Halbe Lösungen <span class="pagenumber">[287]</span>

229 Das 1871 ins Deutsche Reich eingegliederte Reichsland Elsass-Lothringen besaß verfassungsrechtlich einen Sonderstatus. Eine Anerkennung als Bundesstaat mit denselben Rechten wie die anderen Länder unterblieb; bis 1874 übte der Kaiser unter Zustimmung des Bundesrats die exekutive und legislative Gewalt aus. 1874 wurde das Wahlrecht auf das Reichsland ausgeweitet und ein indirekt gewählter Landesausschuss eingerichtet, der jedoch erst ab 1877 an der Gesetzgebung beteiligt wurde. Als höchste Regierungsbehörde fungierte seit 1879 ein Ministerium für Elsass-Lothringen mit Sitz in Straßburg; die landesherrlichen Befugnisse des Kaisers gingen an einen Statthalter über. Den Status als Bundesstaat mit Stimmrecht im Bundesrat erhielt das Reichsland dann durch das Gesetz über die Verfassung Elsaß-Lothringens vom 31. 5. 1911.  Eine völlige Gleichberechtigung des Reichslands war mit ihm jedoch nicht verbunden, weshalb sich Teile der dortigen Bevölkerung weiterhin als Bürger zweiter Klasse fühlten. Daran änderte auch die Tatsache wenig, dass die »Germanisierungspolitik« in Elsass-Lothringen nicht so rigide durchgeführt wurde wie in den preußischen Ostprovinzen: Der »Mitgebrauch« des Französischen blieb auch nach der Einführung des Deutschen als offizieller Behördensprache im Jahr 1872 weitgehend akzeptiert. Diese insgesamt stärker auf langsame Integration als auf gewaltsame Repression setzende Politik stieß schon im Kaiserreich auf die Kritik nationalistischer Kreise. Heinrich Claß bezeichnete die Entscheidungen von 1911 gar als »politische[s] Verbrechen« und trat dafür ein, jede öffentliche und private Verwendung des Französischen mit Ausweisung zu bestrafen.

Vgl. Frymann, Kaiser, S. 83 – 88, Zitat S. 84; Hiery, Wahlen; Berghahn, Kaiserreich, S. 189 – 193. 

230 Der 1861 geborene katholische Geistliche Emile Wetterlé, von 1898 bis 1915 Reichstagsabgeordneter für die Zentrumspartei Elsass-Lothringens, forderte im Kaiserreich größere Autonomie für das Reichsland und kritisierte die autoritäre Politik Berlins. Am 28. 1. 1911 führte er vor dem Reichstag aus: »Gegen das Deutschtum als solches haben wir gar nichts einzuwenden, nur gegen das Deutschtum, wie es bei uns auftritt, das kleinliche, schikanöse Deutschtum, das sich in unsere Sitten und Gebräuche ständig einmischt und uns keine Freiheit lassen will.« Hitlers Aussage bezieht sich indes auf die politische Haltung Wetterlés im Ersten Weltkrieg. 1915 sprach sich dieser offen für eine französische Rückgewinnung Elsass-Lothringens aus und forderte eine anschließende Segregation der deutschen von der französischen Bevölkerung. Hitler, der hier eine Sonder- und Extremposition verallgemeinert, verschweigt, dass Wetterlé bereits im März 1915 aufgrund seiner Stellungnahmen zugunsten Frankreichs aus seiner Fraktion ausgeschlossen worden war.

Vgl. Verhandlungen des Reichstags 1895 – 1918, XII. Legislaturperiode, Bd. 263, Zitat S. 4239; Kurlander, Nationalism, S. 91 – 93; Fischer, Alsace, bes.S. 77 – 89, 100 – 121; Ther, Seite, S. 83. 

232 Mit der Erstarrung der Fronten im Westen wurde Flandern, der nördliche Teil Belgiens, zu einem Brennpunkt der Kämpfe. Zwischen Oktober 1914 und November 1917 kam es in diesem Raum zu den drei großen Flandern- oder Ypern-Schlachten, die jedoch weder der deutschen noch der britischfranzösischen Seite entscheidende operative Erfolge brachten. Der deutsche Angriff bei Langemarck im Oktober/November 1914 war Teil der Ersten Flandernschlacht; im April 1915 wurde die Region Schauplatz des ersten Angriffs mit Giftgas, das deutsche Truppen zum Einsatz brachten. Mit rund 217.000 getöteten, vermissten und verwundeten Soldaten entwickelte sich dann die Dritte Flandernschlacht besonders verlustreich für die deutsche Seite; die Kämpfe begannen im Juli 1917 mit einem Angriff britischer Truppen, im November 1917 mussten sie ergebnislos abgebrochen werden. Hitler selbst nahm im Oktober/November 1914 an der Ersten Flandernschlacht teil und erlebte dort die Dezimierung seines Regiments. Begriffe wie »Langemarck« und »Flandern« wurden mit dem Ersten Weltkrieg zu Chiffren, deren Bedeutung emotional entsprechend aufgeladen war – erinnert sei an das berühmte Gedicht In Flanders Fields (1915) von John McCrae oder an Werner Beumelburgs Bestseller Flandern (1933).

