Zur Entstehungsgeschichte von Mein Kampf

Es war eine Niederlage, die Mein Kampf erst ermöglicht hat. Mit seinem Putsch im November 1923 hatte Hitler alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Im Jahr 1924 schien die NS-Bewegung nicht mehr als eine kurz­lebige Erscheinung gewesen zu sein, ein Krisenphänomen, das sich nun überlebt hatte. Kaum etwas war von ihr übrig geblieben. Eine langfristig angelegte Strategie war ebenso wenig vorhanden wie ein wirkliches Programm oder eine ausformulierte Ideologie. Das viel beschworene »25-Punkte-Programm« der NSDAP vom 24. Februar 1920 war nicht viel mehr als eine dürftige Sammlung vager, zum Teil widersprüchlicher Forderungen; entsprechend begrenzt blieb seine Bedeutung für die Politik der Partei. In einem Umfeld wie dem völkischen, das sich in hohem Maße ideologisch definierte, und in einer Zeit, deren Kennzeichen nicht zuletzt eine wahre Flut von Weltanschauungsliteratur war, konnten eine Partei und ihre Pro­pagandisten nur dann an Profil gewinnen, wenn sie öffentlich erklärten und begründeten, was sie eigentlich wollten.

Hitler besaß, als er im Juni 1924 in Landsberg mit der Abfassung von Mein Kampf begann, bereits Erfahrung im Schreiben. In den Jahren davor waren nicht nur zahlreiche seiner Reden im Völkischen Beobachter veröffentlicht worden, in diesem Blatt publizierte er am 1. Januar 1921 auch seinen ersten Artikel: Der völkische Gedanke und die Partei. 21 Den Völkischen Beobachter, der sich erst seit Dezember 1920 im Besitz der NSDAP befand, konnte Hitler in der Folgezeit intensiv als Sprachrohr nutzen: Seinem ersten Artikel folgten bis Juni 1921 rund 40 weitere Aufsätze, ehe Hitler seine »Schreibtätigkeit schlagartig ein[stellte22 – jedenfalls in der Öffentlichkeit. Für Hitler waren all diese Artikel mehr als nur eine Art Schreibtraining, er begann damit auch zusehends, seine Weltanschauung zu fixieren und zu präzisieren. Im Jahr darauf entstanden schließlich erste Denkschriften, von denen später Teile Eingang in das Kapitel Volk und Rasse (I/11) fanden. 23 Auf die umfangreichste dieser Ausarbeitungen, mehr als 60 Seiten lang, griff Hitler während seines Gerichtsprozesses im Frühjahr 1924 zurück. 24 Bereits bei seiner ersten Vernehmung am 13. Dezember 1923 durch den Staatsanwalt und späteren bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard sprach Hitler von einer solchen Schrift: Sie sei allerdings, so Ehard, »gar nicht auf die Verteidigung vor diesem Gericht eingestellt, sondern sei einzig und allein eine politische Rechtfertigung gleichzeitig mit dem Ziele, seinen Gegnern (›Todfeinden‹) die Maske vom Gesicht zu reißen, sie unmöglich zu machen und dahin zu bringen, wo er säße, nämlich ins Gefängnis«. 25 Auch in einem Brief an einen seiner Anhänger vom 10. Januar 1924 hielt Hitler fest: »Ich lasse meinen Groll in meiner Rechtfertigungsschrift aus, von der ich hoffe, dass sie wenigstens in ihrem ersten Teil [den] Prozeß, und mich überleben wird. Sonst träume ich von Tristan und ähnlichem.«26

Die genannte Denkschrift, die sich nicht erhalten hat, dürfte zum Kern des später entstandenen Buchs geworden sein. Die wenigen Hinweise auf ihren Inhalt finden jedenfalls ihre Entsprechung in verschiedenen Teilen von Mein Kampf. Das gilt auch für das zentrale Motiv der »Abrechnung«, das dann zum Untertitel des ersten Bands wurde. Daneben konnte Hitler auf eine weitere Vorarbeit zurückgreifen: Seinen Aufsatz Warum mußte ein 8. November kommen?, der im April 1924 in der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung erschien27 und von dem sich ebenfalls große Teile in Mein Kampf finden, insbesondere im Kapitel München (I/4).

