Cunos Weg <span class="pagenumber">[348]</span>

88 Wilhelm Cuno begann seine politische Karriere 1907 als Regierungsassessor beim Reichsschatzamt, ehe er 1914 zum Leiter der Reichsgetreidestelle und Ende 1916 zum Generalreferent für Kriegswirtschaftsfragen im Reichsschatzamt ernannt wurde. Im November 1917 wechselte Cuno ins Direktorium der Hamburg-Amerika-Linie, die 1847 als Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-A.-G. (Hapag) gegründet worden war und sich seither zu einer weltweit führenden Großreederei entwickelt hatte. Am 20. 12. 1918 wurde Cuno Nachfolger Albert Ballins als Generaldirektor der Hapag. Nach seinem Rücktritt als deutscher Reichskanzler am 12. 8. 1923 kehrte Cuno in den Vorstand der Hapag zurück; 1926 übernahm er deren Vorsitz.

Vgl. Ritter, Kaiser, bes.S. 158 – 162; Witthöft, Hapag, bes.S. 75 – 80; Braun, Cuno.

89 Am 19. 1. 1923, acht Tage nach dem Einmarsch französischer und belgischer Truppen in das Ruhrgebiet, wies die Reichsregierung die Beamten des besetzten Gebiets (einschließlich der Eisenbahnbeamten) an, alle »Anordnungen der besetzenden Mächte« als »rechtsunwirksam« zu betrachten und »sich ausschließlich an die Weisungen ihrer eigenen Regierung zu halten«. Zwar war der damit eingeläutete »Passive Widerstand« kein Streik im eigentlichen Sinn, in der Praxis aber kam er einem solchen fast gleich. Zunächst erschien diese Strategie durchaus vielversprechend, da sich die Arbeiter mit dem Widerstand solidarisierten und infolgedessen während der ersten sechs Monate des »Ruhrkampfs« insgesamt weniger Kohle gefördert wurde als in den letzten zehn Tagen vor der Besetzung. Doch arbeitete die Zeit gegen die Reichsregierung. Schon bald zerschlug sich die Hoffnung, Frankreich werde aufgrund der wirtschaftlichen Unrentabilität seiner Politik das Ruhrgebiet wieder räumen. Vielmehr gelang es der französischen Besatzungsmacht seit Herbst 1923 immer besser, die Förderung und den Abtransport der Ruhrkohle durch eigenes Personal zu organisieren. Zugleich führten die enormen Kosten des »Passiven Widerstands« – die Bevölkerung des Ruhrgebiets musste in Milliardenhöhe unterstützt werden, bei gleichzeitigen, empfindlichen Steuerausfällen – zur völligen Zerrüttung der deutschen Währung. Am 26. 9. 1923 sah sich das Kabinett Stresemann daher gezwungen, den passiven Widerstand einzustellen.

Vgl. Ursachen und Folgen, Bd. 5, Dok. 1003, Zitat S. 42; Schwabe, Einführung, S. 4 – 6; Krüger, Außenpolitik, S. 183 – 206; Mühlhausen, Ebert, S. 594 – 624; Kolb/ Schumann, Republik, S. 51 – 53; Anm. 107 in diesem Kapitel.

90 Wilhelm Cuno besuchte am 22./23. 3. 1923 München und Stuttgart, um die dortigen Landesregierungen über den Fortgang des »Passiven Widerstands« zu unterrichten. Nach einem Bericht des Staatssekretärs Eduard Hamm skizzierte der Reichskanzler die Leitlinie der Reichsregierung dabei wie folgt: »Einmal den Willen Deutschlands, auf dem Boden des Vertrages von Versailles im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit zu leisten, was immer ohne Verelendung der Nation möglich sei und hierüber eine loyale Verständigung unter Gleichberechtigten einzugehen, ebenso bestimmt aber alles abzulehnen, was über die Leistungsfähigkeit Deutschlands hinausgehe und über den Vertrag von Versailles hinaus in die Souveränität des Deutschen Reichs eingriffe.« Hitlers ironische Darstellung der Reise Cunos unterschlägt die große Zustimmung, mit der die deutsche Bevölkerung im Frühjahr 1923 die Haltung der Reichsregierung gegen Frankreich aufnahm. So wurde auch Cuno in München und Stuttgart überaus freundlich empfangen. Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten am 23. 3., dass Cuno schon auf seiner Fahrt im offenen Auto vom Hauptbahnhof zum Hotel Continental »von der wartenden Menge […] mit begeisterten Hochrufen und Tücherwinken begrüßt« wurde; »auch von den dicht besetzten Fenstern der Häuser wurde ihm zugejubelt«. Tags darauf bilanzierte das Blatt, dass »nach Bismarck« in München »wohl kein Vertreter des Reiches so herzlich aufgenommen worden [sei] wie Dr. Cuno«. Dass Hitler an dieser Stelle München nicht nennt, ist kein Zufall, illustriert Cunos dortiger Erfolg doch anschaulich die geringe Wirkung der nationalsozialistischen Propagandakampagne gegen die Politik der Reichsregierung.

Vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 23. 3. 1923, »Der Reichskanzler in München«; vom 24. 3. 1923, »Reichskanzler Cuno bei den katholischen Studenten«; Vossische Zeitung vom 23. 3. 1923, »Der Reichskanzler in Stuttgart«; VB vom 24. 3. 1923, »Kanzlersprüche«; AdR, Kabinett Cuno, Dok. 103, Zitat S. 323; Sauer, Württemberg, S. 99; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 243.

91 Hitlers Kritik am unklaren Marxismus-Begriff unter »bürgerlichen Staatsmännern« entbehrt nicht der unfreiwilligen Komik. Gerade in Mein Kampf lässt er selbst in dieser Hinsicht jede Präzision und Trennschärfe vermissen. Dies zeigt schon ein Blick auf den Beginn des zweiten Bands, wo kurz hintereinander erst die gesamte »bürgerliche Welt« als »marxistisch« bezeichnet wird, dann aber von einem dauerhaften »Kampf der bürgerlichen Welt« gegen die »marxistische Internationale« die Rede ist – ein Kampf, in dem das Bürgertum seit jeher notorisch »versagt« habe. Auch spricht Hitler oft verallgemeinernd von SPD und KPD als »den Marxisten«, während die massiven, mitunter gewaltsam ausgetragenen Spannungen zwischen beiden Parteien völlig ignoriert werden. Grund hierfür war die so obskure wie grobschlächtige Vorstellung der Völkischen, sämtliche Linksparteien seien letztlich gleichgeartete Instrumente und Spielarten des »Weltjudentums«. Im Kapitel Der Weltkrieg (I/5) bezeichnet Hitler den Reichstag bzw. die gesamte »bürgerliche Demokratie« schon zu Zeiten von »Bismarcks Sozialistengesetzgebung« (1878) als »Ausgeburt[en] marxistischer Denkart«, um andernorts – etwa in den Kapiteln Die Deutsche Arbeiterpartei (I/8) und Die erste Entwicklungszeit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (I/12) – den politischen Katholizismus und den Marxismus zu Bundesgenossen zu erklären, ja gar eine »innere Verbrüderung zwischen Marxismus und Zentrum« zu konstatieren. Die Begriffsverwirrungen Hitlers blieben schon zeitgenössisch nicht unbemerkt. Aufschlussreich sind etwa die 1933 verfassten Erinnerungen des preußischen Innenministers der Jahre 1926 – 1930, Albert Grzesinski. Dieser spricht darin von »Hitlers Kampf gegen den Marxismus, von dem er, wie sein Buch ›Mein Kampf‹ zeigt, nicht mehr als den Namen begriffen« habe.

Vgl. Grzesinski, Kampf, Zitat S. 303; Kap. I/5, Zitat S. 182; Kap. I/8, S. 228; Kap. II/1, Zitat S. 12; Kap. I/12, Zitat S. 388; Kap. II/2, Zitat S. 21; Kap. II/9, Anm. 113; Kap. II/13, Anm. 92.

