt haben.«401 Auch das ist eine letztlich unhaltbare Verkürzung: Zwar verfolgte der von Januar 1922 bis Juni 1924 amtierende französische Ministerpräsident und Außenminister Raymond Poincaré tatsächlich eine dezidiert feindselige und repressive Deutschlandpolitik, doch entspannten sich im Anschluss daran – also während Hitlers Arbeiten an Mein Kampf – die deutsch-französischen Beziehungen. Dieser Sachverhalt passte jedoch weder in Hitlers Vorstellung vom französischen »Erbfeind«402, noch war Hitler bereit, den Protagonisten dieser Politik der Verständigung, allen voran Aristide Briand und Gustav Stresemann, Erfolge zuzugestehen. All das, was Hitler ignoriert oder geflissentlich verschweigt, ergänzt daher die Kommentierung. 403

Übereinstimmungen mit der nationalsozialistischen Politik in der Zeit 1933 – 1945

Eine zentrale Frage, die sich bei Mein Kampf stellt, ist die nach den Folgen, die sich aus Hitlers Prozess der weltanschaulichen Selbstfindung ergaben. 404 Daher nimmt die Kommentierung auch die damalige Zukunft in den Blick. Für Editionen ist das sehr ungewöhnlich. Doch versteht sich Hitlers Buch über weite Strecken auch als Zukunftsentwurf, als Utopie eines neuen »völkischen Staats«. Eingeflossen sind diese thematisch breit gefächerten gesellschaftlichen und politischen Ankündigungen vor allem in den zweiten Band von Mein Kampf. Sie scheinen auf den ersten Blick allgemein gehalten, unverbindlich und zum Teil auch relativ harmlos – eben wie ein klassisches Wahlprogramm. Nur der Verweis auf die spätere Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus kann daher veranschaulichen, welch katastrophale Folgen Hitlers Planspiele hatten. Freilich darf dabei weder die nicht unerhebliche zeitliche Distanz zwischen der Niederschrift von Mein Kampf und der späteren nationalsozialistischen Gewaltpolitik außer Acht gelassen werden, zwischen denen mitnichten immer ein gerader und direkter Weg besteht, noch alle übrigen, historisch wirksamen Faktoren, welche die damalige deutsche Politik beeinflussten. Gerade anhand einer solchen Kontrastierung zwischen politischem Entwurf und po­litischer Ausführung lässt sich der Stellenwert präzisieren, den Hitlers Pläne für die deutsche Politik der Jahre 1933 bis 1945 haben sollten. Auf jeden Fall wäre es eine völlige Unterschätzung der brutalen Konsequenz von Hitlers Entwürfen, wollte man die vielen frappierenden Parallelen zwischen seinen frühen Entwürfen und seiner späteren Politik einfach ignorieren.

Evident werden solche Übereinstimmungen etwa an einer Äußerung im Kapitel Der Staat (II/2). Dieser, so Hitler, müsse künftig »als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des einzelnen als nichts erscheinen und sich zu beugen haben«. Der Staat habe »die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen« und alles, »was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend« sei, für »zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen«. 405 Welch verheerende Konsequenzen eine solche Forderung haben sollte, zeigt die Kommentierung unter Verweis auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 sowie auf die konkrete Opferzahl, die dann am Ende dieser Politik stand.

Zur Umsetzung der von Hitler geforderten Zwangssterilisationen erließ das NS-Regime am 14. 7. 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das zum 1. 1. 1934 in Kraft trat. Menschen mit »angeborenem Schwachsinn«, »Schizophrenie«, »zirkulärem (manisch-depressivem) Irre­sein«, »erblicher Fallsucht« (Epilepsie), »erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)«, »erblicher Blindheit«, »erblicher Taubheit«, »schwerer erblicher körperlicher Mißbildung« sowie Personen mit »schwerem Alkoholismus« konnten künftig durch »chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden«. Zwischen 1934 und 1945 wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Frauen und 600 Männer aufgrund von Komplikationen starben. Zur Überwachung und Begutachtung der Sterilisationsverfahren wurden »Erbgesundheitsgerichte« eingeführt. Vgl. RGBl.  1933/I, S. 529531; Bock, Zwangssterilisation, bes.S. 178253, 372381; Schmuhl, Rassenhygiene, bes.S. 151168, 361f.