Darüber hinaus könnte es noch eine dritte Vorarbeit für Mein Kampf gegeben haben: Nach Paragraf 36 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 192328 sollten »Gefangene mit Strafen von mehr als sechs Monaten« veranlasst werden, »binnen einer Woche nach der Aufnahme ihren Lebenslauf niederzuschreiben«29; der zu fünf Jahren Festungshaft verurteilte Hitler fiel in diese Kategorie. Die Angaben der Häftlinge sollten dann »soweit erforderlich, durch Nachfrage bei den zuständigen Behörden«30 nachgeprüft und gegebenenfalls ergänzt werden. Hintergrund dieser Forderung, die auch in eine Dienst- und Vollzugsordnung für die bayerischen Strafanstalten und Gerichtsgefängnisse vom März 1924 Eingang fand31, war die Reform des Strafvollzugs, die sich der Weimarer Staat auf die Fahnen geschrieben hatte: Der Besserungs-, nicht der Bestrafungsgedanke sollte künftig im Zentrum des Strafvollzugs stehen. 32 Dazu aber schien es notwendig, »die Vorgeschichte jedes Gefangenen bis in die Einzelheiten«33 zu kennen, so 1924 der bayerische Ministerialrat Richard Degen in seiner Schrift Der Strafvollzug in Stufen in den bayerischen Strafanstalten. Diese Reformmaßnahme des Strafvollzugs und der Beginn der Arbeiten an Mein Kampf liegen also nah beieinander. Gleichwohl bleibt es spekulativ, ob Hitler auf Weisung der Behörden einen Lebenslauf verfasste, auf den er in seinem Buch dann zurückgreifen konnte; ein entsprechendes Dokument ist jedenfalls nicht überliefert.

Wie schon diese wenigen Angaben erahnen lassen, war bereits der Entstehungsbeginn von Mein Kampf komplex und schwierig. 34 Das gilt auch für die weitere Genese des Buchs, die in einem hohen Maß von Unterbrechungen, Rückschlägen, Neukonzeptionen sowie Umarbeitungen geprägt war und die sich letztlich immerhin über einen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Jahren erstreckte. Auch dieser Umstand erklärt die zum Teil chaotische Anlage des Buchs sowie die oft sprunghaften und redundanten Ausführungen Hitlers.

Die wichtigsten zeitgenössischen Quellen zur Entstehung von Mein Kampf lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen: erstens die erhalten gebliebenen 23 Manuskript- und Konzeptblätter aus Hitlers Hand, die Einblick in die Entstehung von sieben Kapiteln des ersten Bands geben35; zweitens die Briefe und zeitgenössischen Aufzeichnungen von Mithäftlingen und Anhängern Hitlers, insbesondere die Briefe von Rudolf Heß; und drittens zahlreiche Ankündigungen, Darstellungen und Vorveröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und auf Flugblättern mit Angaben über den aktuellen Entwicklungsstand des Buchs.

Hitler selbst hat sich dagegen nur selten zur Genese von Mein Kampf geäußert – auch dann, als nach 1933 darüber sehr widersprüchliche Versionen kursierten. Das betraf vor allem die Berichte ehemaliger Mithäftlinge und des einstigen Wachpersonals der Landsberger Haftanstalt. So setzte der Gefängniswärter Otto Lurker die Legende in die Welt, Hitler habe das Buch seinem Intimus Rudolf Heß diktiert. 36 Hans Kallenbach, ein Mithäftling Hitlers, verbreitete in den verschiedenen Auflagen seiner Erinnerungen Mit Adolf Hitler auf Festung Landsberg sogar unterschiedliche Versionen über den Entstehungsprozess von Mein Kampf: In der 1933 erschienenen Erstausgabe heißt es, in Hitlers Stube in Landsberg habe »wohltuende Stille« geherrscht. »Nur selten ward sie unterbrochen. Das war, wenn die sonore Stimme des Führers diktierend ertönte; das war, wenn [Emil ] Maurice, der Unverbesserliche, sie durchbrach durch eifriges Schreibmaschinengeklapper bei Reinschrift des Manuskriptes des weltberühmt gewordenen Buchs des Führers ›Mein Kampf‹, des Evangeliums der Bewegung.«37 In Wirklichkeit dürfte Hitler damals jedoch allein an seinem Buch gearbeitet haben, wie verschiedene Zeitgenossen, darunter sein Mithäftling, der spätere Münchner Oberbürgermeister Karl Fiehler, bestätigten. 38 In einer neu bearbeiteten Auflage von Kallenbachs Buch aus dem Jahr 1939 hieß es denn auch: »Nur ein einsames Licht brannte meist noch tief bis in die späte Nacht hinein, und das war die Lampe in der Stube des Führers. […] In diesen einsamen Nachtstunden saß Adolf Hitler über Bücher und Schriften gebeugt und arbeitete an Deutschlands Auferstehung.«39 Die Absicht dieser Korrektur ist klar: In der deutlich pathetischeren Darstellung von 1939 sollte Hitler noch stärker zum einsamen Streiter stilisiert werden. Und doch dürfte diese Version der Realität näherkommen. Hitler verfasste den Text tatsächlich allein, große Teile des Manuskripts tippte er selbst auf einer Schreibmaschine. 40

