Gegen den Strom <span class="pagenumber">[106]</span>

18 Dass die NSDAP vielfach nicht mit der öffentlichen Meinung konform ging, ist eine Banalität. Dies traf auf alle Splitterparteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zu. Innerhalb der völkischen Bewegung vertrat die NSDAP indes weder in ihrem »25-Punkte-Programm« noch in den Versammlungen der Frühzeit Positionen, die eine Besonderheit dargestellt hätten. Nicht von ungefähr quittierte der Völkische Beobachter die Vorstellung des Programms am 24. 2. 1920 lediglich mit der kurzen Bemerkung, es entspreche weitgehend jenem der Deutschsozialistischen Partei (DsP). Auch mit ihrer Agitation gegen den »Separatismus«, den Hitler hier vermutlich im Blick hatte und zu dessen Symbolfigur seit Mitte 1920 Otto Ballerstedt stilisiert wurde, stand die NS-Bewegung weder im nationalen noch im engeren völkischen Lager im Gegensatz zur »öffentlichen Meinung«. So forderte etwa die DsP in ihrem Programm sehr ähnlich wie die Nationalsozialisten vehement einen »staatlichen Zusammenschluß aller Deutschen in Mitteleuropa«.

In offenen Gegensatz zu großen Teilen der völkischen Bewegung stellte sich Hitler erstmals im November 1922, als er – kurz nach der Machtübernahme Mussolinis in Italien – einen Verzicht auf Südtirol forderte. Nach der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets seit dem 11. 1. 1923 lehnte Hitler zudem die Politik des »Passiven Widerstands« ab, die in weiten Teilen der deutschen Rechten konsensfähig war. Seit 1926/27 ging die NSDAP hingegen verstärkt dazu über, sich in ihrer Propaganda auf neue Zielgruppen auszurichten. Auch Hitler selbst wusste etwa bei Vorträgen vor Industriellen seine Schwerpunkte am Publikum auszurichten. In den Wahlkämpfen seit 1930 verzichtete Hitler zudem aus taktischen Erwägungen zunehmend auf eine aggressive antisemitische Rhetorik, um für größere Bevölkerungsschichten wählbar zu werden. Theodor Heuss schrieb dazu im Jahr 1932: »Er schimpft sehr viel weniger. Er frühstückt gar keine Juden mehr. Er kann jetzt stundenlang reden, ohne daß das Wort ›Jude‹ überhaupt vorkommt, mit dem sein Aufstieg die geläufige Pointe besessen hatte.«

Vgl. [Brunner], Denkschrift; Bayerischer Kurier vom 15. 1. 1923, »Hitler und Südtirol«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 381, 422; Heuss, Weg, Zitat S. 148 f.; Plöckinger, Reden, S. 115 – 118; Knigge, Italienbild, S. 64 f.; Ullrich, Hitler, Bd. 1, S. 223 f., 230 f.; Kap. I/12, Anm. 210; Kap. II/10, Anm. 33, 39; Kap. II/13, Anm. 124; Kap. II/15, Anm. 47, 89.

19 Neben der nachfolgend angesprochenen »Südtirolfrage« spielt Hitler hier auf verschiedene Konflikte an, die 1925/26 in der NSDAP virulent waren. Diese drehten sich vor allem um die Gründung nationalsozialistischer Gewerkschaften, die Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms, die Ablehnung des Volksentscheids zur Fürstenenteignung und den Beitritt zum Bund der unterdrückten Völker. Hitler lehnte diese Projekte, die vor allem vom linken Parteiflügel um Gregor Straßer und Joseph Goebbels betrieben wurden, allesamt ab. Hinzu kam die Frage nach der Beteiligung an Wahlen, die Hitler seit 1925 als neue Strategie verfolgte, und die Auseinandersetzung mit Ernst Röhm über die künftige Ausrichtung der SA, bei der sich Hitler entschieden gegen das Konzept eines Wehrverbands wandte.

Vgl. Kap. II/10, Anm. 56; Kap. II/12, Anm. 9; Kap. II/14, Anm. 56.

Schon in jener Zeit habe ich immer dafür Stellung genommen, in wichtigen prinzipiellen Fragen, in denen die gesamte öffentliche Meinung eine falsche Haltung einnahm, ohne Rücksicht auf Popularität, Haß oder auf#1929: gestrichen: auf Kampf gegen sie Front zu machen. Die N.S.D.A.P.#1937: N. S. D. A. P. ersetzt durch: NSDAP. durfte nicht ein Büttel der öffentlichen Meinung, sondern mußte ein Gebieter derselben werden. Nicht Knecht soll sie der Masse sein, sondern Herr!18

Es besteht natürlich, und besonders für jede noch schwache Bewegung, die große Versuchung, in Augenblicken, in denen es einem übermächtigen Gegner gelungen ist, das Volk durch seine Verführungskünste zu einem wahnsinnigen Entschluß oder zu falscher Haltung zu treiben, auch mitzutun und mitzuschreien, zumal dann, wenn ein paar Gründe, – und wäre es auch nur scheinbar – vom Gesichtspunkt#1937: Gesichtspunkt ersetzt durch: Gesichtspunkte;
1939: Gesichtspunkt;
1944: Gesichtspunkte der jungen Bewegung selbst angesehen, dafür sprechen könnten. Die menschliche Feigheit wird dabei so eifrig nach solchen Gründen suchen, daß sie dann#1929: gestrichen: dann fast stets irgend etwas findet, das einen Schein von Recht geben würde, auch vom »eigenen Gesichtspunkt« aus solch ein Verbrechen mitzumachen.

Ich habe einige Male solche Fälle erlebt, in denen höchste Energie notwendig war, um das Schiff der Bewegung nicht in den künstlich erregten allgemeinen Strom hineinschwimmen, oder besser, mit ihm treiben zu lassen.19 Das letztemal, als es unserer infernalischen Presse, der ja die Existenz des deutschen Volkes Hekuba ist20, gelang, die Südtiroler Frage21 zu einer Bedeutung emporzutreiben, die dem deutschen Volk#1939: Volk ersetzt durch: Volke;
1944: Volk verhängnisvoll werden wird#1944: wird ersetzt durch: müßte.22 Ohne zu bedenken, wessen Dienste sie damit besorgen#1944: besorgen ersetzt durch: besorgten, haben sich viele sogenannte »nationale« Männer und Parteien und Verbände lediglich aus Feigheit vor der von den Juden aufgerührten#1939: aufgerührten ersetzt durch: aufgeführten öffentlichen Meinung dem allgemeinen Geschrei angeschlossen und sinnlos mitgeholfen, den Kampf gegen ein System zu unterstützen, das wir Deutsche gerade in unserer#1930: unserer ersetzt durch: dieser heutigen Lage als den einzigen Lichtblick in dieser verkommenden Welt empfinden müßten.23 Während uns der internationale Weltjude langsam aber sicher die Gurgel abdrückt, brüllen unsere sogenannten Patrioten gegen den Mann24 und ein System, die es gewagt haben, sich wenigstens an einer Stelle der Erde der