Die Halbheit – eine der bösesten Verfallserscheinungen <span class="pagenumber">[249]</span>

52 Gemeint ist der Großindustrielle Hugo Stinnes (1870 – 1924), die führende Figur im 1919 gegründeten Reichsverband der Deutschen Industrie. Stinnes plädierte für den grundsätzlichen Primat der Wirtschaft gegenüber der Politik. Die Prosperität der Privatwirtschaft galt ihm als das ausschlaggebende Lebensgesetz des Staates; er hielt sie für wichtiger als das Votum von Regierungen und als alle Fragen des politischen Systems. Aufgrund seiner enormen unternehmerischen Erfolge – gerade auch während der Inflationszeit – und seiner offenkundigen Neigung, persönliche wirtschaftliche Interessen mit dem Wohl des Landes gleichzusetzen, war Stinnes über seinen Tod hinaus eine stark polarisierende Figur in der politischen Kultur der Weimarer Republik.

Vgl. Wulf, Stinnes, S. 121 – 155, 241 – 266, 466 – 484, 529 – 536; Feldman, Kultur, bes.S. 9 – 15; Feldman, Stinnes, S. 459 – 511, 609 – 634, 687 – 769; Kap. I/8, Anm. 17, 18; Kap. I/12, Anm. 11.

53 Anspielung auf eine am 1. 10. 1923 in Kraft getretene Hochschulreform in Frankreich, durch die alle Schüler zu einem vierjährigen Latein- und zweijährigen Griechischunterricht verpflichtet wurden – auf Kosten des zuvor gleichrangigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweigs. Die Reform wurde maßgeblich von dem konservativen französischen Unterrichtsminister Léon Bérard angestoßen, war in Frankreich äußerst umstritten und wurde daher schon 1924 teilweise revidiert. Auch in Deutschland stieß die Reform auf Kritik. Das Reichsministerium des Innern beanstandete in der Schrift Europäische Unterrichtsreformen seit dem Weltkriege (1924) vor allem das »politische Gepräge« der Reform, die »das französische Volk – insbesondere die Bildungsschicht – mit dem Gedanken erfüllen« wolle, Frankreich sei der »Erbe des römischen Weltreichs« und folglich der »wesentliche Träger der abendländischen Kultur, sofern sie am Mittelmeer entstand«. Der »Klassizismus der französischen Bildung«, so das Resümee, sei zugleich »geistige[r] Hintergrund für den französischen Imperialismus«. Diese Kritik wurde 1924 auch in der Publizistik laut, beispielsweise im Deutschen Philologen-Blatt.

Vgl. Europäische Unterrichtsreformen seit dem Weltkriege, S. 14 – 23, Zitat S. 16; Laue, Schulreform; Schneider, Buchbesprechung, S. 116.

55 Auch diese Passage erinnert an Heinrich Claß’ Wenn ich der Kaiser wärʼ (1912). Claß betonte mit Blick auf das in seinen Augen angemessene »Vorgehen gegen die Sozialistengefahr«: »[W]enn man den Kampf aufnehmen will, muß man sich darüber klar sein: keine Halbheit, keine Schwäche, keine Sentimentalität – ganze Arbeit mit festem, hartem Willen.« Generell war der Vorwurf der »Halbheit« ein geläufiges Klischee der deutschen Rechten gegen das liberale Bürgertum und, nach 1918, gegen die demokratische Staatsordnung. In Hans von Liebigs Pamphlet Der Betrug am deutschen Volke (1919) – von der NSDAP schon früh zur Lektüre empfohlen – ist etwa, konfus genug, von den »großkapitalistischproletarischdemokratischjüdisch-römisch-deutschen Halbheiten der bestehenden republikanischen Regierungen« die Rede. Doch auch Vertreter der politischen Linken benutzten den Begriff: In der Zeitschrift Die Gesellschaft kritisierte der für das Auswärtige Amt tätige, der SPD nahestehende Politologe Gerhart Lütkens, dass die deutsche Politik, insbesondere die Außenpolitik der Vorkriegszeit, auf »Halbheiten, Kompromissen und Konzessionen« gegründet habe, »ohne einheitlichen Zug« und ohne eine »mit innerer Autorität bestimmenden Instanz«. Ergebnis sei dann oft der »faule Kompromiß« gewesen. 1920 erschienen überdies in der Zeitschrift Die Kommunistische Internationale nachgelassene Manuskripte Karl Liebknechts, in denen vom »Fluch der Halbheit« die Rede ist.