Hatte Hitler ursprünglich eine »Abrechnung« mit seinen politischen Gegnern geplant, die er für das Scheitern seines Putschversuchs verantwortlich machte, so entwickelte er im Juni 1924 ein völlig neues Konzept: Aus einer bloßen Rechtfertigungsschrift sollte ein umfassendes politisches Manifest im biografischen Gewand werden. Zwar waren von Beginn an einleitende Darstellungen zu seiner Herkunft vorgesehen, sodass seine Schilderung von Kindheit und Jugend zu denjenigen Teilen des Buchs zählt, die am frühesten entstanden sind41; doch entwarf er im Juni 1924 auch jene Kapitel, die sich mit seiner Zeit in München vor 1914 und mit der Zeit im deutschen Heer bis 1920 beschäftigen. Hinzu kamen ideologische und politische Ausführungen, die dann vor allem in die Kapitel Ursachen des Zusammenbruches (I/10) und Volk und Rasse (I/11) einflossen. 42

Nach der Entscheidung zu dieser Neukonzeption schrieb Hitler wesentlich konzentrierter, zog sich dafür weitgehend aus der Politik zurück und verzichtete auch darauf, in die endlosen Eifersüchteleien und Streitereien der rivalisierenden Nachfolgeorganisationen der NSDAP einzugreifen. Vielmehr ließ er am 7. Juli 1924 in Form einer Erklärung im Völkischen Kurier verkünden, »daß er die Führung der nat[ional]soz[ialistischen] Bewegung niedergelegt« habe »und sich auf die Dauer seiner Haft jeder politischen Tätigkeit« enthalte. Auch bat Hitler darum, »von Besuchen in Landsberg künftig absehen zu wollen«; er könne derzeit keine »praktische Verantwortung übernehmen« und leide unter einer »allgemeinen Arbeitsüberlastung. Herr Hitler schreibt zur Zeit an einem umfangreichen Buche und will sich so die dafür nötige freie Zeit sichern.« 43 Dass Hitler drei Wochen später diese Erklärung nachdrücklich wiederholte44, zeigt, wie ernst er sein Buchprojekt mittlerweile nahm. Nicht zufällig beendete er zu dieser Zeit auch die gelegentlichen Lesungen vor Mitgefangenen. 45 Künftig sollte ihm nur noch Rudolf Heß als eine Art Assistent sowie als Zuhörer dienen; doch auch das verlor sich im Spätsommer 1924, nachdem es zwischen Hitler und Heß zu Spannungen gekommen war. Grund dafür war besonders Hitlers notorische Besserwisserei, über die sich Heß oft ärgerte, vor allem wenn sie Themen betraf, über die Heß nachweislich besser informiert war als Hitler. 46

Doch trotz aller Konzentration dürfte Hitler den Aufwand völlig unterschätzt haben, den es kostete, ein so umfangreiches Buch wie Mein Kampf zu schreiben. Dass er sich Ende Juni 1924 bereits mit der Gestaltung des Einbands beschäftigte, ist Ausdruck dieser mangelnden Erfahrung. 47 Gleichwohl teilte der Eher-Verlag, der nach längeren Verhandlungen den Zuschlag für Hitlers Buch erhalten hatte, dessen Optimismus. 48 Im Juni 1924 publizierte der Verlag eine erste Werbebroschüre, die Hitlers Buch schon für Juli 1924 ankündigte – unter dem sperrigen Titel »4 ½ Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit«. 49 In den nächsten Monaten folgten immer neue Ankündigungen. Keiner der dabei genannten Termine konnte jedoch eingehalten werden, sodass der Verlag seine Werbung für Hitlers Buch im November 1924 schließlich ganz einstellte.

