Der verkannte Marxismus <span class="pagenumber">[177]</span>

68 Neben Politik, Presse, Wirtschaft, Rechtswesen und Kunst waren die Universitäten ein weiteres Gebiet, auf dem völkische Autoren eine zunehmende »Verjudung« der deutschen Gesellschaft zu belegen suchten. Im Handbuch der Judenfrage bezeichnete Theodor Fritsch die Universitäten als eine der »wichtigsten Vorstufen zur endgültigen Juden-Herrschaft«. Indem er zugleich erklärte, der »jüd[ische] Gelehrtenstand« habe »keine einzige geistige Großtat« aufzuweisen, leugnete Fritsch plump den erheblichen Anteil jüdischer Forscher am großen wissenschaftlichen Ansehen Deutschlands im 19. und frühen 20.  Jahrhundert, insbesondere in den Disziplinen Medizin, Physik und Chemie, aber auch in neuen Fächern wie Soziologie und Psychologie. Das ansonsten als vorbildlich gelobte Streben nach höherer Bildung deuteten völkische Autoren im Fall der jüdischen Bevölkerungsminderheit als Strategie der geistigen »Überfremdung« und »Unterwanderung«. Zugleich behaupteten sie, »deutsche Gesinnung« bedeute für »angehende Akademiker so viel wie Verzicht auf Beförderung« – so der radikalantisemitische Publizist Hans von Liebig in dem Traktat Der Anteil des Judentums an dem Zusammenbruche Deutschlands (1919).

Solche Unterstellungen stellten die Realität der universitären Berufungspraxis auf den Kopf: In Wirklichkeit sahen sich jüdische Bewerber auf Professorenstellen besonders seit den 1880er Jahren mit massiven Widerständen konfrontiert, sodass der Anteil jüdischer Professoren (1909/10: 2,5 %) weit unter dem Anteil jüdischer Privatdozenten blieb (1909/10: 11,9 %). Zwar war der Anteil jüdischer Studenten an deutschen Universitäten tatsächlich überdurchschnittlich hoch – zwischen 1885 und 1933 belief er sich auf 4,5 – 8 % bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von nur 1 %. Das Bild der »verjudeten Universitäten« ignorierte aber, dass gerade an den Hochschulen der Antisemitismus sowohl unter Professoren als auch unter Studenten besonders populär war. Nicht zufällig gelang der NSDAP gerade in der Studentenschaft ein früher Durchbruch.

Vgl. Fritsch (Hrsg.), Handbuch, Zitat S. 415; Liek, Anteil, Zitat S. 13; Gorsleben, Überwindung, S. 61 f.; Kaznelson (Hrsg.), Juden, S. 278 – 292, 401 – 419, 429 – 450, 461 – 526, 699 – 709; Kampe, Studenten, S. 77 – 107, 185 – 212; Efron, Defenders, S. 30; Nipperdey, Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1, S. 575 f.; Hammerstein, Professoren; Hammerstein, Universitäten; Büttner, Weimar, S. 264 – 267, 444; Wyrwa, Genese.

70 In der völkischen Vorstellungswelt war die Sozialdemokratie keine Partei, welche die Interessen deutscher Arbeiter vertrat; vielmehr galt sie als ein Werkzeug »zur Aufrichtung der jüdischen Weltherrschaft mit Hilfe des betörten Proletariats«, so Theodor Fritsch in seinem Handbuch der Judenfrage. In ihrer »Bedeutung und Aufgabe« sei die Sozialdemokratie eine »Judenschutztruppe«. Das Bild von der SPD als »Judenpartei« verfestigte sich rasch zu einem Klischee, ohne das kaum ein Text der deutschen Rechten auskam. Schon das erstmals 1892 veröffentlichte Konservative Handbuch hob hervor, »wie oft gerade der Jude, sei es als Wucherer und Ausbeuter oder umgekehrt als sozialdemokratischer Agitator, überall zu finden sei, wo man an der Zersetzung und Vernichtung unseres Volksthums arbeitet«. Auch die Pamphlete Judas Schuldbuch (1919) von Paul Bang und Sozialdemokratie und Judentum (1920) von Emil Kloth, die in der frühen NSDAP zu jenen Schriften gerechnet wurden, die jeder Nationalsozialist kennen müsse, zeichneten das Bild einer ganz und gar jüdisch dominierten Partei; zwischen »Sozialdemokratie und Judentum«, so Bang, herrsche nicht »das Verhältnis der Nebeneinander-, sondern das der Unterordnung«.