Zu den frappierendsten Übereinstimmungen zwischen den Inhalten von Mein Kampf und der späteren NS-Politik zählen fraglos Hitlers offen geäußerte Überlegungen zur Eroberung von neuem »Lebensraum« im Osten. »Nicht West- und nicht Ostorientierung« dürfe »das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk«406, schreibt er im Kapitel Ostorientierung oder Ostpolitik (II/14). Zusätzlich an Brisanz gewinnt diese Textstelle, liest man sie vor dem Hintergrund des im Kapitel Der Staat (II/2) ausgeführten, rassenideologischen Dogmas, wonach »Germanisation […] nur an Boden vorgenommen werden« könne, »niemals« jedoch »an Menschen«. 407 In Kombination verweisen diese beiden Äußerungen unmittelbar auf die deutsche Eroberungs- und Besatzungspolitik des Zweiten Weltkriegs. Denn die von Hitler formulierte, fixe Überzeugung ließ letztlich nur drei Handlungsoptionen im Umgang mit der Bevölkerung des neu eroberten »Lebensraums« offen – ihre Vertreibung, ihre Versklavung oder aber ihre Vernichtung. 408

Widersprüche zur nationalsozialistischen Politik in der Zeit 1933 – 1945

Solche aufschlussreichen Übereinstimmungen dürfen indes nicht den Blick darauf verstellen, dass es auch eklatante Widersprüche zwischen der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis und Hitlers Ausführungen in Mein Kampf gibt. Diese Herrschaftspraxis war mitnichten eine ausschließliche Erfüllung aller großspurigen Versprechen und Ankündigungen, die in einer Unzahl ideologisch programmatischer Schriften der »Kampfzeit« formuliert worden waren. Mein Kampf bildet hier keine Ausnahme. Um die simplifizierende wie haltlose Vorstellung von Hitlers Buch als einer »Blaupause« des Dritten Reichs zu relativieren, verweist die Kommentierung auch auf jene Stellen, die sich mit der Realität des NS-Staats nicht vereinbaren lassen oder gar in direktem Widerspruch zu ihr stehen.

Auch dies sei an zwei Beispielen aufgezeigt: Im Kapitel Der Staat (II/2) schreibt Hitler nach längeren Ausführungen zur angeblich »sinkende[n] Wertschätzung der körperlichen Arbeit« durch die deutsche Gesellschaft, es sei »Aufgabe unserer Bewegung«, »dereinst« für eine »weise beschränkte Staffelung der Verdienste« zu sorgen; nur durch höheren Lohn könne »auch dem letzten redlich Arbeitenden […] ein ehrliches, ordentliches Dasein als Volksgenosse und Mensch ermöglicht«409 werden. Für die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten sollte dieses Versprechen jedoch keine Rolle spielen; vielmehr fixierte der NS-Staat, ungeachtet aller ideologischen Aufwertung und propagandistischen Verklärung der Arbeiter, 1933 deren Einkommen auf dem kargen Niveau der Weltwirtschaftskrise; der reale Nettostundenlohn der Arbeiter blieb im Dritten Reich noch unterhalb des Niveaus der von Hitler so geschmähten Weimarer Republik. 410

Ein weiteres Beispiel bietet eine Passage des Kapitels Der Föderalismus als Maske (II/10), in der Hitler der Weimarer Reichsverfassung unterstellt, die Einzelstaaten gezielt »zu vollständiger Bedeutungslosigkeit« degradiert zu haben; die Nationalsozialisten verstünden es hingegen als ihre Aufgabe, den Einfluss der Länder zu stärken und »ihren Kampf gegen die Zentralisation überhaupt zum Ausdruck eines höheren nationalen allgemein deutschen Interesses zu machen«. 411 Auch hier sollte die Wirklichkeit des Dritten Reichs Hitlers Ankündigungen diametral widersprechen:

Im Dritten Reich war davon nicht mehr die Rede. Nachdem der Reichsrat schon infolge des »Preußenschlags« am 20. 7. 1932, der Ersetzung der geschäftsführenden preußischen Regierung durch einen Reichskommissar, stark an Macht verloren hatte, wurde er nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler von den nationalsozialistischen Machthabern rasch beseitigt; seine Entmachtung erfolgte in drei Schritten: Durch das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (24. 3. 1933) wurde die Mitwirkung des Reichsrats bei der Gesetzgebung aufgehoben. Mit dem Zweiten Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (7. 4. 1933), dem »Reichsstatt­haltergesetz«, übernahmen die Reichsstatthalter die Vertretung der Länder. Schließlich übertrug das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs (30. 1. 1934) die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich, die Landesregierungen wurden der Reichsregierung direkt unterstellt. Damit war der Reichsrat als wichtigstes Repräsentativorgan der Länder auf Reichsebene funktionslos geworden; seine offizielle Aufhebung durch das Gesetz vom 14. 2. 1934 war nur noch ein formeller Akt. Im Übrigen waren von den 819 Personen, die zwischen November 1918 und Februar 1934 als Bevollmächtigte oder stellvertretende Bevollmächtigte dem Reichsrat angehörten, insgesamt 118 während des Dritten Reichs nationalsozialistischen Repressa­lien ausgesetzt. Vgl. RGBl. 1933/I, S. 141, 173, 225, 293, 736; 1934/I, S. 75, 89; Bachnik, Verfassungsreformvorstellungen, S. 4865; Talmon, Ende; Lilla, Reichsrat, S. 72* – 86*, 131f.*