Vgl. Frymann, Kaiser, Zitat S. 69 (Herv. i. Orig.); Liebig, Betrug, Zitat S. 139; Die Kommunistische Internationale 2 (1920/21), Nr. 15, Zitat S. 3; Eckart, Kapp, S. 148; Lütkens, Geschichte, Zitat S. 48; Jochmann, Gesellschaftskrise, S. 120; Ryback, Bücher, S. 84 – 86.

Wie weit diese »Verwirtschaftung« des deutschen Volkes gelungen war, geht wohl am ersichtlichsten daraus hervor, daß endlich nach dem Kriege einer der führenden Köpfe der deutschen Industrie und vor allem des Handels die Meinung zu äußern vermochte, daß die Wirtschaft als solche allein in der Lage wäre, Deutschland wieder aufzurichten52, welcher Unsinn# 1930: aufzurichten, welcher Unsinn ersetzt durch: aufzurichten. Dieser Unsinn wurde in dem Augenblick verzapft wurde# 1930: gestrichen: wurde , da Frankreich den Unterricht seiner Lehranstalten in erster Linie wieder auf die humanistischen Grundlagen stellte, um so der Meinung# 1930: der Meinung ersetzt durch: dem Irrtum vorzubeugen, als ob die Nation und der Staat ihr Fortbestehen etwa der Wirtschaft und nicht ewigen ideellen Werten verdanken.53 Die Äußerung, die damals ein Stinnes in die Welt setzte, richtete die unglaublichste Verwirrung an; wurde sie doch sofort aufgegriffen, um nun in staunenswerter Schnelligkeit zum Leitmotiv all der Kurpfuscher und Salbader54 zu werden, die der Himmel# 1930: der Himmel ersetzt durch: das Schicksal seit der Revolution als »Staatsmänner« über Deutschland losgelassen hatte.

Eine der bösesten Verfallserscheinungen war im Deutschland der Vorkriegszeit die allenthalben immer mehr um sich greifende Halbheit in allem und jedem.55 Sie ist immer eine Folge von eigener Unsicherheit über irgend eine# 1926: irgend eine ersetzt durch: irgendeine Sache, sowie einer aus diesen und auch# 1926: gestrichen: auch anderen Gründen resultierenden Feigheit. Gefördert wird# 1926: wird ersetzt durch: wurde dann# 1930: gestrichen: dann diese Krankheit noch durch die Erziehung.

Die deutsche Erziehung vor dem Kriege war mit außerordentlich vielen Schwächen behaftet. Ihre Absicht# 1930: Ihre Absicht ersetzt durch: Sie war in sehr einseitiger Weise auf die Anzüchtung von reinem »Wissen« zugeschnitten, weniger# 1930: zugeschnitten, weniger ersetzt durch: zugeschnitten und weniger auf das »Können« eingestellt, noch weniger Wert wurde auf die Ausbildung des Charakters des einzelnen gelegt (soweit dies# 1926: (soweit dies ersetzt durch: – soweit diese überhaupt möglich ist!), sehr# 1926: möglich ist!), sehr ersetzt durch: möglich – sehr;
1930: möglich –, ganz wenig auf die Förderung der Verantwortungsfreudigkeit und gar keiner# 1930: keiner ersetzt durch: nicht auf die Erziehung des Willens und der Entschlußkraft. Ihre Ergebnisse waren wirklich nicht die starken Menschen, als# 1930: als ersetzt durch: sondern vielmehr die gefügigen »Vielwisser«, als die wir Deutsche vor dem Kriege ja allgemein galten und demgemäß auch eingeschätzt wurden.56 Man liebte den Deutschen, da er sehr gut