Die Sünden des Bürgertums <span class="pagenumber">[45]</span>

123 Die Anliegen der Arbeiter wie politische Partizipation, gerechtere Besteuerung oder günstigere Lebensmittelpreise, derentwegen es 1905 und 1911 zu Massendemonstrationen gekommen war, stießen in Österreich-Ungarn zunächst kaum auf Gehör. Allerdings wurden in den 1880er Jahren erste Gesetze zum Arbeitsschutz verabschiedet. So wurde die Höchstarbeitszeit begrenzt und die Sonntagsruhe obligatorisch, auch entstand ein rudimentäres Unfall- und Krankenversicherungssystem. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg setzte sich dann zunehmend die Überzeugung durch, der Staat müsse eine Führungsrolle bei der Lösung der »sozialen Frage« übernehmen und eine leistungsfähige Sozialpolitik entwickeln. Eine umfassende Sozialgesetzgebung wurde allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg unter Staatskanzler Karl Renner eingeführt. Ein Hauptgrund für diese Verzögerung waren die nationalen Konflikte in Österreich-Ungarn, welche die ökonomischen und politischen Themen in den Hintergrund drängten.

Vgl. Ogris, Rechtsentwicklung, S. 639; Sutter, Stellung, S. 240; Melinz/ Zimmermann, Grenzen, S. 103 – 175; Maderthaner/ Musner, Anarchie, S. 17 – 37; Maderthaner/ Musner, Logik; Drobesch, Konzepte, S. 1442 – 1463. 

124 Der Begriff »Volksgenosse« ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Synonym für »Landsmann« belegt und hatte zunächst keine politische Bedeutung. Um 1900 konnte »Volksgenosse« dann auch einen Angehörigen einer solidarischen Sozialgemeinschaft im Sinne einer »Volksgemeinschaft« bezeichnen. »Der Einzelne hat keine freie Entscheidung über seinen Körper; im Kriege wie im Frieden gehört er der Volksgemeinschaft. Diese kann nur bestehen als organische Gliederung, gesellschaftlich also in der Form der Standesgenossenschaften«, heißt es in einem Aufsatz, der im April 1914 anonym in der Zeitschrift Auf Vorposten erschien. Zugleich begannen völkische Autoren, den Begriff »Volksgenossen« biologistisch für die Angehörigen einer »Blutsgemeinschaft« oder »Rassengemeinschaft« zu verwenden, wobei »Rassenfremde« ausgeschlossen wurden. Das »25-Punkte-Programm« der NSDAP vom 24. 2. 1920 legte dementsprechend fest: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« In bewusster, provokativer Anlehnung an die Sozialdemokraten, die sich seit 1879 offiziell als »Genossen« ansprachen, verwendeten die Nationalsozialisten in Bezug auf ihre Anhänger die Anrede »Volksgenossen und Volksgenossinnen«.

Vgl. Mommsen (Hrsg.), Parteiprogramme, Zitat S. 548; Die sittliche Wertung des Zweikampfes, Zitat S. 198; Schmitz-Berning, Vokabular, S. 660 – 664; Kap. II/7, Anm. 25. Zum Begriff »Volksgemeinschaft«

vgl. Anm. 128 in diesem Kapitel.

weder verstanden noch verstehen konnten, daß niemand sonst sich die Mühe nahm, sich um sie zu kümmern, und daß endlich die sozialen Verhältnisse stärker waren als aller sonstiger etwa vorhandener gegenseitiger# 1930: sonstiger etwa vorhandener gegenseitiger ersetzt durch: sonstige etwa vorhandene gegenseitige;
1933: sonstige etwa vorhandene gegenteilige Wille. Die Not, der sie eines Tages so oder so verfielen, trieb sie in das Lager der Sozialdemokratie doch noch hinein.

Da nun das Bürgertum unzählige Male in der ungeschicktesten, aber auch unmoralischesten# 1926: unmoralischesten ersetzt durch: unmoralischsten [sic!] Weise gegen selbst allgemein menschlich berechtigte Forderungen Front machte, ja oft ohne einen Nutzen aus einer solchen Haltung zu erlangen oder gar überhaupt erwarten zu dürfen, wurde selbst der anständigste Arbeiter aus der gewerkschaftlichen Organisation in die politische Tätigkeit hineingetrieben.123

Millionen von Arbeitern waren sicher in ihrem Inneren# 1939: Inneren ersetzt durch: Innern;
1944: Inneren anfangs Feinde der sozialdemokratischen# 1937: sozialdemokratischen ersetzt durch: Sozialdemokratischen;
1939: sozialdemokratischen Partei, wurden aber in ihrem Widerstande besiegt durch eine manches Mal denn doch irrsinnige Art und Weise, in der seitens der bürgerlichen Parteien gegen jede Forderung sozialer Art Stellung genommen wurde. Die einfach bornierte Ablehnung aller Versuche einer Besserung der Arbeitsverhältnisse, der Schutzvorrichtungen an Maschinen, der Unterbindung von Kinderarbeit sowie des Schutzes der Frau wenigstens in den Monaten, da sie unter dem Herzen schon den kommenden Volksgenossen124 trägt, half mit, der Sozialdemokratie, die dankbar jeden solchen Fall erbärmlicher Gesinnung aufgriff, die Massen in das Netz zu treiben. Niemals kann unser politisches »Bürgertum«# 1944: politisches »Bürgertum« ersetzt durch: »politisches« Bürgertum wieder gut machen# 1937: wieder gut machen ersetzt durch: wiedergutmachen;
1939: wieder gut machen;
1944: wieder gutmachen , was so gesündigt wurde. Denn indem es gegen alle Versuche einer Beseitigung sozialer Mißstände Widerstand leistete, säte es Haß und rechtfertigte scheinbar selber die Behauptungen der Todfeinde des ganzen Volkstums, daß nur die sozialdemokratische# 1937: sozialdemokratische ersetzt durch: Sozialdemokratische;
1939: sozialdemokratische Partei allein die Interessen des schaffenden Volkes verträte.125

Es schuf so in erster Linie die moralische Begründung für den tatsächlichen Bestand der Gewerkschaften, der Organisation, die der politischen Partei die größten Zutreiberdienste von jeher geleistet hat.