Einleitung
Von wenigen Splittern abgesehen419, hat sich kein von Hitler verfasstes hand- oder maschinenschriftliches Manuskript erhalten. Hitlers Buch entstand in den Jahren 1924 bis 1926. Erste Entwürfe erstellte Hitler ab Mai 1924 während seiner Festungshaft in Landsberg am Lech. Kurz nach Hitlers Haftentlassung im Dezember 1924 stockte das Projekt. Daraufhin wurde das Buch neu strukturiert, in zwei Teile getrennt und der Text mehrfach überarbeitet. Der erste Band von Mein Kampf erschien am 18. Juli 1925 im Verlag Franz Eher Nachfolger in München. Der zweite Band, an dem Hitler von August 1925 bis Oktober 1926 arbeitete, folgte am 10. Dezember 1926 (mit Vordatierung auf das Jahr 1927). 420
Während der Jahre 1933 bis 1945 bemühte sich das Hauptarchiv der NSDAP um einen Zugang zum Originalmanuskript von Mein Kampf. Im August 1940 ließ Rudolf Heß in seiner Eigenschaft als »Stellvertreter des Führers« dem Leiter des Hauptarchivs der NSDAP Erich Uetrecht mitteilen, es handele sich »um ein einfaches, mit der Maschine geschriebenes Manuskript«. 421 Ob und in wie vielen Ausfertigungen dieses Typoskript noch existierte, ließ sich jedoch bereits zum damaligen Zeitpunkt nicht klären. Falls Hitler noch Typoskripte von Mein Kampf besessen haben sollte, wurden sie ab dem 23. April 1945 durch seinen Chefadjutanten Julius Schaub verbrannt. Vernichtungsaktionen sind nicht nur für die Reichskanzlei belegt, sondern auch für Hitlers Münchner Privatwohnung und für sein Domizil am Obersalzberg. 422 Möglicherweise besaß auch Helene Bechstein, eine der frühen Anhängerinnen und Unterstützerinnen Hitlers, ein Originalmanuskript. Sie besuchte Hitler in der Haft und stellte ihm eine Schreibmaschine zur Abfassung seiner Texte zur Verfügung. Doch selbst wenn ein Manuskript bei den Bechsteins gelegen haben sollte, so dürfte es sich ebenfalls nicht erhalten haben, da auch ihre Unterlagen während des Kriegs verbrannten. 423
Sehr wahrscheinlich hat sich also kein vollständiges Manuskript von Mein Kampf erhalten. Nachzuweisen sind lediglich einige Vorveröffentlichungen aus dem Frühjahr und Sommer 1925 sowie aus dem Herbst 1926. Im Jahr 2006 sind einige Fragmente aufgetaucht – ein fünfseitiges Manuskript der ersten Seiten von Mein Kampf sowie 18 Konzeptseiten mit Notizen zu den Kapiteln I/4, I/5, I/6, I/7, I/10 und I/11. 424 Diese wenigen Reste des Urtexts bieten wichtige Anhaltspunkte, die in den einzelnen Kapitel-Einleitungen aufgegriffen werden; alle über die Entstehung der Kapitel bekannten Informationen sind dort zusammengefasst.
Aufgrund dieser Voraussetzungen liegt es nahe, die Erstauflage von Mein Kampf (Band I: 1925, Band II: 1927) als Vorlage für diese Edition heranzuziehen. Mit Blick auf die Veränderungen in den späteren Auflagen spricht alles dafür, dass die erste Auflage dem Urtext wie auch dem Sprachstil Hitlers am nächsten kommt.
Bei der Wiedergabe der Textvorlage wird auf die Korrektur von Orthografie und Interpunktion verzichtet. 425 Stillschweigend korrigiert werden nur offensichtliche Druckfehler. Fehlende Wörter oder sinnentstellende Fehler sind, wo es nötig schien, sinngemäß ergänzt bzw. richtiggestellt. Diese Eingriffe werden kursiv angezeigt und in eckige Klammern gesetzt. Alle für den Verfasser charakteristischen Spracheigentümlichkeiten und Unebenheiten der Wortwahl, der Syntax und des Stils bleiben dagegen unangetastet. Missverständliche und grammatikalisch falsche Textstellen werden mit [sic!] gekennzeichnet.