Hinzu kamen weitere Schwierigkeiten: Hitler – und übrigens auch seine Anhänger – hatten damit gerechnet, dass er zum 1. Oktober 1924, dem frühestmöglichen Zeitpunkt, aus der Haft entlassen würde. Sogar Veranstaltungen waren schon geplant. 50 Doch sollten sich all diese Hoffnungen zerschlagen. Grund dafür war Hitlers Verwicklung in den Aufbau neuer para­militärischer Formationen unter Führung von Ernst Röhm, die damals bekannt geworden war. Röhm hatte als Auffangorganisation für die verschiedenen, nach November 1923 verbotenen paramilitärischen Gruppen den Frontbann gegründet, der im September 1924 ins Visier der Polizei geriet. Bei einer Durchsuchung der Geschäftsräume des Frontbann in München am 16. September 1924 fand die Polizei Beweise dafür, dass Hitler für »die wichtigsten Entscheidungen und Beschlüsse« zum »Neuaufbau der aufgelösten Kampfverbände«51 mitverantwortlich war. Diese Affäre sorgte im Oktober 1924 für eine Auseinandersetzung um Hitlers Staats­angehörigkeit, wobei auch seine Ausweisung nach Österreich diskutiert wurde. In dieser Situation schien eine Veröffentlichung von Hitlers Buch kaum ratsam.

Dennoch konnte Hitler schon am 20. Dezember 1924 die Festung Landsberg verlassen. Damals schien das Manuskript immerhin so weit gediehen, dass bald darauf mit der Vorbereitung des Drucks begonnen wurde. 52 Allerdings erwies sich auch das als verfrüht. Hitler schrieb nach wie vor nur stockend: »Wir sind heute wieder ohne Manuskript. […] Nachdem das Erscheinen des Werkes für Mitte März angekündigt ist, müssen wir Sie dringend ersuchen, uns doch schneller mit einem Manuskript versehen zu wollen, da ja sonst der Termin unmöglich eingehalten werden kann«53, beklagte sich die Druckerei M. Müller & Sohn im Februar 1925 gegenüber dem Eher-Verlag. Wenig später, im Frühjahr 1925, mussten die Druckvorbereitungen ganz eingestellt werden. Grund dafür war die sich verschärfende Haltung der bayerischen Regierung, die zwar Ende Februar 1925 die Neugründung der NSDAP zugelassen hatte, doch bereits im folgenden Monat ein Redeverbot über Hitler verhängte und damit ihre Entschlossenheit demonstrierte, keine Provokationen mehr zu dulden. 54 Zudem drohte Hitler, der nur auf Bewährung aus der Haft entlassen worden war, noch immer die Ausweisung nach Österreich. Zwar hatte er darauf am 30. April 1925 mit Austritt aus der österreichischen Staatsbürgerschaft reagiert, doch verdeutlicht schon dieses Datum, dass für ihn damals drängendere Probleme anstanden als der Abschluss seines Buchs.

Problematisch waren zum damaligen Zeitpunkt auch die geplanten Inhalte des Werks: eine Darstellung des Putschs von 1923 und eine radikale Kritik des politischen »Systems«. Das ganze Vorhaben wurde daher gestoppt und das Projekt im März/April 1925 grundlegend neu konzipiert. Das Buch sollte nicht unnötig provozieren und wurde in zwei Bände aufgeteilt. Mit der Entscheidung, den ersten Band bereits mit der Schilderung der »Gründungsversammlung« der NSDAP vom 24. Februar 1920 zu beenden, wurde ein neuer Titel notwendig. Der bisherige: »4 ½ Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit« war ein demonstrativer Verweis auf den Ersten Weltkrieg, dessen Dauer von viereinhalb Jahren symbolisch mit der Dauer von Hitlers politischem Engagement gleichgesetzt werden sollte. Übrig blieben davon schließlich nur noch zwei Schlüsselbegriffe: »Kampf« im Haupt- und »Abrechnung« im Untertitel. 55

Nachdem Hitler das gesamte Konzept umgestaltet, einzelne Kapitel überarbeitet und Ausführungen zu aktuellen Entwicklungen eingefügt hatte, beendete er die Arbeit am ersten Band im Juni 1925. Mit einem Jahr Verspätung kam das Buch schließlich am 18. Juli 1925 auf den Markt – ein eigentlich ungünstiger Zeitpunkt, da fast zeitgleich Erinnerungsbücher von weiteren prominenten Häftlingen erschienen – insbesondere Aus fünf Jahren Festungshaft von Anton Graf von Arco auf Valley, dem Mörder Kurt Eisners, sowie In französischen Kerkern von Gustav Ritter und Edler von Oetinger, den die französischen Besatzungsbehörden wegen seiner Teilnahme am Ruhrkampf verhaftet hatten. Angesichts der zahlreichen Schwierigkeiten der vergangenen Monate nahmen Hitler und der Eher-Verlag dies jedoch in Kauf. Denn die wiederholten Ankündigungen des Buchs seit Sommer 1924 ließen Hitlers Gegner bereits spotten, dieser würde wohl nie ein Buch zustande bringen. 56