Das polemische Bild des »jüdischen Führerpacks« bezog sich in erster Linie auf Paul Singer, der von 1890 bis 1911 gemeinsam mit August Bebel den Vorstand der SPD gebildet hatte, sowie auf Hugo Haase, der sich von 1911 bis 1916 zunächst mit Bebel, ab 1913 dann mit Friedrich Ebert das Amt des Parteivorsitzenden teilte. Zugleich wurden immer wieder auch andere prominente jüdische Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein oder Rosa Luxemburg kurzerhand zu »Führern« erklärt, ohne dabei die politischen Differenzen dieser Individuen und ihre unterschiedliche politische Machtstellungen zur Kenntnis zu nehmen. Auch die Tatsache, dass für das politische Denken Singers und Haases – den einzigen jüdischen SPD-Vorsitzenden seit 1890 – das Judentum keine Rolle spielte, wurde von völkischen Rassenideologen ignoriert; in ihrer biologistischen Vorstellungswelt zählte allein die Abstammung. Ebenso wenig interessierten die Rassenantisemiten die Gründe für das überdurchschnittliche Engagement jüdischer Bürger in »linken« Parteien, in denen diese am ehesten auf politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung hoffen konnten und am wenigsten mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert waren – Zusammenhänge, die auch schon in der 1920 vom Verein zur Abwehr des Antisemitismus herausgegebenen Broschüre Abwehr-ABC thematisiert wurden.

Vgl. Marr, Sieg, S. 32; Konservatives Handbuch (³1898), Zitat S. 16; Meister, Schuldbuch (^3/41919), Zitat S. 53; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, Zitate S. 555, 634 (Herv. i. Orig.); Kloth, Sozialdemokratie; Abwehr-ABC, S. 113 f.; Engelmann/ Naumann, Haase, bes.S. 10 f.; Reuter, Singer, bes.S. 29; Ryback, Bücher, S. 86; Kap. I/2, Anm. 219.

begriff man um so weniger, als dies ja nicht auf den verjudeten Universitäten68 zu hören ist, ansonsten# 1926: ansonsten ersetzt durch: sonst aber nur zuviele unserer besonders# 1926: zuviele unserer besonders ersetzt durch: zuviele, besonders unserer;
1937: zu viele, besonders unserer höheren Beamten aus anerzogenem blöden# 1937: blöden ersetzt durch: blödem;
1939: blöden;
1944: blödem Dünkel es ja nicht der Mühe wert finden, ein Buch zur Hand zu nehmen und etwas zu lernen, was eben nicht zum Unterrichtsstoff ihrer Hochschule gehörte. Die gewaltigste Umwälzung geht an diesen »Köpfen« gänzlich spurlos vorüber, weshalb auch die staatlichen Einrichtungen zumeist den privaten immer# 1930: gestrichen: immer nachhinken. Von ihnen gilt, wahrhaftiger Gott, am allermeisten das Volkssprichwort: Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht. Wenige Ausnahmen bestätigen auch hier nur die Regel.

Es war ein Unsinn sondergleichen, in den Tagen des August 1914 den deutschen Arbeiter mit dem Marxismus zu identifizieren. Der deutsche Arbeiter hatte in den damaligen Stunden sich ja aus der Umarmung dieser giftigen Seuche gelöst, da er sonst ja# 1926: gestrichen: ja eben niemals hätte zum Kampf überhaupt auch nur anzutreten vermocht. Man war aber dumm genug, zu vermeinen, daß nun vielleicht der Marxismus »national« geworden sei; ein Geistesblitz, der nur zeigt, daß in diesen langen Jahren es niemand von diesen beamteten Staatslenkern auch nur der Mühe wert gefunden hatte, das Wesen dieser Lehre zu studieren, da sonst denn doch ein solcher Irrsinn schwerlich unterlaufen sein würde.

Der Marxismus, dessen letztes Ziel die Vernichtung aller nichtjüdischen Nationalstaaten ist und bleibt69, mußte zu seinem Entsetzen sehen, daß in den Julitagen des Jahres 1914 die von ihm umgarnte deutsche Arbeiterschaft erwachte und sich von Stunde zu Stunde schneller in den Dienst des Vaterlandes zu stellen begann. In wenigen Tagen war der ganze Dunst und Schwindel dieses infamen Volksbetruges zerflattert, und einsam und verlassen stand das jüdische Führerpack70 nun plötzlich da, als ob nicht eine Spur von dem in sechzig Jahren den Massen eingetrichterten Unsinn und Irrwahn mehr vorhanden gewesen wäre. Es war ein böser Augenblick für die Betrüger der Arbeiterschaft des deutschen Volkes. Sowie aber erst die Führer die ihnen drohende Gefahr erkannten,