Der Schlüssel zur Sozialdemokratie <span class="pagenumber">[51]</span>

140 Bohème, im Sinne einer un- oder auch antibürgerlichen Künstlerexistenz, ging mit einem freiheitlich-unkonventionellen Lebensstil einher, der von seinen Anhängern als exotisch-anziehend, von seinen Gegnern hingegen als asozial, bedrohlich und kriminell betrachtet wurde. Bereits der Literaturkritiker Julius Bab stellte in seinem Buch Die Berliner Bohème (1904) fest, dass die Mehrheitsgesellschaft angesichts des Begriffs Bohème eine Mischung aus »Grauen und Neugier, Neid und Verachtung« verspüre. In diesem Licht ist auch Hitlers Anspielung auf einen Zusammenhang zwischen der Anhängerschaft der Sozialdemokratie und der Bohème-Kultur zu sehen, nämlich in erster Linie als Diffamierung der Sozialdemokratie. Zwar beschreibt auch Bab, dass einige Anhänger der Bohème – die charakteristischerweise Sympathien für alle politisch unterdrückten oder ökonomisch benachteiligten Gruppen hegten – gerade in Zeiten der Sozialistengesetze (1878/90) mit der Sozialdemokratie sympathisiert hatten. Doch mit ihrem Erstarken sei die Sozialdemokratie von den Bohemiens zunehmend als einseitige, unduldsame »Dogmenherrschaft« ohne Verständnis »für individuelle, künstlerisch reine Werte« wahrgenommen worden. Gegen Hitlers Behauptung spricht auch die Tatsache, dass sich einige frühere Bohemiens den Nationalsozialisten anschlossen – so zum Beispiel der Journalist Paul Fechter, der Schriftsteller Georg Fuchs und der Autor und spätere Präsident der NS-Reichsschrifttumskammer Hanns Johst.

Vgl. Bab, Bohème, S. 5 (Zitate), 43 – 45; Kreuzer, Boheme, S. 50; Kleemann, Rebellion, S. 18, 214; Meyer, Norm, Zitat S. 29; Kap. I/5, Anm. 85; Kap. I/6, Anm. 16.

146 Über Alois Hitlers politische Einstellungen ist kaum etwas bekannt. Im Nachruf auf Alois Hitler in der Linzer Tages-Post wurde dieser als »durch und durch fortschrittlich gesinnter Mann« und »warmer Freund der freien Schule«, also als ein Vertreter antiklerikaler Positionen, beschrieben. »Für Recht und Rechtlichkeit« sei er »jederzeit mit aller Energie« eingetreten. Dieser Nachruf ist aber möglicherweise stark gefärbt, sein Quellenwert in jedem Fall fragwürdig. Da sich viele österreichische Juden stark mit der deutschen Sprache und Kultur identifizierten und sich an die Mehrheitsgesellschaft der Habsburgermonarchie assimilierten, ist aber durchaus vorstellbar, dass Hitlers Vater keine Vorbehalte gegen die jüdischen Bürger Österreichs hatte. Ob er selbst mit Juden in Kontakt kam, ist unbekannt. Seine Haltung zum Antisemitismus ist letztendlich nicht rekonstruierbar.

Vgl. Jetzinger, Jugend, Zitate S. 73; Wistrich, Juden, Zitate S. 111 f.; Kap. I/1, Anm. 16.

tung werden da Sätze zusammengestammelt, die ebenso geistreich sein sollen, wie sie sinnlos sind. Nur die Dekadenz unserer Großstadtbohème# 1937: Großstadtbohème ersetzt durch: Großstadtboheme 140 mag sich in diesem Irrgarten der Vernunft wohlig zu Hause fühlen, um aus dem Mist dieses literarischen Dadaismus141 »inneres Erleben«142 herauszuklauben, unterstützt von der sprichwörtlichen Bescheidenheit eines Teiles unseres Volkes, die im persönlich Unverständlichsten immer um so tiefere Weisheit wittert.

Allein, indem ich so theoretische Unwahrheit# 1944: Unwahrheit ersetzt durch: Unwahrheiten und den# 1926: gestrichen: den Unsinn dieser Lehre abwog mit der Wirklichkeit ihrer Erscheinung, bekam ich allmählich ein klares Bild ihres inneren Wollens.

In solchen Stunden beschlichen mich trübe Ahnungen und böse Furcht. Ich sah dann eine Lehre vor mir, bestehend aus Egoismus und Haß, die nach mathematischen Gesetzen143 zum Siege führen kann, der Menschheit aber damit auch das Ende bringen muß.

Ich hatte ja unterdessen den Zusammenhang zwischen dieser Lehre der Zerstörung und dem Wesen eines Volkes verstehen gelernt, das mir bis dorthin# 1930: dorthin ersetzt durch: dahin so gut wie unbekannt war.

Nur die Kenntnis des Judentums allein bietet den Schlüssel zum Erfassen der inneren und damit wirklichen Absichten der Sozialdemokratie.144

Wer dieses Volk kennt, dem sinken die Schleier irriger Vorstellungen über Ziel und Sinn dieser Partei vom Auge [sic!], und aus dem Dunst und Nebel sozialer Phrasen erhebt sich grinsend die Fratze des Marxismus.145

Es ist für mich heute schwer, wenn nicht unmöglich, zu sagen, wann mir zum ersten Male das Wort »Jude« Anlaß zu besonderen Gedanken gab. Im väterlichen Hause erinnere ich mich überhaupt nicht, zu Lebzeiten des Vaters das Wort auch nur gehört zu haben. Ich glaube, der alte Herr würde schon in der besonderen Betonung dieser Bezeichnung eine kulturelle Rückständigkeit erblickt haben.146 Er war im Laufe seines Lebens zu mehr oder minder weltbürgerlichen Anschauungen gelangt, die sich bei schroffster nationaler Gesinnung nicht nur erhalten hatten, sondern auch auf mich abfärbten.