<span class="pagenumber"></span>11. Kapitel Volk und Rasse

1 Geflügeltes Wort im Sinne einer überraschend einfachen Lösung für ein scheinbar unlösbares Problem. Christoph Kolumbus soll – so die Überlieferung – das Problem, ein Ei auf seine Spitze zu stellen, dadurch gelöst haben, dass er es durch Aufschlagen an der Spitze zum Stehen brachte. Diese – üblicherweise im Singular gebrauchte – Metapher war damals geläufig und findet sich in Gestalt einer rhetorischen Frage etwa in Gottfried Feders Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes (1919): »Warum haben wir dies alles, was so selbstverständlich ist, was man als das Ei des Kolumbus für die soziale Frage bezeichnen muß, bisher noch nicht erreicht?« Hitler kam auch später gelegentlich auf diese Wendung zurück, etwa am 3. 3. 1928 bei einer NSDAP-Versammlung in Karlsruhe oder in einem Gespräch mit dem Rüstungsminister Albert Speer am 23. 5. 1942. 

Vgl. Feder, Manifest, Zitat S. 8; Hitler, Reden, Bd. II/2, Dok. 238, S. 729; Büchmann, Worte, Bd. 2, S. 618 f.; Boelcke (Hrsg.), Rüstung, S. 124; Röhrich, Lexikon, Bd. 2, S. 356 f.

2 Dass Menschen gegenüber ihrer Umwelt »wie blind« seien, hatte schon 1920 der in der NS-Bewegung hoch angesehene Laienanthropologe Hans F. K. Günther in seiner Schrift Ritter, Tod und Teufel behauptet: »Der Deutsche vor allem […] geht durch die Straßen seiner Städte, ohne aus Wuchs, Schädelbildung, Hautfarbe oder Gebärden der Menschen irgend etwas herauszulesen, ohne zu ahnen, daß diese oder jene Faltung des Augenlids, diese Gestaltung des Jochbeins, Farbe der Haut, Farbe der Haare […] – daß all diese Dinge ein Blick in die Naturgeschichte des abendländischen Menschen sind.« In Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes heißt es sehr ähnlich: »Gerade das Einfachsinnfällige, gerade die Dinge, bei denen zunächst nur zu sehen ist und noch gar nicht zu denken, zu rechnen und Stellung zu nehmen – gerade sie haften in der Wahrnehmung des neuzeitlichen Menschen am wenigsten.« Dabei gäbe es »des Augenfälligen, ja Auffälligen genug«. Nur fehle es »an jeder Anleitung zum Sehen«. Beide Schriften Günthers wurden in der frühen NSDAP zu jenen Schriften gezählt, die jeder Nationalsozialist kennen müsse.

Vgl. Günther, Ritter (1920), Zitat S. 135; Günther, Rassenkunde (1923), Zitate S. 7, 9; Schwandt, Günther, S. 120; Ryback, Bücher, S. 84 – 86; Kap. II/2, Anm. 39.

3 Diese Aussage ist äußerst vage und fragwürdig, zumal Hitler nicht erklärt, was er unter »Art« versteht. Eine heute gängige Definition in der Biologie begreift »Art« als eine isolierte Ansammlung von Populationen, die sich miteinander fortpflanzen können. Die Vorstellung von konstanten, »unveränderlichen« Arten war zwar vor Charles Darwin Stand der biologischen Forschung und blieb auch weiterhin das zentrale Dogma der Antievolutionisten, in Wirklichkeit sind Arten aber nicht »innen abgeschlossen«, wie Hitler formuliert. Sie können sich von einer Art in eine andere wandeln. Darwins bahnbrechende Arbeit On the Origin of Species (1859) hatte diese neue, grundlegende Perspektive auf das Prinzip der Evolution eröffnet. Heutzutage unterscheidet man zwischen der sympatrischen und der allopatrischen Artbildung: Die sympatrische Artbildung findet statt, wenn sich eine Art innerhalb eines Gebiets in zwei reproduktiv isolierte Arten aufspaltet, von allopatrischer Artbildung spricht man, wenn Populationen geografisch isoliert werden und sich infolgedessen neue Arten bilden.

Vgl. Zmarzlik, Sozialdarwinismus, S. 248 f.; Mayr, Artbegriff, bes.S. 22 – 35; Mayr, Darwin, S. 46 – 55, 61, 101; Levit/ Meister/ Hoßfeld, Evolutionstheorien; Levit/ Hoßfeld, Darwin.