Bei einer Edition von Mein Kampf stellt sich unter dem Aspekt der Textkritik ein spezifisches Problem: Mein Kampf zählt zu den weltweit am häufigsten gedruckten Büchern. Nachgewiesen ist allein im deutschsprachigen Raum eine Auflage von 12.450.000 Exemplaren. Allein die einbändige »Volksausgabe«, die erstmals im Mai 1930 erschien426 und sich seither in verschiedenen Ausstattungen gewissermaßen zur Standardausgabe entwickelte, wurde 1.031 Mal aufgelegt. 427 Des Weiteren gab es verschiedene Sonderausgaben: Neben der zweibändigen Originalausgabe und der billigeren »Volksausgabe« erschien Mein Kampf als zweibändige kartonierte Ausgabe und als einbändige Dünndruckausgabe, ferner als Leinen-, Halbleder-, Pracht- und Jubiläumsausgabe. Addiert man die Zahl der Auflagen und die der Sonderausgaben, so dürfte Mein Kampf insgesamt 1.122 Mal in den Druck gegangen sein. Schon deshalb wurde die Publikationsgeschichte von Mein Kampf »mit der Zeit beinahe unüberschaubar«428, teilweise fiel es sogar dem Verlag schwer, noch die Übersicht zu behalten. Grund dafür war nicht zuletzt, dass am Herstellungsprozess zahlreiche Druckereien in ganz Deutschland beteiligt waren.
Dass die verschiedenen Auflagen voneinander abweichen, ist seit Langem bekannt. 429 Bei diesen Veränderungen handelt es sich indes vor allem um lexikalische und stilistische Eingriffe, um inhaltliche Korrekturen hingegen nur sehr selten. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Kolumnentitel, die häufig umgearbeitet wurden – im ersten Band gestaltete sie Josef Stolzing-Cerny, im zweiten Band dann Rudolf Heß. 430 Um einen authentischen Eindruck von Mein Kampf zu ermöglichen, werden in dieser Edition die originalen Kolumnentitel abgedruckt. Auf einen Nachweis der Varianten in den unterschiedlichen Auflagen wird hingegen verzichtet.
Wie aber verhält es sich mit dem Haupttext von Mein Kampf? Die Lektoren der überarbeiteten Ausgaben sind unbekannt – mit einer Ausnahme: 1930 übernahmen Rudolf Heß und teilweise auch seine Frau Ilse die »langwierigen Korrekturen der Neuauflage der beiden Bände« von Mein Kampf, so Heß in einem Brief vom 16. April 1930. 431 Von den übrigen Lektoren wissen wir jedoch nichts. Unklar ist daher auch, wie weit die Eingriffe mit Hitler abgesprochen waren. Letzteres liegt allenfalls bei den in ihrer Zahl und Bedeutung überschaubaren inhaltlichen Veränderungen von Mein Kampf nahe; bei allen anderen Überarbeitungen ist es dagegen äußerst unwahrscheinlich, dass sie von Hitler persönlich stammen oder mit ihm abgestimmt wurden. 432
Dass die vielfältigen Eingriffe in einer Publikationsgeschichte von immerhin fast 20 Jahren am Inhalt von Mein Kampf substanziell kaum etwas geändert haben, verrät viel über Hitlers Denken – »jenes Phänomen früher Erstarrung«433, das seine gesamte Gedanken- und Vorstellungswelt kennzeichnete. Die meisten inhaltlichen Veränderungen in Mein Kampf erfolgten denn auch relativ früh, noch »vor der ersten Volksausgabe von 1930«434, wie Hermann Hammer bereits 1956 bei einem ersten Textvergleich festgestellt hat. Sie betreffen die sogenannte germanische Demokratie, die Hitler im Kapitel Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12) noch befürwortet435, für die aber schon bald in Hitlers Bekenntnisschrift wie auch in der NSDAP kein Platz mehr sein sollte. Dagegen stellen »die an den außenpolitischen Abschnitten vorgenommenen Änderungen« vor allem »sachliche Berichtigungen« dar, aber »keinerlei Modifizierung der Grundkonzeption«. 436 In der Edition sind die inhaltlich relevanten Veränderungen von Mein Kampf nicht nur im textkritischen Apparat nachgewiesen, gewöhnlich wird auch in der Kommentierung auf sie eingegangen.
Wie aber verhält es sich mit den übrigen Veränderungen? Sie sind aufs Ganze gesehen ungeheuer zahlreich, beschränken sich aber größtenteils auf lexikalische, orthografische und stilistische Eingriffe. Hermann Hammer, der »unter Berücksichtigung jeder, auch der kleinsten Änderung«437 die Auflagen von 1925/27, 1930 und 1939 miteinander verglich, konnte zwischen der Auflage von 1925/27 und der von 1930 insgesamt 2.294 Veränderungen feststellen. Beim Vergleich der Auflagen von 1930 und 1939 kam er dagegen nur noch auf 293 Veränderungen.
