2. Kapitel
Wiener Lehr- und Leidensjahre

Die Überschrift dieses Kapitels verweist deutlich auf das Muster des klassischen Bildungs- und Entwicklungsromans: Der begabte junge Held verlässt seine Familie, um sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Seine schwierigen, dürftigen und nicht zuletzt erfolglosen Jahre in Wien versucht Hitler in eben diesem Sinn zu überhöhen. Er folgt dabei der klassischen Einteilung Jugend-, Wander- und Meisterjahre, wenn auch mit einer bezeichnenden Ausnahme: Während der Held des Bildungsromans erst durch seine Auseinandersetzung mit einer ablehnenden oder feind­lichen Umwelt Erfahrungen sammelt und schließlich seinen Platz im Leben findet, verweigert sich Hitler ebendieser Integration – zumindest in die habsburgische Gesellschaft. 1

Thematisch bildet dieses Kapitel zusammen mit dem folgenden Kapitel Allgemeine politische Betrachtungen aus meiner Wiener Zeit und Sonstiges (I/3) eine Einheit – und auch den umfangreichsten Block des gesamten Buchs. 2 Die Themen dieses Kapitels wie »Bürgertum und soziale Frage« oder »Judentum und Marxismus« hatte Hitler von Anfang an für Mein Kampf vorgesehen; sie werden bereits in einem Werbeflugblatt aus der ersten Junihälfte 1924 erwähnt. 3 Ob damals auch schon ihre biografische Einbettung in Hitlers Wiener Zeit vorgesehen war, lässt sich nicht eindeutig klären, ist jedoch anzunehmen. In einem Brief an Karl Haushofer vom 11. 6. 1924 berichtete Rudolf Heß über diesen Entstehungsprozess: »Gedacht hatte ich z.B. auch nicht, daß er [Hitler] erst nach schweren inneren Kämpfen zu seinem heutigen Standpunkt in der Judenfrage sich durchgerungen hat. Immer kamen wieder Zweifel, ob er nicht doch unrecht tue.«4 Schilderungen dieser Art finden sich im vorliegenden Kapitel. 5 All das spricht für eine Entstehung im Juni 1924. 

Die in dieses Kapitel eingeflossenen Ausführungen zur »Gewerkschaftsfrage« wurden bereits Ende Mai 1925 im Völkischen Beobachter und in österreichischen nationalsozialistischen Zeitungen6 veröffentlicht, als der Konflikt in der NS-Bewegung um dieses Thema immer virulenter wurde. 7 Und noch ein weiterer Punkt verdient Beachtung: Strukturell ähnelt die­ses Kapitel der 1919 erschienenen Schrift Mein politisches Erwachen von Anton Drexler, dessen Erfahrungen in Berlin einige Parallelen aufweisen zu den Erfahrungen, die Hitler in Wien machte. 8