Deutschkonservative Warnungen <span class="pagenumber">[157]</span>

148 Wen Hitler hier wahrscheinlich vor Augen hatte, erhellt sein 1928 verfasstes, unveröffentlichtes »Zweites Buch«. Darin betonte er, dass die Außenpolitik »der wilhelminischen Periode […] von nicht wenigen Menschen in Deutschland in vielen Fällen als verhängnisvoll empfunden und demgemäß charakterisiert« worden sei; vor allem »aus Kreisen des damaligen Alldeutschen Verbandes« seien »ungezählte Warnungen« laut geworden, »die im höchsten Sinne des Wortes berechtigt waren«. In der Tat spekulierte der Vorsitzende des ADV Heinrich Claß in seiner viel gelesenen Schrift Wenn ich der Kaiser wärʼ (1912), es könne »nötig werden, aus Gründen der eigenen Sicherheit Maßregeln zu ergreifen, die die äußere Unverletztheit des kranken Staates [Österreich-Ungarn] beeinträchtigen würden«. Ein slawophiles Österreich sei »für das Deutsche Reich unerträglich«; falls das Habsburgerreich untergehe oder das Bündnis mit Deutschland verrate, müsse Deutschland intervenieren. Allerdings lehnte Claß den Zweibund nicht ostentativ ab, sondern stimmte ihm im Prinzip zu.

Vgl. Frymann, Kaiser, S. 165 – 168, Zitate S. 165; Hitler, Reden, Bd. II A, Zitat S. 28 f.; Anm. 127 in diesem Kapitel.

149 Deutsche Sage, in der ein Fremder der Stadt Hameln (südwestlich von Hannover) im Jahr 1284 verspricht, sie von einer Mäuse- und Rattenplage zu befreien. Ihm gelingt es, das Ungeziefer mit seiner Flöte anzulocken und anschließend in der Weser zu ertränken, doch weigert sich die Stadt, ihm den vereinbarten Lohn zu zahlen. Daraufhin verlässt er die Stadt, um später zurückzukehren und mit seinem Pfeifen die in der Stadt wohnenden Kinder herauszulocken und sie in einem nahe gelegenen Berg für immer verschwinden zu lassen. Die Sage war seit dem 17. Jahrhundert verbreitet und wurde von deutschen Schriftstellern des 18. und 19. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen – unter anderem in der berühmten Sagensammlung Jakob und Wilhelm Grimms. Das Motiv des Rattenfängers tauchte in Hitlers Reden mehrfach auf. So bezeichnete er in einem Artikel im Illustrierten Beobachter vom 15. 12. 1928 Gustav Stresemann als einen Rattenfänger, der die Deutschen zum Vertrag von Locarno verführt habe. Noch in einer Rede am 30. 1. 1940 verwendete Hitler das Bild, dieses Mal mit Blick auf den verstorbenen US-Präsidenten Woodrow Wilson. Politische Gegner Hitlers bezeichneten wiederum ihn und seine Anhänger als Rattenfänger, die durch falsche Versprechungen die Menschen hinters Licht und ins Verderben führen würden. So schrieb der Journalist und Theaterkritiker Walther Karsch am 23. 9. 1930 – unmittelbar nach der für die NSDAP so erfolgreichen Reichstagswahl vom 14.  9. – unter dem Pseudonym »Quietus« in Die Weltbühne: »Hitlers Wahlsieg erklärt sich aus der tiefen Depression, von der weite, politisch nicht sehr interessierte Schichten ergriffen worden sind. Das Kleinbürgertum lief dem Rattenfänger von München und seinem berliner [sic!] Adepten Goebbels in Scharen zu.«

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 253; Hitler, Reden, Bd. III/1, Dok. 71, S. 357; Domarus, Hitler, Bd. 3, S. 1455; Quietus, Zukunft, Zitat S. 477; Büchmann, Worte, Bd. 1, S. 122 – 124; Mieder, Rattenfänger. Zum Vertrag von Locarno vgl. Kap. II/15, Anm. 9.

151 Durch Hitlers vage Diktion lässt sich nicht bestimmen, ob er hier konkrete Personen vor Augen hatte oder ob er lediglich eine persönliche Empfindung auf die Gesellschaft des Kaiserreichs projizierte. Vereinzelt – gewiss aber nicht mehrheitlich – wurde der Wirtschaft vor 1914 allerdings durchaus eine alles überragende Bedeutung zugesprochen. So lässt sich etwa ein Artikel Walther Rathenaus in der Neuen Freien Presse vom Dezember 1913 als Plädoyer für das Primat des Ökonomischen lesen. In diametralem Gegensatz zu Hitler sah Rathenau in der Wirtschaft einen potenziell friedensstiftenden Faktor in Europa: »Was aber die Nationen hindert, einander zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen, ihre Besitztümer und Kräfte wechselweise mitzuteilen und zu genießen, sind nur mittelbar Fragen der Macht, des Imperialismus und der Expansion: im Kerne sind es Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.« Nach dem Ersten Weltkrieg argumentierte mit Hugo Stinnes ein weiterer berühmter deutscher Großindustrieller für ein Primat der Wirtschaft über die Politik. Möglicherweise rekurrierte Hitler auch auf Stinnes, zumal er sich im Kapitel Ursachen des Zusammenbruches (I/10) in einem ähnlichen Kontext direkt auf ihn bezieht.

