Der Trick der »Weltpresse« <span class="pagenumber">[59]</span>

188 Die Assoziation des »Fremden« mit dem des »Schädlings« entstand parallel zur modernen Biologie und ihrer Erforschung der Schädlingsbekämpfung seit den 1840er Jahren. Die Darstellung der Juden als »Schmarotzer« oder »Bazillen«, die Krankheiten in den ansonsten gesunden »Volkskörper« hineintragen würden, war gerade während der Einwanderungswellen osteuropäischer, jüdischer Flüchtlinge nach Deutschland und Österreich-Ungarn seit den 1880er Jahren ein Topos vieler antisemitischer Schriften. Laut Theodor Fritschs einflussreichem Handbuch der Judenfrage unterstand »der Jude […] dem Gesetz alles Ungeziefers«, das dort ideal gedeihe, »wo Trägheit, Unreinlichkeit und Krankheit« sei. Auch taucht in der antisemitischen Literatur immer wieder die Forderung nach einer »Entgiftung« durch die Entfernung der Juden auf. 1921 behauptete etwa Hans Freiherr von Liebig in der Zeitschrift Auf Vorposten, der Sturz der deutschen Fürsten im Jahr 1918 sei ausschließlich auf äußere »Giftwirkungen« zurückzuführen, namentlich Wirkungen »des Einflusses der Judenschaft! Eingehende Kenntnis dieses Giftes bildet die erste Vorbedingung für eine Gesundung unseres Volkskörpers.«

Vgl. Fritsch (Hrsg.), Handbuch, Zitat S. 642; Liek, Wesen, Zitat S. 50 (Herv. i. Orig.); Jansen, »Schädlinge«, bes.S. 249 – 255; Kap. II/8, Anm. 18.

189 Vor 1914 war die Vorstellung weitverbreitet, Juden könnten an ihrem Namen oder Aussehen erkannt werden; auf Grundlage dieser vagen Kriterien wurden dann Schlüsse über die Präsenz und den Einfluss einer Gruppe gezogen, die sich selbst in der Regel nicht als eine solche wahrnahm. Ein Beispiel dafür ist die private Korrespondenz des Schriftstellers Theodor Fontane, in der er seine Beobachtungen von jüdischen Kurgästen in Karlsbad während der Jahre 1893 bis 1895 zusammenfasste. Bekannt wurden in völkischen Kreisen mehrere antisemitische Lexika wie der Semi-Gotha und der Semi-Kürschner, in denen der angeblich »unheilvolle jüdische Einfluss« im Adel, im Bankwesen, in der Politik und in der Kunst »nachgewiesen« werden sollte. Der Semi-Kürschner wurde im Dezember 1913 von dem völkischen Schriftsteller Philipp Stauff herausgegeben und fand in der völkischen Bewegung begeisterte Aufnahme. Zugleich wurde Stauff aber auch scharf kritisiert, und zwar weniger von jüdischen Organisationen als von Nichtjuden, die irrtümlich in den Semi-Kürschner aufgenommen worden waren und nun auf Unterlassung klagten. Nach dem Ersten Weltkrieg bemühte sich Heinrich Kraeger, ein Professor für Literaturgeschichte und Mitarbeiter Stauffs, um eine Neuauflage des Semi-Kürschner und trat zu diesem Zweck mit einem Probeband an Hitler heran. Dieser zeigte sich zwar interessiert und versprach Unterstützung, die Verbindung blieb aber ohne Resultat. Nichtsdestoweniger brachte Kraeger seit 1929 eine Neuauflage unter dem obskuren Titel Sigilla Veri heraus, die auf neun Bände konzipiert war, jedoch über den vierten Band nicht hinauskam.

Vgl. Stauff, Semi-Kürschner, Zitat S. 10; Fontane, Werke, Abt. 4, Bd. 4, S. 275 – 279, 283 – 285, 379 f., 383; Hufenreuter, Verzeichnis; Triendl-Zadoff, Jahr, S. 96 – 100; Kap. I/10, Anm. 46; Kap. I/11, Anm. 122.