Im Hochgefühl dieses Erfolgs begann Hitler relativ bald mit der Arbeit am zweiten Band. Anfang August 1925 zog er sich zunächst für vier Wochen nach Berchtesgaden zurück. Wieder glaubte er an eine rasche Fertigstellung, zumal Teile des Buchs, die ursprünglich für den ersten Band vorgesehen waren, bereits vorlagen. 57 Doch auch das erwies sich als Fehleinschätzung. Mehr und mehr wurde Hitler im Herbst 1925 durch die Konflikte innerhalb der völkischen Bewegung und in der NSDAP in Anspruch genommen. Das betraf etwa die Gewerkschaftsfrage oder den Streit mit der Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gaue der NSDAP um Gregor Straßer und Joseph Goebbels. Als die bayerische Regierung im November 1925 auch noch erwog, Hitlers Bewährungsfrist aufzuheben, kam die Arbeit am zweiten Band so gut wie zum Stillstand. 58 Erst im Februar 1926 erregte das Buchprojekt wieder kurzfristig Aufmerksamkeit, als Hitler die Broschüre Die Südtiroler Frage und das Deutsche Bündnisproblem veröffentlichte – ein Vorabdruck des Kapitels Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege (II/13). Ein bei dieser Gelegenheit angekündigter zweiter Sonderdruck über das Verhältnis zu Russland sollte dagegen nie erscheinen. Vielmehr verarbeitete Hitler im Frühjahr 1926 in seinem Buch seine Erfahrungen bei den verschiedenen innerparteilichen und innervölkischen Kon­flikten. 59 Hier konnte er nun aus einer Position der Stärke schreiben, hatte er doch im März und April 1926 seinen ideologischen Führungsanspruch innerhalb der NSDAP durchgesetzt und sich von den meisten renitenten Widersachern getrennt. Einen formalen Abschluss fanden all diese Kon­flikte auf dem Parteitag in Weimar Anfang Juli 1926, sodass Hitler danach seine politischen und propagandistischen Aktivitäten auf ein Minimum beschränken konnte. Dies fiel ihm umso leichter, als sich sein Redeverbot seit Herbst 1925 nicht mehr allein auf Bayern erstreckte; die meisten deutschen Länder hatten diese Regelung übernommen.

In Berchtesgaden und am Obersalzberg arbeitete Hitler im Sommer und Herbst 1926 konzentriert an den offenen Kapiteln, von denen einige noch aus der Frühphase des Entstehungsprozesses von Mein Kampf stammten – etwa die Kapitel Der Kampf der ersten Zeit – Die Bedeutung der Rede (II/6) und Das Ringen mit der roten Front (II/7), die eigentlich den ersten Band fortgesetzt hätten. Stattdessen sollte der zweite Band nun mit fünf programmatischen Kapiteln beginnen, während die Parteigeschichte erst im Kapitel II/6 wieder aufgegriffen wird. Im Vergleich zum ersten Band hatten sich Hitlers Arbeitsbedingungen merklich verbessert, nicht nur durch die Sekretärin, die ihm nun zur Verfügung stand. Er vermied zudem den Fehler, das Erscheinen des Buchs ständig anzukündigen, ohne die genannten Termine dann auch einhalten zu können. Der Verlag drängte lediglich darauf, den zweiten Band von Mein Kampf noch vor Weihnachten 1926 auf den Markt zu bringen. Im September und Oktober 1926 beendete Hitler in einer intensiven Arbeitsphase schließlich die letzten noch unfertigen Kapitel. In einem Brief an ihren Ehemann vom 26. September 1926 berichtete Hitlers Förderin Elsa Bruckmann: »Hitler war heute früh noch ein Stündchen da u[nd] hat mir richtig interessant im ganz kurzen e[inen] Überblick über s[einen] II. Band gegeben, an dem noch 60 70 Seiten fehlen; 180 hat er in der einen Woche diktiert u[nd] ich glaube: sehr gut.«60 Der Abschluss der Arbeiten erfolgte spätestens Anfang November 1926. Die Polizei, die Hitler und die NSDAP kontinuierlich überwachte, notierte am 15. November 1926: »Der Führer der Partei, Adolf Hitler, trat in der letzten Zeit nur wenig in Erscheinung. Längere Zeit hielt er sich in Berchtesgaden auf, wo er den zweiten Teil seines Werkes ›Mein Kampf‹ beendete. Das Buch befindet sich gegenwärtig bereits in Druck.«61 Am 10. Dezember 1926 erschien schließlich der zweite Band.