Vgl. Edmonds, History (1925); Edmonds, History (1928); Edmonds, History (1948); Der Weltkrieg 1914 bis 1918, Bd. 5, S. 272 – 401, Bd. 6, S. 10 – 33, Bd. 7, S. 16 – 73, Bd. 8, S. 32 – 50, Bd. 13, S. 53 – 147; Granfield/ Wilson, Fields; Weber, Krieg, S. 62 – 72; Kap. I/2, Anm. 118; Kap. I/5, Anm. 50, 51; Kap. I/7, Anm. 73.

233 Tatsächlich war vor 1914 das deutsche Potenzial an Wehrpflichtigen längst nicht ausgeschöpft; so waren im Sommer 1914 von 10,4 Millionen möglichen Soldaten 5,4 Millionen nicht ausgebildet. Dies besaß allerdings nicht nur politische Gründe, sondern vor allem finanzielle und militärische. Hinzu kam, dass die Tauglichkeitskriterien bei der militärischen Musterung relativ hoch waren. Hitlers Polemik gegen die angeblichen »parlamentarischen Verbrecher« ist immer auch das Ergebnis seiner eigenen – natürlich völlig subjektiven – Kriegserfahrungen: Dass der erste Einsatz seines Regiments im Jahr 1914 in einem völligen Desaster endete, war unter anderem eine Folge von dessen mangelhafter Ausbildung. Für beides: Ausbildung wie Führung, trugen freilich nicht die deutschen Parlamentarier die Verantwortung, sondern die kommandierenden Militärs.

Vgl. Kap. II/9, Anm. 27, 181.

Wirken des Reichstages# 1939: Reichstages ersetzt durch: Reichstags;
1944: Reichstages zuzuschreiben, sie wurde# 1930: gestrichen: sie wurde zu einer Hauptursache des politischen Zusammenbruches# 1930: eingefügt: wurde .

Halb war alles, was irgendwie dem Einfluß dieses Parlamentes# 1933: Parlamentes ersetzt durch: Parlaments unterstand, man mag betrachten, was man nur will.

Halb und schwach war die Bündnispolitik des Reiches nach außen.226 Indem man so# 1926: gestrichen: so den Frieden erhalten wollte, mußte man unweigerlich zum Kriege# 1944: Kriege ersetzt durch: Krieg steuern.227

Halb war weiter# 1926: gestrichen: weiter die Polenpolitik. Man reizte, ohne jemals ernstlich durchzugreifen.228 Das Ergebnis war weder eine Versöhnung der Polen noch ein Sieg des Deutschtums# 1930: eine Versöhnung der Polen noch ein Sieg des Deutschtums ersetzt durch: ein Sieg des Deutschtums noch eine Versöhnung der Polen , dafür aber Feindschaft mit Rußland.

Halb war die Lösung der elsaßlothringischen Frage. Statt mit brutaler Faust einmal für immer der französischen Hydra den Kopf zu zermalmen, dem Elsässer aber dann gleiche Rechte zuzubilligen, tat man keines von beiden.229 (# 1926: gestrichen: Klammer Man konnte# 1930: eingefügt: es auch gar nicht, saßen doch in den Reihen der größten Parteien auch die größten Landesverräter. Im Zentrum z.B. Herr Wetterlé.230)# 1926: gestrichen: Klammer

Alles dies aber wäre noch zu ertragen gewesen, wenn der allgemeinen Halbheit nicht auch die Macht zum Opfer gefallen wäre, von deren Dasein am Ende der Bestand des Reiches abhing: das Heer.

Was der sogenannte »Deutsche Reichstag« hier gesündigt hatte, genügt allein, um ihn für alle Zeiten mit dem Fluche der deutschen Nation zu beladen. Aus den erbärmlichsten Gründen haben diese parlamentarischen Parteilumpen der Nation die Waffe der Selbsterhaltung, den einzigen Schutz der Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes, aus der Hand gestohlen und geschlagen.231 Öffneten sich heute die Gräber der flandrischen Ebene232, so würden sich aus ihnen die blutigen Ankläger erheben, Hunderttausende der besten jungen Deutschen, die durch die Gewissenlosigkeit dieser parlamentarischen Verbrecher schlecht und halb ausgebildet dem Tod in die Arme getrieben wurden233; sie und Millionen Krüppel und Tote hat# 1944: Krüppel und Tote hat ersetzt durch: von Männern, die zu den Toten hinsanken oder zu Krüppeln wurden, hat das Vaterland verloren, einzig und allein um einigen hundert Volksbetrügern politische Schiebungen, Erpressungen oder selbst das Herunterleiern doktrinärer Theorien zu ermöglichen.