Vgl. Rathenau, Schriften, Bd. 1, Zitat S. 278 (Herv. i. Orig.); Kap. I/10, Anm. 52.

154 Der Glaube an die Existenz einer »Rassenseele« war in der völkischen Bewegung populär. Die Unterscheidung zwischen einer körperlichen und einer seelischen »Artung« eines Volkes dürfte Hitler von dem in der NSDAP hoch geschätzten »Rassenkundler« Hans F. K. Günther übernommen haben. In seiner Rassenkunde des deutschen Volkes, von der Hitler eine Ausgabe des Jahres 1923 besaß, versuchte Günther, nicht nur die »körperlichen«, sondern auch die »seelischen Merkmale der nordischen Rasse« zu bestimmen. Letztere gruppierten sich nach seiner Auffassung um die »Kerneigenschaften […]: Urteilsfähigkeit, Wahrhaftigkeit und Tatkraft«. Günther vertrat dabei das Modell einer »seelische[n] Erbungleichheit der Menschenrassen«, ohne jedoch die naive These von der völligen Gleichartigkeit des Seelenlebens aller »nordischen« Menschen zu vertreten. So warnte er davor, »gleich vom ›Geist‹ einer bestimmten Rasse zu reden«. Stattdessen behalf er sich mit dem vagen Argument, sich »einen gewissen Mittelschlag […] vor Augen zu halten«. Die konträre Vorstellung einer – im Inneren wie im Äußeren – ganzheitlichen und harmonischen Gestalt eines Volkes war indes schon deutlich älter und findet sich auch außerhalb der völkischen Bewegung. So behauptete Eugen Schwiedland, Professor für politische Ökonomie an der Technischen Hochschule Wien, in seiner Einführung in die Volkswirtschaftslehre (1910), dass die Angehörigen derselben »Rassen […] bezeichnende, also in der großen Zahl gleichartige körperliche wie geistig-seelische Eigenschaften« aufweisen würden.

Vgl. Schwiedland, Einführung, Zitat S. 85; Günther, Rassenkunde (1923), S. 73 – 80, 146 – 165, Zitate S. 146, 148 (Herv. i. Orig.); Clauß, Seele (1923), S. 163 – 165; Rosenberg, Mythus, S. 22; Puschner, Bewegung, S. 124 – 131; Harrington, Suche, bes.S. 31 – 79; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 522 – 524; Kap. II/2, Anm. 36, 39.

gannen von Zeit zu Zeit vor zu großer Vertrauensseligkeit zu warnen, allein es war dies wie eben alles Vernünftige in den Wind geschlagen worden.148 Man war überzeugt, auf dem rechten Wege# 1933: Wege ersetzt durch: Weg;
1939: Wege;
1944: Weg zu einer »Eroberung« der Welt zu sein, deren Erfolg ungeheuer, deren Opfer gleich Null sein würden.

Den bekannten »Unberufenen« aber blieb wieder einmal nichts anderes übrig, als schweigend zuzusehen, warum und wie die »Berufenen« geradewegs# 1937: geradewegs ersetzt durch: geradeswegs;
1939: geradewegs in das# 1939: in das ersetzt durch: ins;
1944: in das Verderben marschierten, das liebe Volk wie der Rattenfänger von Hameln149 hinter sich herziehend.

Die tiefere Ursache für die Möglichkeit, den Unsinn einer »wirtschaftlichen Eroberung« als praktischen politischen Weg, die Erhaltung des »Weltfriedens« aber als politisches Ziel einem ganzen Volke hinzustellen, ja begreiflich zu machen, lag in der allgemeinen Erkrankung unseres gesamten politischen Denkens überhaupt.

Mit dem Siegeszuge der deutschen Technik und Industrie, den aufstrebenden Erfolgen des deutschen Handels150 verlor sich immer mehr die Erkenntnis, daß dies alles doch nur unter der Voraussetzung eines starken Staates allein# 1944: gestrichen: allein möglich sei. Im Gegenteil, man ging schon in vielen Kreisen so weit, die Überzeugung zu vertreten, daß der Staat selber nur diesen Erscheinungen sein Dasein verdanke, daß er selber in erster Linie eine wirtschaftliche Institution darstelle, nach wirtschaftlichen Belangen zu regieren sei und demgemäß auch in seinem Bestande von der Wirtschaft abhänge, welcher Zustand dann auch# 1926: gestrichen: auch als der weitaus gesündeste wie natürlichste angesehen und gepriesen wurde.151

Der Staat hat nun# 1926: gestrichen: nun aber mit einer bestimmten Wirtschaftsauffassung oder Wirtschaftsentwicklung gar nichts# 1939: nichts ersetzt durch: nichs [sic!];
1944: nichts zu tun.152

Er ist nicht eine Zusammenfassung wirtschaftlicher Kontrahenten in einem bestimmt umgrenzten Lebensraum153 zur Erfüllung wirtschaftlicher Aufgaben, sondern die Organisation einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleicher Lebewesen154 zur besseren Ermöglichung der Forterhaltung ihrer Art sowie der Erreichung des dieser von der Vorsehung vorgezeichneten Zieles ihres Daseins. Dieses# 1926: Dieses ersetzt durch: Dies und