Keine doppelten Gewerkschaften <span class="pagenumber">[256]</span>

29 Entgegen Hitlers Behauptung waren die Freien Gewerkschaften nicht »international« ausgerichtet. Nachdem sie bereits 1914 durch ihren Verzicht auf Streiks die Politik des »Burgfriedens« mitgetragen hatten, unterstützten sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs und in der Gründungsphase der Weimarer Republik eine Politik, die weitergehende, revolutionäre Umwälzungen und damit eine Annäherung an die russischen Bolschewiki ablehnte. Zwar arbeiteten die Freien Gewerkschaften während der Weimarer Republik im Internationalen Gewerkschaftsbund mit, maßgebend für ihr politisches Handeln blieb jedoch stets der nationale Rahmen. Darüber hinaus waren sie scharfe Gegner der kommunistischen Roten Gewerkschafts-Internationale, die 1921 in Moskau gegründet wurde.

Vgl. Tosstorff, Profintern, bes.S. 535 – 589; Goethem, Amsterdam, S. 13 – 132; Leonhard, Büchse, S. 516; Kap. I/12, Anm. 43; Anm. 2, 3, 40 in diesem Kapitel.

30 Hitler reagiert hier auch auf zeitgenössische Vorwürfe, die NSDAP werde maßgeblich von Industriellen gefördert, da ihre geringen Mitgliedsbeiträge bei Weitem nicht ihren finanziellen Bedarf decken könnten. In Wirklichkeit war die finanzielle Situation der NSDAP ab 1922 keineswegs so prekär, wie sie Hitler darstellt. Obendrein hatte er im Kapitel II/11 die Lage selbst wesentlich positiver geschildert. So konnte die NSDAP im November und Dezember 1922 München mit einer bis dahin beispiellosen Versammlungskampagne überziehen. Hinzu kam im Januar 1923 ein erster groß angelegter, dreitägiger Parteitag der NSDAP. Vor allem war es jedoch im Herbst 1922 Hitlers vordringlichstes Anliegen, den Völkischen Beobachter zu einer Tageszeitung mit externen Geschäftsstellen und einer Auflage von 25 – 30.000 Exemplaren auszubauen. Weitere Maßnahmen wie die Anschaffung von Lastkraftwagen sollten hinzukommen. Hitler rechnete in einer Denkschrift vom Oktober 1922 für den Ausbau des Propagandaapparats mit einem Finanzbedarf von gut 53 Millionen Mark (rund 95.000 Goldmark) – ein aus seiner Sicht »lächerlicher Betrag«.

Zur Finanzierung standen der NSDAP damals nicht nur ihre Mitgliedsbeiträge zur Verfügung. Selbst wenn für die Zeitgenossen das Ausmaß der Spenden nur sehr schwer festzustellen war, so dürften diese seit 1922 reichlicher geflossen sein. Wohlhabende Familien wie Bechstein, Bruckmann oder Hanfstaengl zählten schon seit der Frühzeit zu den Förderern der Partei; im Lauf des Jahres 1922 konnte Hitler durch Vorträge vor dem Nationalklub von 1919 und vor dem Juni-Klub auch erste Kontakte zu Berliner Großindustriellen wie Ernst von Borsig und anderen knüpfen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Emil Gansser, ein Mitarbeiter der Siemens-Werke. Hinzu kam seit Herbst 1922 die Unterstützung durch den Bayerischen Industriellen-Verband. Über Max von Scheubner-Richter entstanden seit 1922 zudem Kontakte zu wohlhabenden russischen Exilanten. Auch flossen seit Ende 1922 Gelder aus der Schweiz, die vor allem während der Hyperinflation den hauptamtlichen Apparat der NSDAP absicherten. Weitere Verbindungen, vor allem nach Italien und in die USA, vermittelte Kurt Lüdecke. Die Polizeidirektion München hielt am 18. 10. 1922 fest, die NSDAP verfüge »über außerordentlich große Mittel«. Auch das Bayerische Ministerium des Innern nahm damals an, »dass die nationalsoz. Arbeiterpartei die erforderlichen Geldmittel wohl in der Hauptsache aus Kreisen der Industrie und vielleicht auch der Großlandwirtschaft erhält. [...] Der Zweck der Industrie ist leicht ersichtlich. Er wird darin bestehen, nicht nur ein besonderes Bollwerk gegen den ›Bolschewismus‹ zu schaffen, sondern namentlich den 8 Stundentag zu beseitigen, wie dieses ja in Italien von Mussolini verfügt worden ist.« Der Völkische Beobachter berichtete am 31. 1. 1923 über den Kassenbericht der Partei, der zuvor auf der Generalmitgliederversammlung vorgestellt worden war: »Der Umsatz ist inzwischen in die Millionen gestiegen. Die Spezialzusammenstellung der Ein- und Ausgaben und die Bilanz des abgelaufenen Jahres gab ein Bild von der musterhaften Ordnung unserer Finanzen.« Darüber hinaus brachte die »Adolf-Hitler-Spende« zu Hitlers Geburtstag am 20. 4. 1923 über 19 Millionen Mark und zusätzlich mehr als zwei Millionen Mark in wertvollen Devisen ein. Die Behauptung, fehlende finanzielle Mittel würden den Aufbau einer eigenen nationalsozialistischen Gewerkschaft verhindern, wurde daher von deren Befürwortern immer wieder zurückgewiesen.