Hitler hatte damit eine Schrift veröffentlicht, die er im Wesentlichen selbst verfasst hatte; Unterstützung und Hilfestellung erhielt er lediglich in einem Umfang, wie es für solche Publikationen üblich war und ist. 62 Bei der inhaltlichen Neuausrichtung des Buchs im Frühjahr 1925 stand ihm vor allem Ilse Pröhl, die spätere Frau von Rudolf Heß, zur Seite. Die Lektorierung des ersten Bands übernahm Josef Stolzing-Cerny, ein völkischer Autor und Redakteur beim Völkischen Beobachter. 63 Er verfasste auch die Kolumnentitel des ersten Bands – sehr zum Ärger von Rudolf Heß, der diese für völlig misslungen hielt. Im zweiten Band übernahm Heß diese Arbeit dann selbst. 64

Einen Abschluss fand die Entstehungsgeschichte von Mein Kampf in gewissem Sinn erst im Frühjahr 1930.  Auch wenn bis dahin bei den verschiedenen Auflagen bereits zahlreiche, vor allem stilistische Korrekturen vorgenommen worden waren, so entstand 1930 nochmals etwas Neues: Die beiden bis dahin getrennt erschienenen Bände wurden zu einem Band zusammengefügt und als »Volksausgabe« herausgegeben. Sie erschien am 7. Mai 1930 und entwickelte sich in den folgenden Jahren zur Standardausgabe, die alle anderen Ausgaben von Mein Kampf zahlenmäßig weit hinter sich ließ. Verbunden damit war nicht nur eine deutliche Senkung des bis dahin beträchtlichen Preises von zwölf Reichsmark pro Band auf acht Reichsmark für die Gesamtausgabe, sondern auch die mit Abstand umfangreichste Neulektorierung in der Geschichte des Buchs. 65 Rudolf Heß und seine Frau Ilse waren damit über Monate beschäftigt, wie aus einem Brief von Heß vom 16. April 1930 an seine Eltern hervorgeht: »Nächste Woche hoffe ich fertig zu werden mit den langwierigen Korrekturen der Neuauflage der beiden Bände des Tribunen [Hitler] (billige, durchgearbeitete Volksausgabe), an denen ich seit Weihnachten – mit Ilse zusammen teilweise – arbeite.«66 Auch wenn bis 1944 noch zahlreiche Ausgaben erschienen und immer wieder kleinere Korrekturen und Änderungen an dem Buch vorgenommen wurden – auch durch die sukzessive Umstellung von der Fraktur- auf die Antiqua-Schrift seit 1939 –, so hatte Mein Kampf mit dieser »Volksausgabe« doch seine abschließende Form gefunden.

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Über den Umstand, dass Hitler Mein Kampf alleine geschrieben hat, sollte nie in Vergessenheit geraten, dass er im Festungsgefängnis in Landsberg am Lech, wo er vom 11.  November 1923 bis zum 20. Dezember 1924 inhaftiert war, sehr spezielle Haft- und Arbeitsbedingungen vorfand. Ohne diese Haftbedingungen, die »eher einem Hotel als einem Gefängnis glichen«67, wäre es vermutlich nie zu diesem Buch gekommen. Die Festungshaft galt als die mildeste Form staatlichen Freiheitsentzugs, die traditionell bei Häftlingen Anwendung fand, denen bescheinigt wurde, in »ehrenvoller« Absicht gehandelt zu haben. Daher galt diese Form der Haft nicht als entehrende; der Häftling verlor nicht seine Bürgerrechte. Hinzu kamen zahlreiche Erleichterungen: Privat- statt Anstaltskleidung, Freizügigkeit innerhalb des Gefängnisses, Kontakt mit allen, ihm vertrauten Mitgefangenen, Selbstverpflegung, Trennung von den übrigen Gefängnisinsassen, »Festungshausknechte« für alle anfallenden Hausarbeiten, Zulassung des Briefverkehrs (wenn auch unter Zensur) sowie der regelmäßige Empfang von Besuchen unter Anwesenheit eines Wachmanns.

