Der Jude als Führer der Sozialdemokratie <span class="pagenumber">[62]</span>

206 Schon Henry Wickham Steed (1902 – 1914 Korrespondent der Times in Österreich) schrieb, Juden seien in der Wiener Presse besonders prominent vertreten. Bei vielen Zeitungen in Wien fungierten Juden tatsächlich als Eigentümer, Herausgeber und Redakteure. 1909 war jeder zweite Angehörige der journalistischen Standesvertretung Presseclub Concordia Jude. Besonders prominente jüdische Journalisten Wiens waren Eduard Bacher und Moriz Benedikt von der liberalen Neuen Freien Presse, Kulturredakteur dort war Theodor Herzl. Das Neue Wiener Tagblatt, ebenfalls liberal, war von Moriz Szeps begründet worden, der dort 1886 ausschied und das Wiener Tagblatt ins Leben rief, während das Neue Wiener Tagblatt von den Gebrüdern Singer weitergeführt wurde. Die Wiener Allgemeine Zeitung unterstand Theodor Hertzka, später Julius Szeps, dem Sohn von Moriz Szeps. Alexander Scharf gründete – orientiert am britischen Observer – die Wiener Sonn- und Montagszeitung und fungierte zeitweise als ihr Chefredakteur. Die sozialistische Arbeiter-Zeitung gab Friedrich Austerlitz heraus. Bei den Zeitschriften wurden die wichtigsten ebenfalls von jüdischen Journalisten geleitet: Heinrich Kanner und Isidor Singer verantworteten gemeinsam mit dem nichtjüdischen Journalisten Hermann Bahr Die Zeit, Rudolf Lothar Die Wage und Karl Kraus Die Fackel. Allerdings bedeutete die deutliche »Überrepräsentation der Juden […] keineswegs eine zahlenmäßige jüdische Vorherrschaft«. In der klerikalen, konservativen oder deutschnationalen Presse wie etwa beim Vaterland oder bei der Reichspost arbeiteten keine Juden, sodass vor allem der ausschließliche Blick auf die liberalen und fortschrittlichen Blätter den Eindruck erweckte, es seien nur Juden in der Presse tätig.

Vgl. Beller, Vienna, S. 38 – 40; Beller, Schicht, S. 73 f., Zitat S. 74; Pulzer, Entstehung, S. 78 f.; Wistrich, Juden, S. 142 – 144; Kap. I/10, Anm. 83.

207 Die Unterstellung, jüdische Journalisten der Habsburgermonarchie seien per se nicht »national« oder patriotisch gesinnt gewesen, ist unhaltbar. Dies blieb schon zeitgenössischen, judenfeindlichen Beobachtern nicht verschlossen. So beklagte etwa die der Christlichsozialen Partei nahestehende Reichspost anlässlich des 50-jährigen Thronjubiläums Franz Josephs I. im Jahr 1898, dass viele Juden Huldigungsstücke für Theateraufführungen verfasst hätten. In der Tat betrachteten viele österreichische Juden den Kaiser aufgrund seiner Politik der Gleichberechtigung als ihren Schutzherrn. Franz Joseph I. galt nicht nur als »Philosemit«, sondern auch als Symbol für Kontinuität. Da die Juden wie kaum eine andere Gruppe die Idee der multinationalen Habsburgermonarchie verkörperten, mussten sie das Erstarken des Nationalismus und die Abkehr vom dynastischen Prinzip als Bedrohung ihrer Existenzgrundlage empfinden. Entsprechend unterstützten viele Juden während des Ersten Weltkriegs das Habsburgerreich publizistisch, so etwa Egon Friedell, oder kämpften in der k. u. k. Armee wie etwa Joseph Roth. Rückblickend schrieb Roth: »Damals fühlte ich, daß ich ein Österreicher bin: ein alter Österreicher. Alle Kaiser von Österreich waren meine Kaiser gewesen. Alle Kaiser von Österreich, die noch kommen könnten, werden meine Kaiser sein.«

Vgl. Schorske, Wien, S. 123; Roth, Gesicht, Zitat S. 367 (Herv. i. Orig.); Lichtblau, Lebensgeschichten, S. 19 – 24, 320; Unowsky, Pomp, S. 154 – 174; Viel, Friedell, S. 185 – 193; Leonhard, Büchse, S. 900. 

