Die Ehe nicht Selbstzweck <span class="pagenumber">[266]</span>

123 Kritik an der staatlichen Familienpolitik war ein fester Bestandteil völkischen Denkens. 1917 betonte etwa Friedrich Siebert in der Schrift Der völkische Gehalt der Rassenhygiene, die »Lehre, daß die Verhütung des Kindersegens eine segensreiche Einrichtung wäre«, sei »auf dem Boden der Entartung erwachsen«. Die deutsche Bevölkerungs- und Familienpolitik seit 1918/19 war indes wesentlich komplexer als von Hitler impliziert. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und eklatanter Versorgungsengpässe schien eine Bevölkerungspolitik nach rein quantitativen Maßstäben unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kaum sinnvoll. Gleichwohl kannte die Weimarer Bevölkerungspolitik auch klar pronatalistische Züge: Das Gesetz über Wochenhilfe und Wochenfürsorge vom 26. 9. 1919 sicherte erwerbstätigen Frauen finanzielle Unterstützung, berücksichtigte Stillzeiten und stärkte den Kündigungsschutz vor und nach der Entbindung. Ab 1923 erhielten kinderreiche Familien höhere Zulagen und mussten geringere Schulgebühren entrichten. Seit 1926 wurde versicherten schwangeren Frauen unter bestimmten Voraussetzungen zudem kostenfreie Hebammenhilfe, Arzneimittel und ärztliche Behandlung zuteil. Ein Jahr später wurde der Mutterschaftsurlaub bei halbem Grundlohn von acht auf zwölf Wochen angehoben. Zugleich gab es jedoch gerade in der Sozialdemokratie auch Stimmen, die in der Geburtenbeschränkung eine sozialpolitische Errungenschaft erblickten, die vor allem Arbeiterfrauen von der Belastung durch (zu) viele Schwangerschaften befreien sollte.

Vgl. RGBl. 1919/II, S. 1757 – 1763; Siebert, Gehalt, Zitat S. 101; Rouette, Sozialpolitik, S. 172 f., 185 – 189; Usborne, Frauenkörper, S. 55 – 136; Dienel, Familienpolitik, S. 25 f.; Reidegeld, Sozialpolitik, S. 175 – 177; Anm. 131 in diesem Kapitel; Kap II/2, Anm. 60.

125 Dass Ehen primär nach rassenbiologischen Kriterien bewertet und geschlossen werden müssten, war eine der ältesten familien- und bevölkerungspolitischen Forderungen der völkischen Bewegung. Als Ideal galt hier die »rassisch reine« Ehe zur Zeugung zahlreicher, biologisch »hochwertiger« Kinder. Durch die Ehe, so der Mitgründer des Vereins deutsch-völkischer Schriftsteller Otto Schmidt-Gibichenfels in seiner programmatischen Schrift Wen soll ich heiraten? (1907), solle »das wahre unverfälschte Urbild der germanischen Rasse, soweit es irgend möglich ist«, wiederhergestellt werden. In seiner Rassenkunde des deutschen Volkes forderte auch der Rassentheoretiker Hans F. K. Günther, der »nordische Mensch« habe sich »bei der Gattenwahl so zu entscheiden«, dass »die Mehrung seiner Rasse durch gesunde, erbtüchtige und zahlreiche Nachkommen gefördert werde«. Umstritten war jedoch die Frage, ob das Modell rassenzüchterischer Zweckehen mit dem bürgerlichen Ideal monogamer Liebesehen kombiniert werden könne und solle. Besonders radikal gebärdete sich hier der Biologe Willibald Hentschel. 1910 schlug er die Errichtung sogenannter Mittgart-Siedlungen vor, in denen jeweils 100 Männer und 1.000 Frauen zur »Fortpflanzung und Höherzüchtung des Volkes und der Rasse« zusammenleben sollten. Mitte der 1920er Jahre wurde Hentschel dann zum Begründer der Artamanen-Bewegung, der auch Heinrich Himmler und Walther Darré angehörten. Die völkischen Ehekonzepte weisen in zweierlei Hinsicht auf den NS-Staat voraus: erstens auf das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. 9. 1935, das Eheschließungen und außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen deutschen Staatsangehörigen und Juden verbot; zweitens auf den Versuch des von der SS getragenen Vereins Lebensborn, eine erhöhte Geburtenrate »rein arischer« Kinder zu realisieren.