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Diese zehn Kategorien für die Kommentierung sind ein großes und ehrgeiziges Programm. Da es sich hier um ein Editionsvorhaben handelt, für das es im Grunde wenig Vergleichbares gibt, wirft das zwangsläufig eine Reihe von Fragen auf: Wurde die Textvorlage nicht überkommentiert? Macht eine so große Zahl an Anmerkungen diesen Text nicht noch unübersichtlicher, als er es ohnehin schon ist? Und besteht durch die sehr dichte Kommentierung nicht die Gefahr einer zu starken interpretatorischen Überfrachtung einer Quelle, die angesichts ihrer großen historischen Bedeutung mehr Zurückhaltung von Seiten der Editoren verdient hätte?

Verwiesen werden muss an dieser Stelle nochmals auf den hohen Symbolgehalt von Mein Kampf, auf die nach wie vor existierende Mythologisierung des Buchs sowie auf den Adressatenkreis der Edition, der sich nicht ausschließlich auf den eng gezogenen Kreis der wissenschaftlichen Spezialisten beschränken soll. Doch kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Diese Edition möchte sich weder auf einige kommentierte Auszüge aus Mein Kampf beschränken, noch will sie eine zusammenfassende Interpretation bieten, so wie das schon oft geschehen ist. Ziel ist vielmehr die Edition und Kommentierung von Mein Kampf in seiner Gesamtheit. Da aber Hitlers Schrift inhaltlich, sprachlich sowie in ihrem Aufbau so etwas wie ein ­Monstrum darstellt, bleibt nichts anderes übrig, als der Gestalt dieses Monstrums so genau wie möglich nachzuspüren. Erst dann lässt sich dessen historische Bedeutung präzise erfassen. Dies soll zudem – so die Hoffnung der Editoren – eine intensivere Beschäftigung als bisher mit dieser Quelle ermöglichen, auch im Sinne einer künftigen Forschung.

Was aber heißt das für die Leser und Benutzer dieser Edition? Ist es überhaupt denkbar, dass sich die Edition lesen lassen wird wie andere Bücher, an einem Stück? Wohl kaum. Eher erinnert diese Edition an ein anderes Projekt des Instituts für Zeitgeschichte. Auch in diesem Fall han­delte es sich ursprünglich um eines der noch wenigen wirklichen Relikte des Dritten Reichs, das relativ unverändert in unsere Gegenwart hineingeragt hatte, als hätte es die Zeit nach 1945 nicht gegeben. Erst 1995/96 konnte der Freistaat Bayern über das Areal von Hitlers Domizil auf dem Obersalzberg frei verfügen. Mit der 1999 eröffneten Dokumentation Obersalzberg hat das Institut für Zeitgeschichte damit begonnen, an einem Ort, in diesem Fall einem »Täterort«, über dessen Vergangenheit zu informieren und aufzuklären. Dazu gehörte und gehört auch die langsame Erschließung und Begehbarmachung der ausgedehnten Bunkeranlagen im Obersalzberg.

An dieses Bild lässt sich im Falle der vorliegenden Edition durchaus anschließen: Dunkle, unerschlossene Ruinen und Stollen einer nicht minder dunklen Zeit, angefüllt mit ihrem Schutt und Unrat, die nun einem riesi­gen Museum gleich begehbar geworden sind, um einen Eindruck des Gan­zen zu vermitteln oder auch um detaillierte Einblicke in Teilabschnitte und Einzelaspekte zu gewähren. Mein Kampf war lange Zeit – ähnlich wie der Obersalzberg – etwas Verdrängtes, Unheimliches, mit dem sich kaum etwas anfangen ließ und das entsprechend verbannt wurde. Auf dem Obersalzberg hat sich dies mit der Dokumentation geändert. Wenn das oft zitierte Wort von der Entmystifizierung seine Berechtigung hat, dann hier. Und genau das ist auch das Ziel dieser Edition und ihrer Kommentierung.