Die relativ großzügige und moderne Anlage der Haftanstalt in Landsberg am Lech, erbaut zwischen 1904 und 1908, bot für diese spezielle Form des Strafvollzugs ideale Voraussetzungen. Zu ihr gehörte sogar ein »Festungshof« mit Garten. Hinzu kam, dass sich der mit Hitler sympathisierende Direktor der Anstalt, Oberregierungsrat Otto Leybold, alle Mühe gab, Hitler die Haft so weit wie möglich zu erleichtern. Hitlers Zelle im 1.  Stock entsprach in ihrer Einrichtung einem einfachen Hotelzimmer, seine Gefolgsleute Rudolf Heß, Hermann Kriebel, Emil Maurice und Friedrich Weber hatten ihre Zellen in unmittelbarer Nähe. In Erkenntnis der nach wie vor existenten Hierarchien bezeichnete das »Fußvolk« des Putschs, das im Erdgeschoss untergebracht war, diesen Zellentrakt als den »Feldherrn­hügel«. Als am 28. April 1924 weitere 40 Mitglieder des Stoßtrupps Adolf Hitler in das Gefängnis kamen, wurde es endgültig zum informellen Zen­trum der NS-Bewegung.

Da die Festungshäftlinge von jeder Arbeit freigestellt waren, konnten sie ihre Zeit nach eigenem Belieben gestalten. Möglich waren Spaziergänge, Gesellschaftsspiele, Unterredungen, Lektüre, Schreibarbeiten, Sport und gemeinsame Mahlzeiten. Trotz offiziellen Verbots waren die meisten Zellen und Aufenthaltsräume – unter stillschweigender Duldung der Gefängnisdirektion – mit NS-Symbolen wie etwa Hakenkreuzfahnen geschmückt. Der Nikotin- und Alkoholkonsum erinnerte eher an ein Lokal als an ein Gefängnis. Auch von der Möglichkeit der Selbstverpflegung wurde reichlich Gebrauch gemacht. Die Aufzeichnungen über Hitlers Haftkonto dokumentieren regelmäßig Abbuchungen zum Kauf von zusätzlichen Lebensmitteln wie Eier, Butter, Zitronen, Nudeln, Zucker, Zimt, Bohnenkaffee sowie – überraschenderweise – immer wieder ein, zwei Flaschen Bier. Auch Haushaltsgeräte wie Geschirr und Töpfe wurden angeschafft. 68 Sogar größere Käufe wurden damals schon von Hitler erwogen, diese allerdings erst für die Zeit nach seiner Haft: Am 13. September 1924 schrieb er an Jakob Werlin – der ab 1934 im Vorstand der Daimler-Benz AG sitzen und 1942 »Generalinspekteur des Führers für das Kraftfahrwesen« werden sollte –, »zu welchem Preis ich den [Benz] 11/40 bzw. den 16/50 Wagen haben könnte und ob auch ein 11/40 sofort lieferbar wäre«. Wie Hitler bei dieser Gelegenheit bemerkte: »Selbstverständlich spielen da einige tausend Mark schon eine sehr große Rolle.«69

Bis dahin wurde Hitler von seinen Verehrern mit Präsenten förmlich
überschüttet. Überreichte Richard Dingeldey, später Gründungsmitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebunds, am 27. November 1923 noch »Lebensmittel in angemessener Menge«, so waren Hitlers Vereh­rerinnen meist spendabler. Die Geschenke: Blumen, Wein, Kuchen, Pralinen und Bücher – am 29. Dezember 1923 erhielt Hitler etwa von Helene Bechstein eine Ausgabe von Johannes Scherrs Deutsche Kultur- und Sitten­geschichte – erreichten ein solches Ausmaß, dass weitere Zellen für sie freigeräumt werden mussten. Wie man sich Hitlers Haft vorzustellen hat, illustriert auch ein Besuch seiner Münchner Vermieterin Maria Reichert am 5. Dezember 1923: Sie erschien in Begleitung von Hitlers Schäferhund.

Ob ohne diese nicht abreißende Unterstützung Mein Kampf je entstanden wäre? Sicher ist, dass der Kreis der Anhänger, Freunde und Sympathisanten zumindest die materiellen Voraussetzungen dafür schuf: Schreibmaschinen, ein geeigneter Schreibtisch und Schreibpapier – jede Seite verziert mit einem Hakenkreuz –, alles kam von außen. Schließlich bewiesen Hitler auch die Berge an Post, die er von Anhängern und Sympathisanten erhielt, dass er weder vergessen worden war, noch dass Veranlassung zu bestehen schien, sein bisheriges Tun irgendwie infrage zu stellen. Und noch etwas ermöglichte der Postverkehr: Obwohl er in Landsberg eigentlich der Zensur unterlag, gelang es immer wieder, Briefe aus der »Festung« an die Nachfolgeorganisationen der verbotenen NSDAP zu schmuggeln und auf diese Weise zumindest eine gewisse Koordination dieses politischen Lagers sicherzustellen.

