Die Politisierung der Gewerkschaften <span class="pagenumber">[49]</span>

132 Einen ganz anderen Eindruck von der vermeintlich klassenkämpferischen, revolutionären Sozialdemokratie Österreich-Ungarns hatte Leo Trotzki. Die österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer, Max Adler und Karl Renner – so Trotzki in seinen Erinnerungen – seien zwar sehr gebildete Menschen gewesen, aber keine Revolutionäre. »Mehr noch: sie stellten einen Menschentypus dar, der dem Typus des Revolutionärs entgegengesetzt war.« Trotzki hatte bei Begegnungen mit diesen Arbeiterführern den Eindruck, »als vernähme ich schon in der Vibration ihrer Stimmen das Philistertum«. Über Renner bemerkte er: »Mir wurde klar, daß dieser Mensch von der revolutionären Dialektik ebenso weit entfernt war wie der konservativste der ägyptischen Pharaonen.« Victor Adler habe sich an alles angepasst, selbst an den Nationalismus. Es sei ihm daher – so Trotzki weiter – trotz seiner Mitgliedschaft in der österreichischen Sozialdemokratie nicht gelungen, einen wirklichen Kontakt zu diesen Politikern aufzubauen, während ihm das mit den Arbeitern und einfachen Mitgliedern bei Versammlungen oder Demonstrationen sofort gelungen sei.

Vgl. Trotzki, Leben, S. 196 – 203, Zitate S. 198 f.; Anm. 88 in diesem Kapitel.

133 Hinter dieser Behauptung steht der in rechten Publikationen häufig gegen die Sozialdemokratie erhobene Vorwurf, sie habe an einer Änderung der Verhältnisse durch politische Reformen kein Interesse gehabt. So hieß es etwa in einem Artikel der völkischen Zeitung Der Reichswart vom 13. 8. 1921, die soziale Gesetzgebung des Kaiserreichs sei »von den Sozialdemokraten, obgleich man ihre Früchte gerne einheimste, herabgesetzt, geschmäht und verurteilt« worden, um sie »der Arbeiterwelt zu verekeln«. Diese Vorwürfe waren zwar viel zu einseitig, aber nicht völlig abwegig. Auf den SPD-Parteitagen von 1893 und 1894 votierte etwa eine große Mehrheit gegen Anträge auf Einführung einer staatlichen Arbeitslosenversicherung – eine Entscheidung, hinter der auch die marxistische Theorie stand, die Verelendung der Arbeiter würde eine »industrielle Reservearmee« schaffen und damit den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems beschleunigen; sozialpolitische Maßnahmen würden hingegen nur die bürgerliche Gesellschaftsordnung stabilisieren und damit die systematische Unterdrückung des Proletariats zementieren. Dass Bismarcks Sozialgesetzgebung – 1883: Krankenversicherung, 1884: Unfallversicherung, 1889: Alters- und Invalidenversicherung – im Kern dazu dienen sollte, die Attraktivität der aufstrebenden politischen Arbeiterbewegung abzuschwächen und die Autorität der Regierung zu festigen, wurde von der SPD früh erkannt.

Vgl. Der Reichswart vom 13. 8. 1921, »Ausschaltung der Arbeiterschaft«; Gall, Bismarck (1980), S. 648 – 650; Führer, Arbeitslosigkeit, S. 51 – 69.

Schon um die Jahrhundertwende hatte die Gewerkschaftsbewegung längst aufgehört, ihrer# 1939: ihrer ersetzt durch: ihren:
1944: ihrer früheren Aufgabe# 1939: Aufgabe ersetzt durch: Aufgaben;
1944: Aufgabe zu dienen. Von Jahr zu Jahr war sie mehr und mehr in den Bannkreis sozialdemokratischer Politik geraten, um endlich nur noch als Ramme des Klassenkampfes Anwendung zu finden.131 Sie sollte den ganzen, mühselig aufgebauten Wirtschaftskörper durch dauernde Stöße endlich zum Einsturz bringen, um so dem Staatsbau, nach Entzug seiner wirtschaftlichen Grundmauern, das gleiche Schicksal leichter zufügen zu können.132 Die Vertretung aller wirklichen Bedürfnisse der Arbeiterschaft kam damit immer weniger in Frage, bis die politische Klugheit es endlich überhaupt nicht mehr als wünschenswert erscheinen ließ, die sozialen und gar kulturellen Nöte der breiten Masse zu beheben, da man sonst ja# 1937: eingefügt: gar; 1939: wieder gestrichen: gar; 1944: ja ersetzt durch: gar Gefahr lief, diese, in ihren Wünschen befriedigt, nicht mehr als willenlose Kampftruppe ewig weiterbenützen zu können.133

Solche Furcht jagte eine derartige, ahnungsvoll gewitterte Entwicklung den klassenkämpferischen Führern ein# 1926: Solche Furcht jagte eine derartige, ahnungsvoll gewitterte Entwicklung den klassenkämpferischen Führern ein ersetzt durch: Eine derartige, ahnungsvoll gewitterte Entwicklung jagte den klassenkämpferischen Führern solche Furcht ein , daß sie endlich kurzerhand jede wirklich segensvolle soziale Hebung ablehnten, ja auf das entschlossenste dagegen Stellung nahmen.

Um eine Begründung eines vermeintlich so unverständlichen Verhaltens brauchte ihnen dabei nie bange zu sein.

Indem man die Forderungen immer höher spannte, erschien die mögliche Erfüllung derselben so klein und unbedeutend, daß man der Masse jederzeit einzureden vermochte, es handle sich hierbei nur um den teuflischen Versuch, durch solch eine lächerliche Befriedigung heiligster Anrechte die Stoßkraft der Arbeiterschaft auf billige Weise zu schwächen, ja wenn möglich lahmzulegen.134 Bei der geringen Denkfähigkeit der breiten Masse135 wundere man sich nicht über den Erfolg.

Im bürgerlichen Lager war man empört über solche ersichtliche Unwahrhaftigkeit sozialdemokratischer Taktik, ohne daraus aber auch nur die geringsten Schlüsse zu ziehen für die Richtlinien eines eigenen Handelns.136 Gerade die Furcht der Sozialdemokratie vor jeder tatsächlichen Hebung der Arbeiterschaft aus der Tiefe ihres bisherigen kulturellen und sozialen Elends hätte zu größten An-