Allerdings berücksichtigte Hammer für seine Untersuchung lediglich drei Auflagen. Um seine Ergebnisse auf eine empirisch breitere Grundlage zu stellen, wurde für diese Edition ein umfassenderes Verfahren gewählt: Zunächst wurden exemplarisch die Kapitel Die Revolution (I/7) und Propaganda und Organisation (II/11) herausgegriffen und anhand von insgesamt 38 Auflagen miteinander verglichen und Zeichen für Zeichen auf ihre Abweichungen überprüft. 438 Die 38 Auflagen dieses Vergleichs wurden so ausgewählt, dass jedes Jahr, das für die Publikationsgeschichte von Mein Kampf relevant ist, mit mindestens einer Auflage berücksichtigt war. Im Vordergrund standen dabei jene Auflagen, bei denen bereits im Vorfeld zu erwarten war, dass sie die größten Veränderungen aufweisen würden. Die Ergebnisse dieses Vergleichs bestätigten Hammers Untersuchung in drei entscheidenden Punkten:
Zunächst einmal zeigte sich auch hier, dass die mit Abstand meisten Korrekturen anlässlich der Erstellung bei der Volksausgabe von 1930 vorgenommen wurden.
Die zweitgrößte Zahl an Veränderungen ließ sich bei den verschiedenen Auflagen des Jahres 1939 feststellen, wobei diese nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ deutlich geringer und auch unbedeutender sind als die des Jahres 1930; 1939 überwiegen vor allem Änderungen bei Interpunktion und Lexik, oder es wurde die Fassung einer früheren Auflage wiederhergestellt.
Darüber hinaus wurde bei dieser exemplarischen Analyse nochmals deutlich, dass sich trotz der zahlreichen Eingriffe in den Text nur sehr wenige inhaltliche Abweichungen nachweisen lassen.
Auch diese Ergebnisse sprechen dafür, dass sich Hitler nicht mehr am Lektorat seines Buchs beteiligte. Wenn er sich nach seiner Ernennung zum Reichskanzler strikt weigerte, Änderungen an seinem Buch vorzunehmen, so begründete sich das nicht nur mit einem übervollen Terminkalender und einem Lebensstil, der in mancher Hinsicht eher an die Schwabinger Bohème erinnerte als an ein modernes politisches Management. Wichtiger war, dass Hitler keinerlei Veranlassung zu irgendwelchen Änderungen oder gar Revisionen sah. 439 Nachdem er den für ihn ungewohnten und auch belastenden Prozess des Schreibens einmal hinter sich gebracht hatte, besaß sein Werk für ihn die Bedeutung eines ideologischen Grundsatzprogramms, auf das er mit feierlichen Empfindungen geblickt haben dürfte. Veränderungen hielt er weder für nötig noch für zielführend. Entsprechend äußerte er sich 1933 gegenüber dem späteren deutschen Botschafter in Moskau, Rudolf Nadolny440, sowie im Februar 1936 gegenüber dem französischen Publizisten Bertrand de Jouvenel: »Sie wollen, daß ich mein Buch korrigiere, wie ein Schriftsteller, der eine neue Bearbeitung seines Werkes herausgibt. Ich bin aber kein Schriftsteller. Ich bin Politiker.«441
Dass die Worte des »Führers« gewissermaßen in Stein gemeißelt seien, war ein Grundsatz, der im Übrigen auch dem Verständnis des Eher-Verlags entsprach; im August 1940 ließ dieser die Universitätsbibliothek Erlangen auf Anfrage wissen, »dass das Buch des Führers ›Mein Kampf‹ niemals abgeändert worden ist. [...] Es sind lediglich hier und dort einige stilistische Änderungen vorgenommen worden, die aber vollkommen unbedeutend sind.«442 Veränderungen von Mein Kampf waren also weder ideologisch noch politisch und auch nicht verlegerisch erwünscht.
Das präzisiert noch einmal die Funktion, die der textkritische Apparat dieser Edition besitzt: Der Nachweis der Varianten erfolgt vor allem mit Blick auf die Rezipienten von Mein Kampf, denen unterschiedliche Auflagen zur Verfügung standen bzw. heute noch stehen. Ansonsten aber gilt, dass die Erstauflage der Jahre 1925/27 die Intentionen und die Sprache Hitlers am genauesten wiedergibt.
Wie lässt sich die nahezu 20-jährige Publikationsgeschichte von Mein Kampf angemessen abbilden? Aus arbeitsökonomischen Überlegungen wie aus Gründen der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich, die Auswahl der hierfür herangezogenen Auflagen auf einige wenige zu beschränken. Diese sollen zeitlich so weit auseinanderliegen, dass sie die gesamte Publikationsgeschichte repräsentieren.