Vgl. Schmidt-Gibichenfels, Antwort, Zitat S. 196; Günther, Rassenkunde (1923), S. 420; RGBl. 1935/I, S. 1146 f.; Puschner, Bewegung, bes.S. 188 – 201; Hufenreuter, Liebe, Zitat S. 20; Lilienthal, Lebensborn; Bryant, Kinder, S. 21 – 192; Kap. II/12, Anm. 38.

Mütter der sogenannten »besseren« Gesellschaft reden hört, sie wären dankbar, für ihr Kind einen Mann zu finden, der sich die »Hörner bereits abgestoßen habe« usw.121 Da daran meistens weniger Mangel ist, als es umgekehrt sein würde# 1930: es umgekehrt sein würde ersetzt durch: umgekehrt , wird also# 1930: wird also ersetzt durch: so wird das arme Mädel schon glücklich einen solchen enthörnten Siegfried122 finden, und die Kinder werden das sichtbare Ergebnis einer solchen# 1930: einer solchen ersetzt durch: dieser »vernünftigen«# 1926: »vernünftigen« ersetzt durch: vernünftigen Ehe sein. Wenn man bedenkt, daß außerdem noch eine möglichst große Einschränkung der Zeugung an sich erfolgt123, so daß der Natur hier# 1930: gestrichen: hier jede Auslese unterbunden wird, da nun# 1926: gestrichen: nun natürlich jedes auch noch so elende Wesen erhalten werden muß124, so bleibt wirklich nur die Frage, warum dann# 1930: gestrichen: dann eine solche Institution überhaupt noch besteht und welchen Zweck sie denn# 1930: gestrichen: denn haben soll?# 1944: Fragezeichen ersetzt durch: Punkt Ist dies nicht dann# 1930: Ist dies nicht dann ersetzt durch: Ist es dann nicht genau dasselbe wie die Prostitution an sich? Spielt denn# 1930: gestrichen: denn die Pflicht der Nachwelt gegenüber hier# 1930: gestrichen: hier überhaupt keine Rolle mehr? Oder weiß man nicht, welchen Fluch man sich aufladet# 1930: gestrichen: aufladet bei Kind und Kindeskind# 1930: eingefügt: aufladet durch eine derartige verbrecherisch leichtsinnige Weise in der Wahrung des letzten Naturrechtes und aber# 1930: Naturrechtes und aber ersetzt durch: Naturrechtes, aber auch der letzten Naturverpflichtung?

So entarten die Kulturvölker und gehen allmählich unter.

Auch die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muß dem einen größeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse, dienen. Nur das ist ihr Sinn und ihre Aufgabe.125

Wenn dies aber stimmt, dann# 1930: Wenn dies aber stimmt, dann ersetzt durch: Unter diesen Voraussetzungen aber kann ihre Richtigkeit nur an der Art gemessen werden, in der sie diesen Zweck# 1930: diesen Zweck ersetzt durch: diese Aufgabe erfüllt. Schon aus diesem Grunde ist dann# 1930: Schon aus diesem Grunde ist dann ersetzt durch: Daher schon ist die frühe Heirat richtig, gibt sie doch in die junge# 1926: in die junge ersetzt durch: der jungen Ehe noch jene Kraft, aus der allein ein gesunder und widerstandsfähiger Nachwuchs zu kommen vermag. Freilich ist zur# 1930: zur ersetzt durch: zu ihrer Ermöglichung dessen# 1930: gestrichen: dessen eine ganze Reihe von sozialen Voraussetzungen nötig, ohne die an eine frühe Verehelichung gar nicht zu denken ist. Mithin kann eine Lösung dieser nur so kleinen Frage schon nicht stattfinden ohne einschneidende Maßnahmen in sozialer Hinsicht. Welche Bedeutung diesen zukommen# 1930: zukommen ersetzt durch: zukommt , sollte man am meisten in einer Zeit begreifen, da die sogenannte »soziale« Republik durch ihre Unfähigkeit in der Lösung der Wohnungsfrage126 allein zahlreiche Ehen einfach verhindert und der Prostitution auf solche Weise Vorschub leistet.