Vgl. StA München, Pol. Dir. 6708: Bericht der Polizeidirektion München vom 18. 10. 1922; BayHStA, MInn 81573; Süddeutsche Demokratische Korrespondenz vom 16. 12. 1922 und 22. 12. 1922, »Die Geldgeber des Herrn Hitler«; VB vom 31. 1. 1923, »Generalmitgliederversammlung«; vom 22./23. 4. 1923, »Adolf Hitlers Ehrentag«; vom 25. 4. 1923, »Hitler-Spende verlängert!«; Fränkischer Kurier vom 24. 10. 1924, »Hitler gegen seine internationalen Verleumder«; VB vom 10. 4. 1926, »Zur Gewerkschaftsfrage«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 411, 418, bes.S. 723; Tyrell (Hrsg.), Führer, Dok. 14; Kampffmeyer, Nationalsozialismus, S. 35 – 41; Hitler und Kahr, Bd. 2, S. 97 – 105; Vogt, Finanzierung, S. 236 – 239; Pool/ Pool, Wegbereiter, S. 42 – 79, 103 – 118; Gossweiler, Kapital, S. 329 – 365; Turner, Großunternehmer, S. 68 – 72; Dodenhoeft, Biskupskij, S. 220 f.; Large, München, S. 194 – 198; Scheck, Funding, S. 804 – 808; Zelnhefer, Reichsparteitage, S. 20 – 25; Zdral, Aufstieg, S. 9 – 15, 57 f., 76 – 82; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 237 – 243; Martynkewicz, Salon, S. 376 – 382; Weiß, Antimoderne, S. 264 – 267; Kap. II/11, Anm. 91.

32 Ähnlich hatte Hitler schon in seinem Aufsatz Warum mußte ein 8. November kommen? vom April 1924 argumentiert. Die Verhältnisse lagen jedoch anders: Sowohl die Christlichen als auch die Freien Gewerkschaften waren seit Anfang 1923 in den von Cuno initiierten passiven Widerstand gegen die französische und belgische Besetzung des Ruhrgebiets eingebunden. Wöchentlich fanden dazu Besprechungen zwischen Regierungs- und Gewerkschaftsvertretern statt. Vor allem für die Freien Gewerkschaften bedeutete der »Ruhrkampf« trotz der Unterstützung durch das Reich eine kaum zu bewältigende finanzielle Herausforderung, die sie an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Der durch die Kooperation entstandene Eindruck der Regierungsfreundlichkeit schwächte die Gewerkschaften zusätzlich. Zudem wurde die direkte Unterstützung von Erwerbslosen und Kurzarbeitern durch die Regierung und die lokalen Behörden zu einem gravierenden Problem für die Gewerkschaften, da dies ihre Bedeutung für die Arbeiterschaft infrage stellte. Die Freien Gewerkschaften distanzierten sich daher seit Ende März 1923 zunehmend von der Regierung Cuno, zumal diese nicht bereit war, Verhandlungen mit Frankreich aufzunehmen, um den »Ruhrkampf« in absehbarer Zeit zu beenden. Die Christlichen Gewerkschaften hingegen unterstützten die Regierung weiterhin. Insgesamt wurden die Gewerkschaften immer stärker zugunsten der Industrie in den Hintergrund gedrängt, je länger der Konflikt andauerte. Dies zeigte sich schließlich auch in den drastisch auseinanderklaffenden Entschädigungszahlungen für die Wirtschaft und die Arbeitnehmer. Von Berlin ausgehende und von der KPD unterstützte Streiks erhöhten den Druck auf Cuno, der am 12. 8. 1923 zurücktrat. Hitler stellte sich mit seiner Polemik auch gegen Darstellungen im Völkischen Beobachter, der noch 1926 auf die katastrophale finanzielle Lage der Freien Gewerkschaften hinwies. Auch im Reichswart wurde der Einsatz der Gewerkschaften im »Ruhrkampf« gewürdigt.