Die Auswahl der für den Textabgleich verwendeten Auflagen basiert auf der bereits genannten Stichprobe, die für diese Edition vorgenommen wurde. Doch sollte sich diese Auswahl nicht allein an der Metamorphose orientieren, die Hitlers Buch zwischen 1925 und 1944 durchgemacht hat. Von Bedeutung für diese Auswahl war auch die übergreifende historische Entwicklung: Berücksichtigt werden sollten gerade auch jene Auflagen, die in bestimmten »Schlüsseljahren« der NS-Geschichte, etwa 1930, 1933 und 1939, erschienen sind. Anhand dieser Kriterien wurde schließlich folgende Auswahl getroffen:
Alle Abweichungen in diesen ausgewählten Auflagen werden im textkritischen Apparat am rechten Seitenrand der Edition nachgewiesen, bei der Interpunktion allerdings nur dort, wo dies inhaltlich relevant scheint: bei Ausrufezeichen, Fragezeichen, Anführungszeichen sowie bei den Klammern. Die Edition bildet den Seitenumbruch der Erstausgabe ab, verbunden mit den damaligen Kolumnentiteln und der Originalpaginierung, die in eckigen Klammern angezeigt wird, um Verwechslungen mit der Seitenzählung der Edition zu vermeiden. [In der Online-Ausgabe wird diese zweite Paginierung der Buchausgabe nicht wiedergegeben.] Verzichtet wird auf einen Nachweis der Varianten in den Kolumnentiteln, die in den verschiedenen Auflagen relativ häufig wechselten, aber schon in der Erstausgabe nicht von Hitler stammten.
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Wie weit ist es sinnvoll und angemessen, einen Text wie Mein Kampf nach Maßstäben zu edieren, die in der Regel nur literarischen Texten vorbehalten bleiben? Erhält Hitlers Schrift damit nicht eine sprachliche, intellektuelle oder gar künstlerische Bedeutung, die sie in Wirklichkeit nie hatte? Sicher ist, dass dieses Buch durch ein solches editorisches Verfahren bedeutend transparenter wird, dass sowohl der Entstehungsprozess wie auch die Arbeit des Lektorats deutlicher hervortritt, dass Klarheit besteht über den Charakter der Textgrundlage und dass ein solcher Ansatz schließlich auch der Aura des Sakralen entgegenarbeitet, mit der die NS-Propaganda Hitlers Debüt als »Schriftsteller« zu umgeben suchte.
Obwohl Hitlers Text aufs Ganze gesehen nur geringfügig überarbeitet wurde und seine Grundkonzeption stets unverändert blieb, können schon einige Beispiele illustrieren, welches Potenzial ein solcher Textabgleich dennoch bietet. Aufschlussreich ist etwa das altertümliche Deutsch, in dem Hitlers Schrift verfasst ist: Begriffe wie »Bureau«, »Raison« oder »Kompagnie« tauchen auf443 und werden erst später modernisiert; selbst die Ideologie der italienischen Gesinnungsgenossen erscheint noch als »Faszismus«444 und findet sich erst 1937 in einer neuen Form. Zuweilen taucht auch das auf, was man als »Freudschen Schreibfehler« bezeichnen könnte, etwa wenn Hitler von »Versklawung«445 schreibt. Bezeichnend sind ebenfalls die zum Teil gravierenden Rechtschreibfehler, die das Künstliche und auch schlecht Recherchierte von Mein Kampf zusätzlich illustrieren – etwa wenn Hitler in der Kunststadt München die »Pynakothek«446 rühmt, wenn er das »Ausschußlokal« der DAP in die Münchner »Herrengasse«447 legt, obwohl es dort nur eine Herrnstraße gibt, wenn Hitler sich volkstümlich gibt und von einer »Partie Schaffkopf«448 spricht oder wenn er »Nishnij Nowgorod«, immerhin 400 Kilometer östlich von Moskau gelegen, kurzerhand zu einem Schlachtort des Ersten Weltkriegs erklärt. 449 Wohlgemerkt, das sind Fehler in einem Buch, das ein Münchner Verlag wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs verlegte.
Durch die späteren Eingriffe wird des Weiteren immer wieder das Beliebige und Unpräzise von Hitlers Sprachbildern deutlich: Aus dem »Helot« wird der »Zelot«, der »Busen« wird zum »Herzen«, die »Natter« zur »Viper«, aus dem »Esel« der »Gimpel«, aus »Jahrtausenden« werden »Jahrmillionen« und so weiter. 450 Dabei zeigt sich zuweilen auch die unfreiwillige Komik von Hitlers Schrift, etwa wenn der bekannte Passus im Kapitel Volk und Rasse (I/11), wonach nun einmal »Wolf zu Wolf«451 gehe, 1926 umgeschrieben wird in »Wolf zu Wölfin«.