4 Aufschlussreich ist hier ein Blick auf die erhalten gebliebenen Konzeptblätter Hitlers zu Mein Kampf. Im Entwurf zu dieser Textpassage heißt es: »Wenn man die Natur betrachtet Vögel Mäuse Schlangen Fische paaren sich immer innerhalb ihrer besonderen Art.« Die Klasse der Vögel und die Gattung der Mäuse behielt Hitler bei der Niederschrift des endgültigen Texts bei; hingegen entfiel der Verweis auf Schlangen und Fische. Die lange Zeit verbreitete Annahme, dass sich nur Lebewesen der gleichen Art untereinander paaren würden, ist inzwischen widerlegt. Im Tierreich gibt es zahlreiche Hybride – d. h. Lebewesen, die durch Kreuzung verschiedener Arten, Unterarten oder Rassen entstanden sind. So können sich etwa verschiedene Arten von Fruchtfliegen, Schmetterlingen, Enten und Säugetieren untereinander paaren und Hybride hervorbringen. Die Bedeutung der Hybridisierung für die Bildung neuer Arten im Rahmen der Evolution ist bislang aber nicht abschließend geklärt.

Vgl. Beierl/ Plöckinger, Dokumente, S. 315; Schwenk/ Brede/ Storch, Introduction, S. 2807 f.; Storch/ Welsch/ Fink, Evolutionsbiologie, S. 302. 

5 Dieser ebenso oft zitierte wie persiflierte Satz ist naturwissenschaftlich falsch. Meisen, Finken und Störche sind keine Tierarten, sondern Tierfamilien – eine Kategorie, die in der biologischen Klassifikation (Taxonomie) über den Arten angesiedelt ist. Feldmäuse, Hausmäuse und Wölfe sind hingegen tatsächlich Tierarten (Spezies). Hitlers Denkfehler liegt jedoch darin, dass es nur eine Spezies Mensch (Homo sapiens) gibt, die zur Familie der Menschenaffen (Hominidae) gehört. Nach Hitlers Logik müsste der Satz im Hinblick auf den Menschen demzufolge entweder so weitergedacht werden: »Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, der Menschenaffe zum Menschenaffen« (Klassifikation nach Familien), oder so: »Feldmaus geht zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, Wolf zu Wolf und Mensch zu Mensch« (Klassifikation nach Arten). Der Botaniker und Naturforscher Hugo Iltis, seinerzeit einer der schärfsten Kritiker der NS-Rassenideologie, bemerkte in seiner Schrift Der Mythus von Blut und Rasse (1936) zu dieser Textstelle von Mein Kampf: »Die ganze Verlogenheit und Unwissenheit des Rassismus spricht aus diesen Sätzen, die auf den dümmsten Kerl als Leser spekulieren. Jeder Denkende merkt doch sofort, daß es sich hier um verschiedene Tiergattungen handelt, die niemals miteinander bastardieren können, beim Menschen dagegen um Formen innerhalb derselben Art.«

Hitler war freilich keineswegs der erste Autor, der den Artbegriff falsch verwendete. Verwiesen sei auf Houston Stewart Chamberlain, der im Januar 1900 schrieb: »Was man bisher bei Menschen ›Rasse‹ genannt hatte – die Arier, die Semiten, die Mongolen, die Neger u. s. w. – sind eigentlich ›species‹, d. h. Arten.« Die Juden nannte Chamberlain hingegen eine »abgesonderte Rasse«. Und auch der berühmte Soziologe Werner Sombart hielt es 1912 für bewiesen, »daß es eine jüdische Art« gebe, wobei er »Volk«, »Rasse« und »Art« gleichsetzte. Im Gegensatz zu Hitler sprach sich Sombart allerdings für die Erhaltung der »jüdischen Art« aus; es liege »ein ganz großer Wert in dem Reichtum an Arten überhaupt«.

Vgl. Chamberlain, Rasse, S. 73 – 80, Zitate S. 73 f., 79; Sombart, Zukunft, Zitate S. 55; Iltis, Mythus, Zitat S. 54 f. (Herv. i. Orig.); Zentner, Kampf, S. 143. 

7 Ähnliche Behauptungen hatten antisemitische Autoren schon früher aufgestellt: Der Nationalökonom Eugen Dühring, dessen Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881) mitunter als »klassische Begründung des modernen Antisemitismus« gilt, schrieb 1893: »Die Natur selbst verbietet die Verbindung zwischen Angehörigen der arischen Völker und denen der Judenrasse. Sie bestraft die Uebertretung dieses Verbotes an dem Einzelnen mit Unfruchtbarkeit und in der Verallgemeinerung, abgesehen von der Rassenverschlechterung sogar mit dem Völkertode.« Houston Stewart Chamberlain behauptete sechs Jahre später, die Bastardierung von Rassen, die zu stark voneinander abwichen, führe zu »Verfall und Sterilität«. Und Otto Hauser meinte in seiner Schrift Rassezucht (1924), die Natur »schlage« Bastarde in Einzelfällen nicht nur mit Unfruchtbarkeit, sondern »Mischungen« seien auch sehr oft »an sich für den Lebenskampf untauglich«.

Solche Vorstellungen waren bereits während der Entstehung von Mein Kampf nicht haltbar – zumal Hitler meist »Rassen« meinte, wenn er von »Arten« sprach. So schrieb 1921 der Anthropologe Eugen Fischer in dem damaligen Standardwerk Grundriß der menschlichen Erblichkeits- lehre und Rassenhygiene, »daß die Kreuzungen aller Rassen untereinander und ebenso die der Bastarde untereinander fruchtbar sind«. Außerdem werde der »Bastard […] größer und stärker als beide Elternrassen«. Bei der Kreuzung verschiedener Tierarten kommt es zwar tatsächlich oft zu Unfruchtbarkeit der daraus gezeugten Hybriden, dennoch sind Hitlers Aussagen auch dazu nur teilweise richtig. Im Buch Artbegriff (1967) des Evolutionsbiologen Ernst Mayr heißt es: »Das Unvermögen der meisten Bastarde, lebensfähige Gameten [Geschlechtszellen] in normaler Zahl zu erzeugen, wird ›Bastardsterilität‹ genannt. Sie kann schwach bis vollständig ausgebildet sein und eine Vielfalt von genetischen Faktoren zur Voraussetzung haben. Mit einer Reduktion der Lebenstüchtigkeit ist eine solche Reduktion der Fertilität nicht notwendigerweise korreliert. Bastarde zeigen nämlich des öfteren ein besonders phänotypisches ›Luxurieren‹, das sogenannte ›Bastardluxurieren‹ (hybrid vigor)«. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass selbst Hybride, die aus verschiedenen Arten entstanden sind, mindestens genauso lebenstüchtig sind wie die Elterntiere.

Vgl. Dühring, Antisemitismus, Zitat S. 54; Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 441 – 444; Baur/ Fischer/ Lenz, Grundriß (1921), Bd. 1, Zitate S. 105, 117; Hauser, Rassezucht, Zitate S. 12 f.; Bein, Antisemitismus, Zitat S. 350; Mayr, Artbegriff, Zitat S. 96; Fangerau, Etablierung, S. 51 f.; Schwenk/ Brede/ Storch, Introduction, S. 2806.

11. Kapitel
Volk und Rasse

Es gibt Wahrheiten, die so sehr auf der Straße liegen, daß sie gerade deshalb von der gewöhnlichen Welt nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt werden. Sie geht an solchen Binsenweisheiten# 1944: Binsenweisheiten ersetzt durch: Binsenwahrheiten manchmal wie blind vorbei und ist auf das höchlichste# 1926: höchlichste ersetzt durch: höchste [sic!] erstaunt, wenn nun# 1926: gestrichen: nun plötzlich jemand entdeckt, was doch alle wissen müßten. Es liegen die »Eier des Kolumbus«# 1926: »Eier des Kolumbus« ersetzt durch: Eier des Kolumbus 1 zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu treffen.

So wandern die Menschen ausnahmslos im Garten der Natur umher, bilden sich ein, fast alles zu kennen und zu wissen und gehen doch mit wenigen Ausnahmen wie blind an einem der hervorstechendsten Grundsätze ihres Waltens vorbei2: der inneren Abgeschlossenheit der Arten sämtlicher Lebewesen dieser Erde.3

Schon die oberflächlichste# 1944: oberflächlichste ersetzt durch: oberflächliche Betrachtung zeigt als nahezu ehernes Grundgesetz all der unzähligen Ausdrucksformen des Lebenswillens der Natur ihre in sich begrenzte Form der Fortpflanzung und Vermehrung. Jedes Tier paart sich wieder# 1926: gestrichen: wieder nur mit einem Genossen der gleichen Art.4 Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, Wolf zu Wolf# 1926: Wolf zu Wolf ersetzt durch: der Wolf zur Wölfin usw. usw.# 1930: gestrichen: usw. 5

Nur außerordentliche Umstände vermögen dies zu ändern, in erster Linie der Zwang der Gefangenschaft sowie eine sonstige Unmöglichkeit der Paarung innerhalb der gleichen Art. Dann beginnt aber# 1926: Dann beginnt aber ersetzt durch: Dann aber beginnt die Natur sich auch mit allen Mitteln dagegen zu stemmen, und ihr sichtbarster Protest besteht entweder in der Verweigerung der weiteren Zeugungsfähigkeit für die Bastarde6, oder sie schränkt die Fruchtbarkeit der späteren Nachkommen ein; in den meisten Fällen aber raubt sie die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit oder feindliche Angriffe.7

11. KapitelVolk und Rasse

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