12. Kapitel
Die Gewerkschaftsfrage

Innerhalb von Mein Kampf ist dieses Kapitel eine Ausnahme. Kein anderes Kapitel ist einem ähnlich eng umgrenzten Thema gewidmet. Da Hitler im ersten Band Gewerkschaften nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern als ein notwendiges Übel charakterisiert hatte – als eine Folge der bestehenden Wirtschaftsordnung, die von der Sozialdemokratie nur für deren politische Ziele missbraucht werde1 –, verstärkte sich in der NSDAP 1925/26 die Forderung nach einer eigenen, nationalsozialistischen Gewerkschaft. Diese Forderung lehnte Hitler auf dem Weimarer Parteitag der NSDAP am 3./4. Juli 1926 dezidiert ab. Damit waren die Debatten allerdings nur vorläufig beendet; auch in der Folgezeit wurde die »Gewerkschaftsfrage« immer wieder aufgeworfen und diskutiert, barg für die NS-Bewegung also weiterhin Konfliktpotenzial.2 Wahrscheinlich verfasste Hitler das vorliegende Kapitel zwischen Juli und September 1926, um seine Position abermals zu bekräftigen. In diesen Monaten zog er sich merklich aus der Öffentlichkeit zurück und verzichtete weitgehend auf Parteiauftritte. In der Kapitelübersicht, die Mitte Oktober 1926 im Nationalsozialistischen Jahrbuch 1927 veröffentlicht wurde, ist dieses Kapitel bereits aufgeführt.3

Dass Hitler sich in einem eigenen Kapitel der »Gewerkschaftsfrage« und damit einem genuin wirtschaftspolitischen Gegenstand zuwandte, unterstreicht die Bedeutung, die er diesem Thema damals beimaß. Dies ist umso bemerkenswerter, als Hitlers wenige Ausführungen zu wirtschaftlichen Fragen in Mein Kampf – wie auch in seinen späteren Reden – ansonsten notorisch knapp und vage bleiben.4 Unmittelbar nach dem Erscheinen des zweiten Bands widmete der Völkische Beobachter diesem Kapitel eine eigene Besprechung – ein weiterer Hinweis darauf, wie wichtig die »Gewerkschaftsfrage« damals für Hitler auch aus parteiinternen Gründen geworden war.5