Die vier Wege deutscher Politik <span class="pagenumber">[138]</span>

48 Diese Textstelle lässt sich als Reaktion auf die öffentliche Debatte über »Euthanasie« nach 1918 verstehen – ein Thema, das Hitler in Mein Kampf ansonsten fast vollständig ausspart. Nachgedacht wurde über »Euthanasie« bereits im Kaiserreich. Die damalige Diskussion, in der die Aspekte Schmerzlinderung und Tötung auf Verlangen dominierten, blieb jedoch randständig. Vereinzelt finden sich indes schon um 1900 Überlegungen zur Frage der Kinder-»Euthanasie«, die auch Hitler hier berührt. 1895 stellte der Arzt Alfred Ploetz das Gedankenexperiment an, ein »Ae[r]zte-Collegium« dürfe in Zukunft »schwächliche[n]« oder »missgestaltete[n]« Neugeborenen »durch eine kleine Dose Morphium« einen »sanfte[n] Tod« bereiten.

Nach 1918 intensivierte sich die »Euthanasie«-Debatte merklich. Kontrovers diskutiert wurde vor allem die Studie Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens (1920), in der der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche den sozialen »Wert« körperlich und geistig unheilbar kranker Menschen abstritten. Die Schrift entstand unter dem Eindruck des Massensterbens gesunder junger Männer im Ersten Weltkrieg und der eklatanten Versorgungskrise, die bis in die Zeit der frühen Weimarer Republik reichte. Ressourcen wie Nahrungsmittel und Heizmaterial sollten laut Binding und Hoche nicht für »absolut wertlose« oder gar »negativ zu wertende Existenzen« verwendet werden. Deren »Beseitigung«, so glaubten sie, werde »eines Tages« nicht mehr als »unmoralische Handlung« oder »gefühlsmäßige Rohheit«, sondern als »erlaubte[r] nützliche[r] Akt« erkannt werden. Das Echo auf die Schrift war indes kritisch: »Euthanasie«-Maßnahmen waren in der Weimarer Republik zu keinem Zeitpunkt politisch durchsetzbar; ethische, religiöse und juristische Gegenargumente blieben dominant. Im Dritten Reich wurde die Tötung geistig und körperlich behinderter Männer, Frauen und Kinder hingegen systematisch verwirklicht. Zwischen 1939 und 1945 starben im Reichsgebiet rund 190.000 Patienten von Heil- und Pflegeanstalten durch direkte Tötungen oder gezielte Unterernährung – darunter zwischen 5.000 und 10.000 Kinder.

Vgl. Ploetz, Tüchtigkeit, Zitat S. 144; Binding/ Hoche, Freigabe, Zitate S. 27, 57; Schmuhl, Rassenhygiene, S. 31 – 39, 106 – 125, 182 – 214; Weingart/ Kroll/ Bayertz, Rasse, S. 523 – 532; Schwartz, »Euthanasie«-Debatten; Pohl, Verfolgung, S. 30 – 35; Hammon, Binding, S. 26 – 135; Hohendorf, Euthanasie, S. 53 – 71; Kap. I/10, Anm. 131.

49 Die Vorstellung, auch Gott vertrete das »Recht des Stärkeren«, um eine Regression der Schöpfung zu verhindern, findet sich noch am 23. 9. 1941 in Hitlers Monologen: »Das macht auch wieder der liebe Gott: Er schmeißt plötzlich die Menschenmassen auf die Erde und jeder muß sich selber darum kümmern, wie er durchkommt; einer nimmt’s dem anderen weg; und als Abschluß kann man nur sagen, daß der Stärkere siegt. Das ist doch die vernünftigste Ordnung; […] Würden wir uns nicht den Naturgesetzen anpassen, uns mit dem Recht des Stärkeren durchsetzen, dann könnten eines Tages die wilden Tiere uns wieder auffressen, und später fräßen Insekten die wilden Tiere, und es blieben endlich nur die Mikroben.« Hitler benutzte den Begriff »Gott« als Synonym für »das Walten der Naturgesetze im gesamten Universum«; eine menschliche Annäherung an Gott war in seiner Vorstellung vor allem mithilfe der Naturwissenschaften möglich, nicht aber durch die Kirchen. In einer – am 30. 1. 1943 von Joseph Goebbels verlesenen – Proklamation behauptete Hitler gar, Gott habe den Deutschen den Kampf ums Dasein als Aufgabe auferlegt: »Der Allmächtige wird der gerechte Richter sein. Unsere Aufgabe aber ist es, unsere Pflicht so zu erfüllen, daß wir vor ihm als dem Schöpfer aller Welten nach dem von ihm gegebenen Gesetz des Kampfes um das Dasein zu bestehen vermögen, daß wir ohne jemals zu verzagen, keine Leben schonen und keine Arbeit scheuen, um das Leben unseres Volkes für die Zukunft zu erhalten.«