Charakteristisch für Hitlers Festungshaft war ferner ein nicht enden wollender Strom von Besuchern, der erst abebbte, als sich Hitler im Sommer 1924 ganz auf seine Arbeit an Mein Kampf konzentrierte. Offiziell gewähr­te die »Hausordnung« jedem Inhaftierten eine wöchentliche Besuchszeit von sechs Stunden. Im Falle Hitlers wurde diese jedoch anstandslos verlängert. Um sie nicht noch zusätzlich auszudehnen, wurde Hitler bei jedem Besucher gefragt, ob und wie lange er ihn überhaupt zu empfangen wünsche. Insgesamt empfing Hitler während seiner Haft in Landsberg 345 Personen an 524 Terminen – Vertreter aus Politik und Wirtschaft, Geistliche, aber auch uns heute völlig unbekannte Personen. Viele kamen wie etwa Hermann Göring nur ein einziges Mal, Ernst Röhm war dagegen siebenmal in Landsberg, Erich Ludendorff sogar neunmal. An manchen Tagen, beispielsweise am 16. April 1924, empfing Hitler 15 Personen an acht verschiedenen Terminen. Ein besonders großer Andrang herrschte freilich am 20. April 1924, Hitlers 35. Geburtstag, als ihm unter anderem eine Delegation von sechs Vertretern der Großdeutschen Volksgemeinschaft die Aufwartung machte.

In deutlichem Kontrast zu den komfortablen Haftbedingungen stehen die späteren nationalsozialistischen Darstellungen, wonach die Gefangenen in Landsberg »schlimme« und »trübe Tage« erlebt hätten. 70 Zwei ihrer Autoren berichteten als Augenzeugen – Hans Kallenbach als Mitgefangener (Mit Adolf Hitler auf Festung Landsberg, München 1933), Otto Lurker, später SS-Sturmführer, als »Strafanstaltswachtmeister« (Hitler hinter Festungsmauern, Berlin 1933). Kallenbach stilisierte die moderate Anstaltsordnung zu einer »teuflische[n] Erfindung«, die »je nach Laune und Bedarf […], stets aber zum Nachteil des Häftlings ausgelegt werden« konnte; ein Mitgefangener sei daraufhin gar an einer »Haftpsychose« erkrankt. 71 Bei dem Justizvollzugsbeamten Lurker fehlt verständlicherweise eine solche Kritik; dafür grenzt seine Schilderung Hitlers ans Hagiografische: Ein Mensch »ohne jede aufdringliche Eitelkeit« und von »einer großen Ordnungsliebe« sei Hitler gewesen, »bescheiden in seinen Ansprüchen«. Auf seine Mitgefangenen, so Lurker, übte er »einen autoritativen Eindruck [sic!] aus«. »Der von Hitlers Persönlichkeit ausströmende Geist soldatischer Disziplin und Unterordnung zwang auch seine Schicksalsgenossen in seinen Bann und lehrte sie, ihr Geschick […] zu ertragen.« Obwohl die Haft für Hitler und seine Mitverschwörer nicht einfach gewesen sei, sei Hitlers Tag »von Früh bis Abend von schriftlichen Arbeiten« ausgefüllt gewesen. 72

Niemand hat die Bedeutung der Landsberger Haftzeit genauer erfasst als Hitler selbst: »Landsberg war meine Hochschule auf Staatskosten«, erklärte er später gegenüber Hans Frank. 73 Dies mit einer systematischen Ausbildung zu verwechseln, wäre freilich grundfalsch. Charakteristisch für Hitlers Weltanschauung sowie für seine Politik war vielmehr eine »infantile Voraussetzungslosigkeit im Umgang mit der Welt«. 74 Mit Wissenschaft hatte dies auch nicht ansatzweise etwas zu tun. Hitler suchte nach Bestätigung seiner Vorurteile, nicht nach Erkenntnis. Aber: Landsberg war eine Unterbrechung, ein überschaubarer, fast schon gemütlicher Ruhe­pol in einem Leben, das bis dahin geprägt gewesen war von Misserfolg und Bummelei, Ruhelosigkeit und Aktivismus. Erst die Zäsur der Haft wurde zur Voraussetzung dafür, dass Hitler all das, was er bisher erlebt, erdacht und gelesen hatte, in Mein Kampf systematisieren und zusammenfassen konnte. 75