92 In Wirklichkeit fügte sich die KPD gerade nicht in die nationale »Einheitsfront«, sondern wandte sich offensiv gegen sie. Am 13. 1. 1923 gab Paul Frölich im Reichstag mit Blick auf die Ruhrbesetzung folgende Parole aus: »Keine nationale Einheitsfront, sondern Einheitsfront des ganzen Proletariats, national und international, zum Kampfe gegen die Bourgeoispolitik […]. Sturz dieser Regierung! Das ist in diesem Augenblick notwendig. Dann allein kann das deutsche Volk gerettet werden.« Diese Haltung bedeutete freilich nicht, dass die KPD die französische Ruhrpolitik passiv hingenommen hätte, vielmehr agitierte sie – in Einklang mit der Komintern – scharf gegen das »imperialistische« Frankreich. Diese doppelte Frontstellung gegen die deutsche und die französische Regierung bündelte sich in der Parole »Schlagt Cuno und Poincaré an der Ruhr und an der Spree!« Ungeachtet solcher Parolen blieb revolutionärer Widerstand der KPD gegen die Reichsregierung aus, zumal parteiintern durchaus Uneinigkeit über die angemessene Haltung zum »Passiven Widerstand« herrschte. Doch auch dessen Befürworter aus den Reihen der KPD verweigerten den Schulterschluss mit den bürgerlichen Initiatoren. Vielmehr machte ihnen der Zentralausschuss der KPD am 17. 5. 1923 implizit den Vorwurf, sich der Opfer der Arbeiterschaft im Kampf gegen Frankreich als unwürdig erwiesen zu haben: »Die deutsche Bourgeoisie wird heute oder morgen kapitulieren trotz des Widerstandes, den das Proletariat unter schweren Opfern dem Einbruch des französischen Imperialismus entgegengesetzt hat.«

Vgl. Verhandlungen des Reichstags 1918 – 1942, I. Wahlperiode 1920, Bd. 357, Zitat S. 9434; Flechtheim, KPD, S. 83 – 99; Winkler, Revolution, bes.S. 555 f., 561 – 567, 593 – 604, Zitate S. 561, 578.

Allein in großer Stunde hat der Himmel dem deutschen Volk auch einen großen Mann geschenkt, Herrn von#1929: gestrichen: von Cuno.86 Er war nicht eigentlich Staatsmann oder#1944: oder ersetzt durch: und Politiker von Beruf, und noch viel weniger natürlich von Geburt, sondern er stellte so eine Art politischen Zugeher#1939: Zugeher ersetzt durch: Zugehers;
1944: Zugeher87 dar, den man bloß für die Erledigung bestimmter Aufgaben brauchte; sonst war er eigentlich mehr in Geschäften bewandert.88 Ein Fluch für Deutschland deshalb, weil dieser politisierende Kaufmann nun auch die Politik als wirtschaftliches Unternehmen ansah und demgemäß sein Handeln einrichtete.

»Frankreich besetzt#1933: besetzt ersetzt durch: besetzte;
1937: besetzt;
1939: besetzte;
1944: besetzt das Ruhrgebiet; was ist im Ruhrgebiet? Kohle. Also besetzt Frankreich das Ruhrgebiet wegen der Kohle.#1930: Punkt ersetzt durch: Fragezeichen« Was war für Herrn Cuno da natürlicher als der Gedanke, nun zu streiken, damit die Franzosen keine Kohle bekommen, worauf sie dann, nach der Meinung des Herrn v.#1929: gestrichen: v. Cuno, sicher eines Tages das Ruhrgebiet infolge der Unrentabilität des Unternehmens wieder räumen würden.89 So ungefähr verlief der Gedankengang dieses »bedeutenden« »nationalen« »Staatsmannes«, den man zu Stuttgart und an anderen Orten zu »seinem Volk« reden ließ und den dieses Volk ganz glückselig bestaunte.90

Zum Streik brauchte man aber natürlich auch die Marxisten, denn in erster Linie mußten ja die Arbeiter streiken. Also war es notwendig, den Arbeiter (und der ist in dem Gehirn eines solchen bürgerlichen Staatsmannes immer gleichbedeutend mit dem Marxisten91), in eine Einheitsfront mit all den anderen Deutschen zu bringen. Man muß damals wirklich das Leuchten dieser bürgerlichen parteipolitischen Schimmelkulturen angesichts einer solchen genialen Parole gesehen haben! National und genial zugleich, – da hatten sie ja nun endlich das, was sie innerlich doch die ganze Zeit suchten! Die Brücke zum Marxismus war gefunden, und dem nationalen Schwindler war es jetzt ermöglicht, mit »teutscher« Miene und nationalen Phrasen dem internationalen Landesverräter die biedere Hand hinzustrecken. Und dieser schlug schleunigst ein. Denn so wie Cuno zu seiner »Einheitsfront« die marxistischen Führer brauchte, so notwendig brauchten aber die marxistischen Führer das Cunosche Geld.92 Damit war dann beiden Teilen geholfen. Cuno