Die »anständige« Presse <span class="pagenumber">[259]</span>

91 Die Assoziation von Pressefreiheit mit »Volksbelügung« und »Volksvergiftung« war nicht neu. Vertreter des politischen Konservatismus sahen in der Pressefreiheit seit jeher eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. So verwies Arthur Schopenhauer schon 1851 in seiner Schrift Parerga und Paralipomena auf eine tiefe Ambivalenz der Pressefreiheit. Einerseits lobte er sie als Möglichkeit, sich »durch Worte Luft« zu machen; andernfalls bleibe die Unzufriedenheit »eingezwängt« und »gär[e]«, bis sie schließlich »zur Explosion gelang[en]« müsse. »Andererseits jedoch« sei »die Preßfreiheit anzusehn als die Erlaubnis, Gift zu verkaufen: Gift für Geist und Gemüt«. Aus völkischer Perspektive betonte Heinrich Claß 1912 zwar die Bedeutung der »freie[n] Presse für unser nationales Leben«, zog jener Freiheit jedoch sogleich enge Grenzen: Vor Augen stand ihm nur »eine Presse von Deutschen für Deutsche in deutschem Geiste geschrieben«. Interessanterweise betrachtete auch die radikale Linke nach 1918 die Pressefreiheit als eine Gefährdung ihrer ideologischen Ziele; entsprechend scharf waren ihre Attacken. Im Vordergrund stand dabei der Vorwurf, die Presse sei ein Instrument des Bürgertums, zur Unterdrückung und Desinformation der Arbeiterklasse. Während die völkische Propaganda stets »den Juden« hinter der Presse vermutete, zielte die linksradikale Agitation pauschal gegen »das Kapital«. So schrieb die kommunistische Zeitschrift Arbeiter-Literatur im Dezember 1924: »Die ›Freiheit der Presse‹ ist ebenfalls eine der wichtigsten Parolen der ›reinen Demokratie‹. […] Pressefreiheit nennen die Kapitalisten das Recht der Bestechung der Presse durch die Reichen, das Recht, ihren Reichtum für die Fabrikation und Verfälschung der sogenannten öffentlichen Meinung zu verwenden.«

Vgl. Schopenhauer, Werke, Bd. 5, Zitat S. 297 f.; Frymann, Kaiser, Zitat S. 72; Wardin, Presse, Zitat S. 955; Frölich, Repression, bes.S. 367 f.; Anm. 84 in diesem Kapitel.

und das »Berliner Tageblatt« gemacht89, für sie ist ihr Ton abgestimmt und auf diese üben sie denn auch# 1926: gestrichen: denn auch ihre Wirkung aus. Indem sie alle scheinbar äußerlich rohen Formen auf das sorgfältigste vermeiden, gießen sie das Gift aus anderen Gefäßen dennoch in die Herzen ihrer Leser. Unter einem Geseires90 von schönen Tönen und Redensarten lullen sie dieselben in den Glauben ein, als ob wirklich reine Wissenschaft oder gar Moral die Triebkräfte ihres Handelns seien, während es in Wahrheit nur die ebenso geniale wie gerissene Kunst ist, dem Gegner auf solche Weise die Waffe gegen die Presse überhaupt aus der Hand zu stehlen. Denn indem die einen vor Anstand triefen, glauben ihnen alle Schwachköpfe um so lieber, daß es sich bei den anderen nur um leichte Auswüchse handle, die aber niemals zu einer Verletzung der Pressefreiheit (wie man den Unfug dieser straflosen Volksbelügung und Volksvergiftung bezeichnet91) führen dürften. So scheut man sich dann# 1926: gestrichen: dann , gegen dieses Banditentum vorzugehen, fürchtet man doch in einem solchen Falle auch sofort die »anständige« Presse gegen sich zu haben; eine Furcht, die aber# 1926: gestrichen: aber auch nur zu begründet ist. Denn sowie# 1926: sowie ersetzt durch: sobald man versucht, gegen eine dieser Schandzeitungen vorzugehen, werden sofort alle anderen deren Partei ergreifen, beileibe nicht etwa, um ihre Art des Kampfes gutzuheißen, Gott bewahre; nur um das Prinzip der Pressefreiheit und der Freiheit der öffentlichen Meinung dreht es sich dann# 1926: gestrichen: dann ; allein dieses soll verteidigt werden. Vor diesem Geschrei aber werden dann# 1926: gestrichen: dann die stärksten Männer schwach, kommt es doch aus dem Munde von lauter »anständigen« Blättern…

So konnte denn# 1926: gestrichen: denn dieses Gift ungehindert in den Blutlauf unseres Volkes eindringen und wirken, ohne daß der Staat die Kraft besaß, der Krankheit Herr zu werden. In den lächerlichen halben Mitteln, die er dagegen anwandte, zeigt# 1930: zeigt ersetzt durch: zeigte sich der bereits drohende Verfall des Reiches. Denn eine Institution, die nicht mehr entschlossen ist, sich selbst mit allen Waffen zu schützen, gibt sich praktisch auf. Jede Halbheit ist dann# 1926: gestrichen: dann das sichtbare Zeichen des inneren Verfalls, dem der äußere Zusammenbruch früher oder später folgen muß und wird.