Vgl. VB vom 29./30. 4. 1923, »Kundgebung der christlichen Ruhrgewerkschaften«; Reichswart vom 9. 1. 1926, »Fort mit den Gewerkschaften?«; VB vom 10. 4. 1926, »Zur Gewerkschaftsfrage«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 626, bes.S. 1224 f.; Potthoff, Gewerkschaften (1979), S. 317 – 340; Rupieper, Government; Schneider, Gewerkschaften, S. 522 – 525; Ruck, Gewerkschaften, S. 160 – 167, 198 – 213, 295 – 334, 420 – 434; Potthoff, Gewerkschaften (1987), S. 241 f.; Kleinschmidt, Rekonstruktion, S. 140 – 142; Weber, Sozialpartnerschaft, S. 568 – 590; Kap. II/15, Anm. 47, 59.

strebungen, sondern nur die Aufrechterhaltung des absoluten alleinigen Rechtes.28

Es gab nun#1939: nun ersetzt durch: nur;
1944: nun zwei Wege, zu einer solchen Entwicklung zu kommen.

1. Man konnte eine eigene Gewerkschaft gründen und dann allmählich den Kampf gegen die internationalen marxistischen Gewerkschaften29 aufnehmen, oder man konnte

2. in die marxistischen Gewerkschaften eindringen und diese selbst mit dem neuen Geiste zu erfüllen trachten bzw.#1929: bzw. ersetzt durch: beziehungsweise zu Instrumenten der neuen Gedankenwelt#1937: Gedankenwelt ersetzt durch: Gedanken;
1939: Gedankenwelt umformen.

Gegen den ersten Weg sprachen folgende Bedenken: Unsere finanziellen Schwierigkeiten waren zu jener Zeit immer noch sehr erheblich, die Mittel, die uns zur Verfügung standen, ganz unbedeutend.30 Die allmählich immer mehr um sich greifende Inflation erschwerte die Lage noch dadurch, daß in diesen Jahren von einem greifbaren materiellen Nutzen der Gewerkschaft für das Mitglied kaum hätte gesprochen werden können. Der einzelne Arbeiter hatte von solchem Gesichtspunkt aus betrachtet, damals gar keinen Grund, in die Gewerkschaft einzubezahlen. Selbst die schon bestehenden marxistischen waren fast am Zusammenbruch, bis ihnen durch die geniale Ruhraktion des Herrn von#1929: gestrichen: von Cuno31 die Millionen plötzlich in den Schoß fielen. Dieser sogenannte »nationale« Reichskanzler darf als der Retter der marxistischen Gewerkschaften bezeichnet werden.32

Mit solchen finanziellen Möglichkeiten durften wir damals nicht rechnen; und es konnte niemanden verlocken, in eine neue Gewerkschaft einzutreten, die ihm infolge ihrer finanziellen Ohnmacht nicht das geringste zu bieten vermocht hätte.33 Andererseits#1944: Andererseits ersetzt durch: Anderseits mußte#1930: mußte ersetzt durch: muß;
1944: mußte ich mich unbedingt dagegen wehren, in einer solchen neuen Organisation nur ein Druckpöstchen für mehr oder minder große Geister zu schaffen.

Überhaupt spielte die Personenfrage mit die allergrößte Rolle. Ich hatte damals nicht einen einzigen Kopf, dem ich die Lösung dieser gewaltigen Aufgabe zugetraut hätte. Wer in jener Zeit die marxistischen Gewerkschaften wirklich zertrüm-