Vgl. Domarus, Hitler, Bd. 4, Zitat S. 1979; Hitler, Monologe, Zitat S. 67; Rißmann, Gott, S. 62 – 72, Zitat S. 65; Bärsch, Religion, S. 276.

dennoch die Unbilden des Daseins überdauern läßt, ist tausendfältig erprobt, hart und wohl geeignet, wieder weiter zu zeugen, auf daß die gründliche Auslese von vorne wieder zu beginnen vermag. Indem sie so gegen den einzelnen brutal vorgeht und ihn augenblicklich wieder zu sich ruft, sowie er dem Sturme des Lebens nicht gewachsen ist, erhält sie die Rasse und Art selber kraftvoll, ja steigert sie zu höchsten Leistungen.46

Damit aber ist ihre# 1930: aber ist ihre ersetzt durch: ist aber die Verminderung der Zahl eine Stärkung der Person, mithin aber letzten Endes eine Kräftigung der Art.

Anders ist es, wenn der Mensch eine Beschränkung seiner Zahl vorzunehmen sich anschickt. Er ist nicht aus dem Holze der Natur geschnitzt, sondern »human«.47 Er versteht es besser als diese# 1944: diese ersetzt durch: die grausame Königin aller Weisheit. Er beschränkt nicht die Forterhaltung des einzelnen als vielmehr die Fortpflanzung selber. Dieses erscheint ihm, der ja immer nur sich selbst und nie die Rasse sieht, menschlicher und gerechtfertigter zu sein als der umgekehrte Weg. Allein leider sind nun# 1926: gestrichen: nun auch die Folgen umgekehrt:

Während die Natur, indem sie die Zeugung freigibt, jedoch die Forterhaltung einer schwersten Prüfung unterwirft, aus einer Überzahl von Einzelwesen die besten sich als wert zum Leben auserwählt, sie also allein erhält und ebenso nun# 1926: gestrichen: nun zu Trägern der Forterhaltung ihrer Art werden läßt, schränkt der Mensch die Zeugung ein, sorgt jedoch nun# 1926: gestrichen: nun krampfhaft dafür, daß jedes nun# 1926: gestrichen: nun; 1944: wieder eingefügt: nun einmal geborene Wesen um jeden Preis auch erhalten werde.48 Diese Korrektur des göttlichen Willens49 scheint ihm dann# 1926: gestrichen: dann ebenso weise wie auch noch# 1926: gestrichen: auch noch human zu sein und er freut sich wieder einmal in einer Sache die Natur übertrumpft, ja ihre Unzulänglichkeit bewiesen zu haben. Daß in Wirklichkeit allerdings nun# 1926: gestrichen: nun wohl die Zahl eingeschränkt, aber dafür auch der Wert des einzelnen vermindert wurde, will das liebe Äffchen des Allvaters [sic!] freilich nur ungern sehen oder# 1944: oder ersetzt durch: und hören.

Denn sowie erst einmal die Zeugung als solche eingeschränkt und die Zahl der Geburten vermindert wird, tritt an Stelle des natürlichen Kampfes um das Dasein, der nur den Allerstärksten und Gesündesten am Leben läßt, die selbstverständliche Sucht, auch das Schwächlichste, ja Krankhafteste um jeden Preis doch ja zu »retten«# 1926: doch ja zu »retten« ersetzt durch: zu »retten« ,