190 Prozentangaben dieser Art waren charakteristisch für die antisemitische Propaganda, die immer wieder bewusst mit überhöhten Zahlen operierte; diese ließen zwar noch Raum für »Ausnahmen«, suggerierten aber stets eine erdrückende jüdische Dominanz. Die fiktive Zahl neun Zehntel taucht in antisemitischen Pamphleten immer wieder auf, etwa in Judas Schuldbuch (1919), hier in Bezug auf die deutschen Zeitungen, die zu diesem Prozentsatz entweder jüdisch oder von Juden abhängig seien – erwähnt wurden Berliner Tageblatt, Frankfurter Zeitung und Vorwärts. Auch in Judas, der Weltfeind (1919) heißt es 90 % der Presse würden von Juden geleitet. Der Völkische Beobachter bezog sich wiederum auf den Mädchenhandel, als er behauptete: »In neun Zehnteln […] sind es jüdische Kaschemmenbesitzer, die ihre Einkünfte aus Kneipen ziehen, von denen man weiß, welchem Gewerbe sie dienen.« Interessanterweise schrieb auch Stefan Zweig in seinen 1942 verfassten Memoiren Die Welt von gestern – nicht ohne traurigen Stolz und Trotz, »neun Zehntel von dem, was die Welt als die Wiener Kultur des neunzehnten Jahrhunderts feierte«, sei »eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte oder sogar schon selbstgeschaffene Kultur« gewesen.

Vgl. Meister, Schuldbuch (^3/41919), S. 32, 104; Schrönghamer-Heimdal, Judas, S. 35; VB vom 25. 2. 1922, »Der Mädchenhandel – das Werk Judas!« (Zitat); Zweig, Welt, Zitat S. 37; Mendes-Flohr, Juden, Zitat S. 171. 

192 Da in Deutschland wie in Österreich-Ungarn Juden der zivile und erst recht der militärische Staatsdienst bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zumeist verwehrt blieb, wichen viele jüdische Staatsbürger in die freien Berufe aus. Als Betätigungsfeld war der Journalismus besonders beliebt: Leopold Sonnemann gründete 1856 die Frankfurter Zeitung, Rudolf Mosse 1872 das Berliner Tageblatt, und Leopold Ullstein war seit 1898 Herausgeber der Morgenpost. In Wien schrieb Theodor Herzl für die Neue Freie Presse, die von Eduard Bacher herausgegeben wurde, Heinrich Friedjung war von 1883 bis 1886 Herausgeber der Deutschen Wochenschrift, danach Chefredakteur der Deutschen Zeitung.

Vgl. Seigel u. a., Journalism, S. 466 f.; Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, S. 362; Wistrich, Juden, S. 176; Kap. I/10, Anm. 86, 89.

194 Die Wiener Presse sparte gegenüber den jüdischen Protagonisten des zeitgenössischen Theaters keineswegs mit Kritik. Der jüdische Publizist und Satiriker Karl Kraus spottete beispielsweise schon in der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift Die Fackel vom April 1899 über Arthur Schnitzlers »dramatische Kurzathmigkeit«, sie habe ihn dazu bewogen, drei Einakter zu verfassen, die im Burgtheater aufgeführt wurden. Schnitzlers Paracelsus (1898) bezeichnete Kraus als »gedankliche Nichtigkeit in historischem Gewande«, das Stück Die Gefährtin (1899) wiederum als ein »seltsames Kunstproduct gewollter Psychologie«, das in seiner »scenische[n] Unbeholfenheit« von »psychologischem Doctordünkel« triefe. Auch der berühmte Theaterreformer Max Reinhardt stieß in Wien auf wesentlich weniger Begeisterung als in Berlin. Die konservative Wiener Theaterkritik störte sich an seinen modernen, als phasenweise langatmig empfundenen Interpretationen von Klassikern und vor allem an den imposanten Bühnenbildern. In den Besprechungen ist etwa die Rede von »Ausstattungskomödien ohne Seele« oder von Reinhardts »dekorativer Kleinkunst«, die zwar das gemeine Publikum blenden und verblüffen würde, nicht aber »die Gelehrten, die Hüter der Kunst«.

