Kapitulation vor dem Marxismus <span class="pagenumber">[178]</span>

111 Das bürgerliche Parteienspektrum im Deutschen Reich, relativ kleinteilig und heterogen, hatte sich beim Übergang vom Kaiserreich zur Republik in seinen Strukturen kaum verändert, da die dahinterstehenden sozialen und weltanschaulichen Milieus weitgehend gleich geblieben waren. Trotz dieses Kontinuums gab sich ein Teil der Parteien 1918 neue Namen oder formierte sich neu: Aus der Fortschrittlichen Volkspartei und einem vergleichsweise kleinen »linken« Flügel der vormaligen Nationalliberalen Partei des Kaiserreichs entwickelte sich 1918 die DDP. Vom Zentrum spaltete sich 1918 die BVP ab. Aus dem Großteil der bisherigen Nationalliberalen Partei wurde 1918 die DVP. In der DNVP sammelten sich viele Anhänger der Deutschkonservativen Partei, der Reichs- und Freikonservativen Partei, der Vaterlandspartei, des rechten Flügels der Nationalliberalen Partei und einer Reihe kleinerer nationalkonservativer und zum Teil antisemitischer Gruppierungen.

Vgl. Ritter, Kontinuität; Dowe/ Kocka/ Winkler (Hrsg.), Parteien.

112 Mit der Zäsur von 1918/19 hatte sich nicht nur die deutsche Parteienlandschaft neu organisiert. Anders als Hitler behauptet, hatte sich auch deren Führungspersonal verändert – wenn auch in unterschiedlich starkem Maße: Von den Reichstagsabgeordneten der Jahre 1920 – 1924 waren nur 37 % bereits vor 1919 Mitglieder des Reichstags gewesen; dabei war die Kontinuität bei der USPD am größten, bei der DVP am geringsten. Heterogener war das Bild in den Führungsgremien der Parteien: Waren vom Führungspersonal der »alten« Parteien USPD/SPD und Zentrum die meisten schon vor 1919 Reichstagsabgeordnete gewesen, so traf dies bei DDP und DNVP nur auf die Hälfte zu, bei der DVP sogar nur auf einen von sieben, nämlich auf Gustav Stresemann. Auch übernahmen mit Oskar Hergt bei der DNVP, Carl Petersen bei der DDP und Ernst Scholz bei der DVP Parlamentarier die Fraktionsführung, die dem Reichstag vor 1919 noch nicht angehört hatten. Eine Tätigkeit als Staatssekretär in der Kaiserzeit, die damals der eines Ministers entsprach, konnte nach 1919 kein führender Parlamentarier vorweisen. In seiner bereits 1932 verfassten Strukturanalyse Die Deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege konstatierte daher Sigmund Neumann, dass sich mit dem Übergang vom Kaiserreich zur Republik die innere Struktur der deutschen Parteien grundlegend verändert habe.

Vgl. Neumann, Parteien, S. 19 – 72; Ritter, Kontinuität; Raithel, Spiel, S. 80 f., 571 f.

113 Hitlers Urteil über das Versagen »der« bürgerlichen Parteien erinnert in seiner Diktion und verqueren »Logik« an Erich Ludendorffs Kriegserinnerungen (1919), in denen dieser ähnlich scharf über »die« bürgerliche Politik während des Ersten Weltkriegs herzog: »Die breite Masse des Bürgertums ging in ihrer Vielköpfigkeit, ihrem Immerallesbesserwissen und ihrer Disziplinlosigkeit eigene Wege und hielt sich in geistigem Hochmut, in ängstlicher Zurückhaltung und Charakterlosigkeit abseits. Auch ihr mangelte [es an] Verantwortlichkeitsgefühl dem Vaterland gegenüber. […] Die Zügellosigkeit und Gesinnungslosigkeit breitester Volkskreise, die Wühlarbeit der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei fanden kein Gegengewicht im Bürgertum. Es ist eine traurige Ungeheuerlichkeit, daß sonst klar denkende deutsche Männer sich tatenlos in der Not des Tages die Köpfe verwirren und sich das nehmen ließen, wofür sie bisher gelebt hatten. Das Bürgertum ist damit auch am Verfall unseres Vaterlandes schuldig.« Auch im Pamphlet Der Betrug am deutschen Volke (1919) von Hans von Liebig, das in der NSDAP schon früh zur Lektüre empfohlen wurde, wird dem Bürgertum eine »völlige politische und völkische Untauglichkeit und Unfähigkeit« attestiert. Ludendorff, Liebig und zahlreiche andere Autoren, darunter schließlich auch Hitler, reproduzierten damit indes lediglich ein Stereotyp, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Rechten kursierte. So hatte etwa schon der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands, Heinrich Claß, in seinem einflussreichen Traktat Wenn ich der Kaiser wärʼ (1912) die angeblich »völlig ungenügende Abwehr der bürgerlichen Parteien und Gesellschaft« gegen »das Anwachsen der Sozialdemokratie« kritisiert.

Vgl. Frymann, Kaiser, Zitat S. 3; Ludendorff, Kriegserinnerungen, Zitat S. 292 f.; Liebig,

Betrug, Zitat S. 139; Ryback, Bücher, S. 86.

