Bürgerliche »Massenversammlungen« <span class="pagenumber">[125]</span>

12 Unter diesem Leitspruch standen bereits die Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1863. Demgegenüber war die im Jahr der Völkerschlacht verbreitetste Losung »Mit Gott, für König und Vaterland« damals schon in den Hintergrund gerückt. Ihren Ursprung hat die Formel »Wir sind ein einig Volk von Brüdern« im mythischen »Rütlischwur«, der erstmals im späten 15. Jahrhundert überliefert wurde, ehe er dann im 19. Jahrhundert durch Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell (1804) weite Verbreitung fand. In der 2. Szene des 2. Aufzug heißt es dort: »Laßt uns den Eid des neuen Bundes schwören. – Wir wollen seyn ein einzig Volk von Brüdern, In keiner Noth uns trennen und Gefahr. – Wir wollen frey seyn wie die Väter waren, Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.« Hitlers Haltung gegenüber Schillers Wilhelm Tell war indes ambivalent, in der Zeit seiner Herrschaft wurde sie zu offener Ablehnung.

Vgl. Schiller, Werke, Bd. 10, S. 127 – 277, Zitat S. 192; Kreis, Mythos; Hoffmann, Mythos, S. 120; Büttner, Volk; Aschmann, Ruhm, S. 282 f.; Kap. I/1, Anm. 71.

13 Den Text des Deutschlandlieds verfasste 1841 der Dichter und Literaturprofessor August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Dem Lied liegt eine Melodie Joseph Haydns zugrunde. Zurückgehend auf eine Anregung des Reichswehrministers Otto Geßler vom Mai 1920 erhob Reichspräsident Friedrich Ebert das Deutschlandlied im Rahmen des Verfassungstags vom 11. 8. 1922 zur deutschen Nationalhymne. Teile der SPD und prominente Linksintellektuelle wie Kurt Tucholsky kritisierten dies als verfehlt und unzeitgemäß. So schrieb der Vorwärts am 21. 12. 1922: »Es war das Lied der vormodernen Zeit. Es klebt daran noch ein Geruch wie von Kasernen und Paraden, ein Geräusch wie von Leutnantsgeplärr und Kaisergeburtstagsrummel.«

Vgl. Knopp/ Kuhn, Lied; Hattenhauer, Symbole, S. 79 – 88; Mühlhausen, Ebert, S. 832 – 835, Zitat S. 834, Anm. 274.

14 Dass die NSDAP in ihren Versammlungen bisweilen selbst mit ebenjenem Problem konfrontiert war, das Hitler hier ironisch skizziert, legt die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre intern kursierende, von der Propaganda-Abteilung der NSDAP herausgegebene Broschüre Propaganda nahe. Nicht ohne Grund und ermahnenden Unterton heißt es in ihr mit Blick auf die Durchführung von Parteiversammlungen: »Anstimmung eines Liedes am Schlusse hat nur Sinn, wenn dieses Lied sich auch machtvoll behaupten kann. Es muß in diesem Falle vom Versammlungsleiter angeordnet werden; es wird stehend und nicht im Herausgehen und nur eine Strophe gesungen. Dünnstimmiger Gesang von einzelnen Parteigenossen in verschiedenen Ecken des Saales wirkt sehr jämmerlich, besonders wenn der dadurch gereizte Gegner sein Kampflied anstimmt«.

Vgl. IfZ-Archiv, Db 22. 20, Propaganda, Zitat S. 23.

sein müsse für den einzigartigen und herrlichen Vortrag, den ihnen Herr Professor X. in ebenso genußreicher wie gründlicher und tiefschürfender Art hier gegeben habe, und der im wahrsten Sinne des Wortes ein »inneres Erleben«11, ja eine »Tat« gewesen sei. Es würde eine Profanierung dieser weihevollen Stunde bedeuten, wollte man an diese lichten Ausführungen noch eine Diskussion anfügen, so daß er deshalb im Sinne aller Anwesenden von einer solchen Aussprache absehe und statt dessen alle ersuche, sich von den Sitzen zu erheben, um einzustimmen in den Ruf »Wir sind ein einig Volk von Brüdern«12 usw. usw.#1929: gestrichen: usw. Endlich forderte er als Abschluß zum Gesange des Deutschlandliedes13 auf.

Und dann sangen sie, und mir kam es vor, als ob schon bei der zweiten Strophe die Stimmen etwas weniger würden und nur beim Refrain wieder mächtig anschwollen, und bei der dritten verstärkte sich diese Empfindung, so daß ich glaubte, daß nicht alle ganz sicher im Text gewesen sein mögen.14

Allein was tut dies zur Sache, wenn ein solches Lied in voller Inbrunst aus dem Herzen einer deutschnationalen Seele zum Himmel tönt.#1939: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen

Daraufhin verlor sich die Versammlung, d. h. #1944: d. h. ersetzt durch: das heißt es eilte jeder, daß er schnell hinauskam, die einen zum Bier, die anderen in ein Café und wieder andere in die frische Luft.

Jawohl, hinaus in die frische Luft, nur hinaus! Das war auch meine einzige Empfindung. Und das soll zur Verherrlichung eines heldenmütigen Ringens von Hunderttausenden von Preußen und Deutschen dienen?15 Pfui Teufel#1937: eingefügt: Ausrufezeichen; 1939: gestrichen: Ausrufezeichen und wieder Pfui Teufel!

So etwas mag die Regierung freilich lieben. Das ist natürlich eine »friedliche« Versammlung. Da braucht der Minister für Ruhe und Ordnung16 wirklich keine Angst zu haben, daß die Wogen der Begeisterung plötzlich das behördliche Maß bürgerlicher Anständigkeit sprengen könnten; daß plötzlich im Rausche der Begeisterung die Menschen aus dem Saale strömen, nicht um ins Café oder Wirtshaus zu eilen, sondern um in Viererreihen in gleichem Schritt und Tritt mit »Deutschland hoch in Ehren«17 durch die Straßen der Stadt