Vgl. Kraus, Einacter, Zitat S. 24; Wiener Journal vom 16. 5. 1905, »Der Graf von Charolais«; Neue Freie Presse vom 20. 5. 1905, »Theater an der Wien«; vom 7. 4. 1909, »Berliner Theater. Faust bei Max Reinhardt«; Wiener Abendpost vom 27. 5. 1910, »Theater an der Wien«; Reichspost vom 19. 9. 1922, »Schauspiele im Redoutensaale«; Dembski/ Eder/ Fuhrich (Hrsg.), Ambivalenzen, Zitat S. 64. 

Schmierer der Mitwelt in den Pelz setzt, die nun als Bazillenträger schlimmster Art die Seelen vergiften.188

Es war entsetzlich, aber nicht zu übersehen, daß nun# 1930: gestrichen: nun gerade der Jude in überreichlicher Anzahl von der Natur zu dieser schmachvollen Bestimmung auserlesen schien.

Sollte seine Auserwähltheit darin zu suchen sein?

Ich begann damals sorgfältig die Namen all der Erzeuger dieser unsauberen Produkte des öffentlichen Kunstlebens zu prüfen.189 Das Ergebnis war ein immer böseres für meine bisherige Haltung den Juden gegenüber. Mochte sich da das Gefühl auch noch tausendmal sträuben, der Verstand mußte seine Schlüsse ziehen.

Die Tatsache, daß neun Zehntel190 alles literarischen Schmutzes, künstlerischen Kitsches und theaterlichen# 1930: theaterlichen ersetzt durch: theatralischen Blödsinns auf das Schuldbuch# 1930: Schuldbuch ersetzt durch: Schuldkonto eines Volkes zu schreiben sind, das kaum ein Hundertstel aller Einwohner im Lande beträgt, ließ sich nicht einfach# 1937: nicht einfach ersetzt durch: einfach nicht;
1939: nicht einfach;
1944: einfach nicht wegleugnen; es war eben so.

Auch meine liebe »Weltpresse«191 begann ich nun von solchen Gesichtspunkten aus zu prüfen.192

Je gründlicher ich aber hier die Sonde anlegte, um so mehr schrumpfte der Gegenstand meiner einstigen Bewunderung zusammen. Der Stil ward mir# 1930: gestrichen: mir immer unerträglicher, den Inhalt mußte ich als innerlich seicht und flach ablehnen, die Objektivität der Darstellung schien mir nun mehr Lüge zu sein als ehrliche Wahrheit; die Verfasser aber waren – Juden.193

Tausend Dinge, die ich früher kaum gesehen, fielen mir nun als bemerkenswert auf, andere wieder, die mir schon einst zu denken gaben, lernte ich nun# 1926: gestrichen: nun begreifen und verstehen.

Die liberale Gesinnung dieser Presse sah ich nun in einem anderen Lichte, ihr vornehmer Ton im Beantworten von Angriffen sowie das Totschweigen derselben enthüllte sich mir jetzt als ebenso kluger wie niederträchtiger Trick; ihre verklärt geschriebenen Theaterkritiken galten immer dem jüdischen Verfasser, und nie traf ihre Ablehnung jemand andern# 1930: andern ersetzt durch: anderen als den Deutschen.194 Das leise Sticheln gegen Wilhelm II.195 ließ in der Beharrlichkeit die Methode erkennen, genau so wie das Empfehlen französischer Kultur und Zivilisation.