209 Die Behauptung, die Sozialdemokratie sei stets »jüdisch ausgeprägt« oder gar eine »Judenschutztruppe«, war ein weitverbreiteter antisemitischer Topos. Völkische Ideologen wie etwa Theodor Fritsch ignorierten dabei alle nichtjüdischen Arbeiterführer oder erklärten sie zu willfährigen Helfern und Agenten »der« Juden. Ziel dieser Agitation wurden etwa Politiker wie Engelbert Pernerstorfer, ursprünglich Initiator des Deutschen Schulvereins, Parteiführer der SDAP und ab 1907 Vizepräsident des Abgeordnetenhauses, oder Franz Schuhmeier, der als Mitglied der SDAP-Leitung sogar einem Attentat zum Opfer fiel. Sein Begräbnis am 16. 2. 1913, an dem laut Pressemeldungen eine halbe Million Menschen teilnahmen, war die bis dahin größte Massenversammlung in Wien. Erinnert sei außerdem an den Nachfolger Victor Adlers als Parteivorsitzender der SDAP, Karl Seitz, sowie an Karl Renner, Jakob Reumann, Adelheid Popp und ihren Gatten Julius Popp.

Vgl. Arbeiter-Zeitung vom 17. 2. 1913, »Franz Schuhmeiers letzte Fahrt«; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 530 – 547; Jetzinger, Jugend, S. 235; Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 7, S. 427. Zum Topos der »verjudeten« Sozialdemokratie vgl. Kap. I/5, Anm. 70.

Umstande keine besondere Bedeutung zu, lagen doch die Verhältnisse bei den anderen Zeitungen genau so.206 Nur eines war vielleicht auffallend: es gab nicht ein Blatt, bei dem sich Juden befanden, das als wirklich national angesprochen hätte werden können, so wie dies in der Linie meiner Erziehung und Auffassung gelegen war.207

Da ich mich nun aber# 1930: gestrichen: aber überwand und diese Art von marxistischen Presseerzeugnissen zu lesen versuchte, die Abneigung aber in eben diesem Maße ins Unendliche# 1937: Unendliche ersetzt durch: unendliche;
1939: Unendliche wuchs, suchte ich nun auch die Fabrikanten dieser zusammengefaßten Schurkereien näher kennenzulernen.

Es waren, vom Herausgeber angefangen, lauter Juden.

Ich nahm die mir irgendwie erreichbaren sozialdemokratischen Broschüren und suchte die Namen ihrer Verfasser: Juden.208 Ich merkte mir die Namen fast aller Führer; es waren zum weitaus größten Teil ebenfalls Angehörige des »auserwählten# 1939: auserwählten ersetzt durch: erwählten;
1944: auserwählten Volkes«209, mochte es sich dabei um die Vertreter im Reichsrat210 handeln oder um die Sekretäre der Gewerkschaften, die Vorsitzenden der Organisationen oder die Agitatoren der Straße. Es ergab sich immer das gleiche unheimliche Bild. Die Namen der Austerlitz, David, Adler, Ellenbogen usw. werden mir ewig in Erinnerung bleiben.211

Das eine war mir nun klar geworden# 1937: klar geworden ersetzt durch: klargeworden;
1939: klar geworden;
1944: klargeworden : die Partei, mit deren kleinen Vertretern ich seit Monaten den heftigsten Kampf auszufechten hatte, lag in ihrer Führung fast ausschließlich in den Händen eines fremden Volkes; denn daß der Jude kein Deutscher war, wußte ich zu meiner inneren glücklichen Zufriedenheit schon endgültig.

Nun aber erst# 1939: gestrichen: erst; 1944: wieder eingefügt: erst lernte ich den Verführer unseres Volkes ganz kennen.

Schon ein Jahr meines Wiener# 1939: Wiener ersetzt durch: Wieners [sic!];
1944: Wiener Aufenthaltes hatte genügt, um mir die Überzeugung beizubringen, daß kein Arbeiter so verbohrt sein konnte, als daß er nicht besserem Wissen und besserer Erklärung erlegen wäre. Ich war langsam Kenner ihrer eigenen Lehre geworden und verwendete sie als Waffe im Kampfe# 1944: Kampfe ersetzt durch: Kampf für meine innere Überzeugung.

Fast immer legte sich nun der Erfolg auf meine Seite.