Das Lektorat war, wie schon gesagt, an sich extrem vorsichtig mit Eingriffen ins »Führerwort«; manchmal aber war selbst diesen namenlosen Mitarbeitern der Stil ihres »Führers« zu ordinär oder zu nichtssagend: Wenn Hitler beispielsweise im Kapitel Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12) mutmaßt, neue Mitglieder kämen oft nur deswegen »in die neue Bewegung«, um »den eigenen alten Kohl noch einmal aufwärmen zu können«452, dann wird aus dieser Passage: »die Menschheit noch einmal mit ihren eigenen Ideen unglücklich zu machen«. Auf dieser Linie liegt es, wenn »Meinungsgedusel«453 plötzlich durch »Vielfältigkeit der Meinungen« oder die »Pesthure«454 durch »Pestilenz« ersetzt wird. Und auch Hitlers rigiden Nominalstil455 fand man offenbar selbst im Eher-Verlag zuweilen unerträglich: »Der Kampf gegen die Verprostituierung der Seele des Volkes versagte auf der ganzen Linie«, heißt es etwa im Kapitel Ursachen des Zusammenbruches (I/10). 456 Daraus wurde dann 1930: »Die seelische Prostituierung des Volkes wurde nicht verhindert«. Das ist zwar etwas eleganter formuliert, bleibt aber vom Sinn immer noch dunkel – stilistisch ist und bleibt der Satz missglückt. Selbst die zahlreichen Eingriffe des Lektorats haben, das bleibt als Bilanz, Mein Kampf kaum substanziell verbessert.
Schließlich hat der Textabgleich noch etwas ans Licht gebracht, etwas, was man in einem Buch wie Mein Kampf nie vermuten würde – einen Akt von Verweigerung, von Resistenz: »›Los-von-Rom‹-Bewegung«457 lautet eine Wendung im Kapitel Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit und Sonstiges (I/3) – ein Rekurs auf eine deutschnationale Parole in Österreich vor 1914. Dies hat eine unbekannte Person – Lektor, Schreibkraft oder Setzer – ausgerechnet in einer Auflage des Jahres 1933 umformuliert zu: »›Los-von-Berlin‹-Bewegung«. 458 Eine bezeichnende Veränderung wie diese lässt sich als föderalistisch inspirierte Distanzierung interpretieren oder auch als eine politisch motivierte Reaktion – auf jeden Fall als eine klare Positionierung gegen das neue Regime. Gedruckt wurde diese Ausgabe in München. 1933, in der Höhle des Löwen, war dies eine mutige Tat.
Selbst wenn dies ein spektakulärer Ausnahmefall bleibt, so ließen sich noch eine ganze Reihe von Beispielen für aufschlussreiche Eingriffe aufführen, doch entspräche das nicht dem Sinn dieser Einleitung. Im Vordergrund steht hier die Frage: Warum ist der Textabgleich überhaupt Teil dieser Edition, obwohl doch die späteren Auflagen mit Sicherheit nicht von Hitler autorisiert wurden? Auch für Mein Kampf gilt das, was für Hitlers Person generell zutrifft und damit auch für alle übrigen Zeugnisse seines Lebens: Ihre Bedeutung erhalten sie vor allem durch die Wirkungen, die sie später haben sollten. Diese Edition hat daher nicht allein den Autor im Blick zu behalten, sondern auch jene, die – aus welchen Gründen auch immer – mit einem Bestseller wie Mein Kampf zu tun hatten: Verleger, Lektoren, Drucker, Händler, Kritiker, Interpreten und schließlich die vielen Leser. Selbst wenn Hitler nur in den seltensten Fällen die Textvarianten der zahllosen Auflagen von Mein Kampf zu verantworten hatte, so ändert das nichts daran, dass seine Schrift in ebendiesen unterschiedlichen Varianten millionenfach verlegt und rezipiert wurde. Wenn sich also der erhebliche Aufwand eines textkritischen Apparats zwar kaum mit Blick auf die »trübe Figur«459 des Autors rechtfertigen lässt, so mit Blick auf seine Leser durchaus. Die Geschichte von Mein Kampf ist eine lange, gewundene und mitunter schwierig zu verfolgende Geschichte. Die Publikationsgeschichte dieses ungewöhnlichen Buchs weitestmöglich abzubilden, gehört auch zu den Aufgaben dieser Edition.