114 Der Mord am Reichsminister des Auswärtigen Walther Rathenau am 24. 6. 1922 sorgte in der deutschen Öffentlichkeit und in den deutschen Parteien für beispiellose Empörung. Der deutschnationale Abgeordnete Karl Helfferich, einer der schärfsten Kritiker Rathenaus, wurde im Reichstag als Mörder beschimpft und Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) endete seine große Reichstagsrede am Tag nach dem Attentat mit der sozialdemokratischen Formel, nach wie vor stehe der Feind rechts. Wie groß Zorn und Trauer über Rathenaus Tod waren, veranschaulichen auch die Demonstrationen vom 27. 6. und 4. 7. 1922, zu denen die KPD, USPD und SPD sowie die Freien Gewerkschaften aufgerufen hatten und an denen sich allein in Berlin Hunderttausende beteiligten. In Reaktion auf den Mord wurde das Gesetz zum Schutze der Republik am 18. 7. 1922 vom Reichstag mit einer Dreiviertelmehrheit von 303 zu 102 Stimmen (bei vier Enthaltungen) angenommen. Drei Tage später trat es in Kraft. Erstmals hatte sich damit die junge Republik ein Gesetz geschaffen, das speziell zu ihrem Schutz konzipiert war, ohne auf die Gesetzeslage des Kaiserreichs zurückgreifen zu müssen. Hitlers Behauptung, dieses Gesetz sei quasi von der »Straße« erzwungen worden, ist pure Polemik. Zwar kam es am 27. 6. 1922, dem Tag der Beerdigung Rathenaus, zu Demonstrationen und auch einzelnen Ausschreitungen, doch blieben dies Ausnahmen. Entscheidend war, dass nach dem Mord an Rathenau eine ungewöhnlich breite parlamentarische Front von USPD bis DVP das Republikschutzgesetz befürwortete, obwohl jede dieser Parteien dabei auch Kompromisse eingehen musste. Umstritten war vor allem die Frage, ob und wie weit die Bestimmungen des Gesetzes auf jede Form des politischen Extremismus anwendbar sei. Lediglich eine Minderheit aus DNVP, BVP, Bayerischem Bauernverband und Teilen der DVP stimmte gegen das Gesetz, ohne dass sie deswegen – auch in diesem Punkt ist Hitler zu widersprechen – von der Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen wurden.

Vgl. Verhandlungen des Reichstags 1918 – 1942, I. Wahlperiode, Bd. 356, S. 8737 – 8739; Jasper, Schutz, S. 34 – 92; Gusy, Weimar, S. 128 – 171; Raithel, Spiel, S. 135; Ludyga, Reichstagsverhandlungen; Bollmeyer, Weg, S. 374 – 428; Kap. I/10, Anm. 171; Anm. 208 in diesem Kapitel.

mus nicht im geringsten um Parlamentarismus und Demokratie, sondern gab beiden durch brüllende und schießende Verbrecherhaufen den Todesstoß.110 Daß die bürgerlichen Schwätzerorganisationen im selben Augenblick wehrlos waren, ist selbstverständlich.

Nach der Revolution, da die bürgerlichen Parteien, wenn auch unter Änderung ihrer Firmenschilder111, plötzlich wieder auftauchten und ihre tapferen Führer aus der Verborgenheit finsterer Keller und luftiger Speicher hervorkrochen, da hatten sie, wie alle Vertreter derartiger alter Gebilde, ihre Fehler nicht vergessen und ebenso nichts hinzugelernt.112 Ihr politisches Programm lag in der Vergangenheit, soferne#1937: soferne ersetzt durch: sofern sie sich nicht mit dem neuen Zustand innerlich bereits ausgesöhnt hatten, ihr Ziel jedoch war#1944: jedoch war ersetzt durch: war jedoch, sich am neuen Zustand wenn möglich beteiligen zu dürfen, und ihre einzigen Waffen blieben dabei nach wie vor ihre Worte.

Auch nach der Revolution haben die bürgerlichen Parteien in jämmerlichster#1937: jämmerlichster ersetzt durch: jämmerlicher;
1939: jämmerlichster;
1944: jämmerlicher Weise jederzeit vor der Straße kapituliert.113

Als das Republikschutzgesetz zur Annahme kommen sollte, war eine Majorität dafür zunächst nicht vorhanden. Allein vor den zweihunderttausend demonstrierenden Marxisten packte die bürgerlichen »Staatsmänner« eine derartige Angst, daß sie gegen ihre Überzeugung das Gesetz annahmen, in der erbaulichen Furcht, andernfalls beim Verlassen des Reichstages von der wütenden Masse windelweich geprügelt zu werden. Was dann leider zufolge der Annahme ausblieb.114 –

So ging denn auch die Entwicklung des neuen Staates ihre Bahnen, als ob es eine nationale Opposition überhaupt nicht gegeben hätte.

Die einzigen Organisationen, die in dieser Zeit Mut und Kraft besessen hätten, dem Marxismus und seinen verhetzten Massen entgegenzutreten, waren zunächst die Freikorps, später die Selbstschutzorganisationen, Einwohnerwehren usw. und endlich die Traditionsverbände.115

Warum aber auch ihr Dasein in der Entwicklung der deutschen Geschichte keinerlei nur irgendwie wahrnehmbare Umstellung herbeiführte, lag an folgendem: