Englands Kriegsziel nicht erreicht <span class="pagenumber">[271]</span>

54 Frankreich hatte im Ersten Weltkrieg an der Westfront die Hauptlast des Kampfs gegen die Mittelmächte getragen und konnte die Pariser Friedensverhandlungen daher in der Tat dominieren. Mit 8,1 Millionen Mann hatte es im Vergleich mit den anderen westlichen Siegermächten nicht nur die meisten Soldaten ins Feld geführt, sondern mit mehr als 1,3 Millionen Toten auch die schwersten Verluste erlitten. Zudem hatte der Krieg die nord- und ostfranzösischen Departements besonders hart getroffen: Circa 480.000 Häuser, darunter 750 historische Bauwerke, waren ganz oder teilweise zerstört; Straßen, Eisenbahnen und Kanäle waren oft auf Jahre hinaus unbrauchbar. Über 2.000 Brücken und Übergänge waren vernichtet; gleiches galt für die nordfranzösischen Kohlegruben und für eine große Zahl von Betrieben der Metall- und der Chemischen Industrie. Das politische Gewicht, das sich hieraus bei den Friedensverhandlungen für Frankreich ergeben musste, überwog selbst jenes der USA, deren Eingreifen den Ersten Weltkrieg letztlich entschieden hatte. Von einem »Diktat« französischer Interessen kann dennoch nicht die Rede sein, zumal Großbritannien und die USA für ihr Entgegenkommen nun ihrerseits Frankreichs Kompromissbereitschaft erwarteten. Auch das sorgte dafür, dass Frankreich seine Maximalforderungen, etwa die Abtrennung des Rheinlands vom Deutschen Reich, am Ende nicht durchsetzen konnte.

Vgl. Robbins, Eclipse, S. 105; Salewski, Weltkrieg, S. 335, 352 – 354; Thoss, Kriegsschäden, S. 660.

55 In Wirklichkeit waren die Handlungsspielräume der deutschen Vertreter während der Waffenstillstands- und Friedensvertragsverhandlungen der Jahre 1918/19 äußerst gering. Außerdem ignoriert Hitler die unter diesen Umständen durchaus bemerkenswerten Zugeständnisse, welche die deutsche Waffenstillstandsdelegation unter der Leitung von Matthias Erzberger erreichen konnte. So sollte das Rheinland administrativ weiterhin zu Deutschland gehören und in einem geringeren Umfang entmilitarisiert werden als ursprünglich vorgesehen. Darüber hinaus wurde eine Reduktion der Menge abzuliefernder Waffen und Transportmittel und eine Verlängerung der hierzu vorgesehenen Fristen erwirkt. Nur aufgrund dieser Voraussetzungen war der geordnete deutsche Rückzug überhaupt möglich, der vielen deutschen Soldaten die Kriegsgefangenschaft ersparte. Auch nach der Annahme der Friedensbedingungen am 7. 5. 1919 versuchte die deutsche Delegation unter Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau in einem »Notenkrieg« mit den Alliierten den Vertrag abzuändern und vor allem die alliierte Behauptung der deutschen Alleinschuld am Weltkrieg zu widerlegen. Doch waren sich die Reichsregierung, die Nationalversammlung und nicht zuletzt die militärische Führung darüber im Klaren, dass es letztlich unmöglich war, die Unterzeichnung des Versailler Vertrags noch weiter hinauszuzögern.

Vgl. Marhefka (Hrsg.), Waffenstillstand, Bd. 1, S. 22 ff.; Ritter/ Miller (Hrsg.), Revolution, Dok. 1, bes.S. 27; Schwabe (Hrsg.), Quellen, Dok. 26, 32, 35, 93, 110; Lentin, Lloyd George, S. 83; Kolb, Frieden, S. 35 – 37, 71 – 90; Anm. 1 in diesem Kapitel.

56 Die britischen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg waren längst nicht so statisch, wie von Hitler unterstellt; sie wandelten sich – wie bei allen kriegführenden Nationen – entsprechend dem Kriegsverlauf. Um die Unabhängigkeit Belgiens wiederherzustellen und das militärische Potenzial Deutschlands zu vermindern, wollte Großbritannien zunächst vor allem langfristig die Küstenlinien kontrollieren und Deutschland den Zugang zu den Ozeanen versperren. Die »globale maritime Vorherrschaft« sollte erhalten bleiben, »um den Zugang zu den Ressourcen des Empires zu sichern«. Ende 1917 legte sich Großbritannien auf die Forderung nach der Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich fest. Der deutsche Diktatfriede von Brest-Litowsk vom 3. 3. 1918 überzeugte die Alliierten schließlich, dass eine territoriale und ökonomische Eindämmung Deutschlands allein nicht genüge; notwendig sei zudem der Sturz der Hohenzollern-Dynastie. Deutschland sollte demokratisiert werden und in der wirtschaftlichen und politischen Nachkriegsordnung auf lange Zeit aus dem Kreis der Großmächte ausgeschlossen bleiben. Entsprechend war die dauerhafte politische, militärische und wirtschaftliche Schwächung Deutschlands ein klares Ziel des Versailler Vertrags. Allerdings betrachtete die britische Führung das Anwachsen der französischen Machtstellung und die hohen französischen Militärausgaben tatsächlich mit Sorge. Ein Streben nach politischer Hegemonie in Europa war für Frankreich indes letztlich keine Option, da es nicht nur die Beziehungen zu Großbritannien zu stark belastet hätte. Frankreich war zudem infolge seiner hohen Kriegsverluste und -schulden politisch und wirtschaftlich von Großbritannien und den USA abhängig.

Vgl. Peter, Kriegsziele, S. 99 – 118; Soutou, Kriegsziele (1994), S. 34, 37, 43, 48 – 50; Bell, France, S. 133 f.; Mommsen, Kriegsziele; Jackson, Security, S. 345 – 362; Leonhard, Büchse, Zitat S. 499; Kap. II/6, Anm. 37.

Bleigewicht auf den Entschlüssen der britischen Staatsmänner lasten. Mit der kolonial-, wirtschafts- und handelspolitischen Vernichtung Deutschlands war das britische Kriegsziel53 erreicht, was darüber hinausging, war eine Schmälerung englischer Interessen. An der#1929: An der ersetzt durch: Durch die Auslöschung eines deutschen Machtstaates im kontinentalen Europa konnten nur die Feinde Englands gewinnen. Dennoch war in den Novembertagen 1918 und bis zum Hochsommer 1919 hinein eine Umstellung der englischen Diplomatie, die ja in diesem langen Kriege mehr als je zuvor die gefühlsmäßigen Kräfte der breiten Masse gebraucht hatte, nicht mehr möglich. Sie war nicht möglich vom Gesichtspunkte der nun einmal gegebenen Einstellung des eigenen Volkes aus, und war nicht möglich angesichts der Lagerung der militärischen Machtverhältnisse. Frankreich hatte das Gesetz des Handelns an sich gerissen und konnte den anderen diktieren54; die einzige Macht jedoch, die in diesen Monaten des Feilschens und Handelns eine Änderung hätte herbeizuführen vermocht, Deutschland selber#1944: selber ersetzt durch: selbst, lag in den Zuckungen des inneren Bürgerkrieges und verkündete durch den Mund seiner sogenannten Staatsmänner immer wieder die Bereitwilligkeit zur Annahme eines jeden Diktates.55

Wenn nun im Völkerleben eine Nation, infolge des restlosen Mangels eines eigenen Selbsterhaltungstriebes, aufhört ein möglicher »aktiver« Bundesgenosse zu sein, pflegt sie zum Sklavenvolk herunterzusinken und ihr Land dem Schicksal einer Kolonie zu verfallen.

Gerade um Frankreichs Macht nicht übergroß anwachsen zu lassen, war eine Beteiligung Englands an seinen Raubgelüsten die einzig mögliche Form des eigenen Handelns.

Tatsächlich hat England sein Kriegsziel nicht erreicht. Das Emporsteigen einer europäischen Macht über die Stärkeverhältnisse des kontinentalen Staatensystems#1933: Staatensystems ersetzt durch: Staatssystems Europas#1937: Europas ersetzt durch: Europa;
1939: Europas hinaus wurde nicht nur nicht verhindert, sondern in erhöhtem Maße begründet.56