Abschreckung der Lauen <span class="pagenumber">[237]</span>

32 Interessanterweise beschäftigte sich die radikale Linke schon deutlich früher mit der Frage der parteiinternen Kaderbildung. 1902 entwickelte Wladimir Iljitsch Lenin in seiner programmatischen Schrift Was tun? seine Theorie einer »Avantgarde des Proletariats«, ohne die eine wirkliche Revolution nicht möglich sei. Es sei daher unabdingbar, »daß 1. keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben kann; 2. je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein […]; 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; 4. je mehr wir die Mitgliedschaft einer solchen Organisation einengen, […] um so schwieriger wird es in einem absolutistischen Lande sein, eine solche Organisation ›abzufangen‹, und 5. um so breiter wird der Kreis der Personen aus der Arbeiterklasse wie aus den übrigen Gesellschaftsklassen sein, die die Möglichkeit haben werden, an der Bewegung teilzunehmen und sich in ihr aktiv zu betätigen.« Dieses Prinzip der Machtkonzentration auf relativ wenige elitäre Kader wurde zur Grundlage der späteren sowjetischen Herrschaftspraxis. »Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats«, so Josef Stalin, sie übernehme die Verantwortung für alle Bereiche des staatlichen Handelns. Aus der Partei als dem »Sammelbecken der besten Elemente der Arbeiterklasse« sollte sich eine neue Elite rekrutieren, Kader, über die sich dann alles entscheide – so die oft zitierte Losung in Stalins Rede vom 4. 5. 1935. Die große Brutalität, mit der diese Nomenklatura formiert wurde, aber auch deren Ineffizienz vermitteln eine Vorstellung von den Abgründen eines Führungsverständnisses, das seinem Prinzip nach eigentlich in einem klaren Widerspruch zur marxistischen Vision einer klassenlosen Gesellschaft stand. Welchen Einfluss diese Theorien auf Hitlers Überlegungen gehabt haben, bleibt Spekulation. Die strukturellen Probleme, die sich aus einer von oben gelenkten Kaderbildung entwickelten, sind jedenfalls in beiden totalitären Systemen deutlich erkennbar. Aufgrund der längeren Lebensdauer des sowjetischen Modells zeigten sie sich dort insbesondere in der zunehmenden Verfestigung und Sklerosierung des Machtapparats jedoch sehr viel deutlicher.

Vgl. Lenin, Werke, Bd. 1, S. 175 – 324, Zitat S. 277 (Herv. i. Orig.); Stalin, Fragen, Zitate S. 151, 594; Voslensky, Nomenklatura; Studer/ Unfried, Parteikader; Kap. II/2, Anm. 48.

33 »Material« meint hier Menschen. Ein System zur Überprüfung neuer Parteimitglieder hat es damals in der NSDAP jedoch nicht gegeben. Vielmehr verkündete eines ihrer zentralen Werbeflugblätter: »Gründet überall Ortsgruppen!« Auch Hitlers frühe Denkschrift vom 22. 10. 1922 belegt, dass er die NSDAP mit allen Mitteln in eine Massenbewegung zu verwandeln suchte. So forderte er den systematischen Ausbau des Eher-Verlags durch »Einrichtung von 12 – 15 [regionalen] Geschäftsstellen«, eine finanzielle Beteiligung an einer Druckerei, die »Anstellung von vier Wanderrednern«, den Aufbau einer »Kraftwagenstaffel« sowie eine groß angelegte Flugblattoffensive.

Vgl. StA München, Polizeidirektion München, 6708: Flugblatt der NSDAP, o. D. ; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 411.

37 Mit derartigen Ansichten stand Hitler damals nicht allein. So hat der bekannte deutsche Soziologe Robert Michels, seit 1903 Mitglied der SPD, seit 1928 des Partito Nazionale Fascista, ähnliche Thesen in seinem Hauptwerk Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie vertreten, das 1911 in erster, 1925 in zweiter Auflage erschien. Dort entwickelt Michels das »Eherne Gesetz der Oligarchie«, demzufolge jede größere Menschengruppe eine bürokratische Organisation ausbilde und diese wiederum eine Machtelite, die leicht korrumpierbar sei und sich zunehmend an den eigenen Interessen, nicht aber an denen der Organisation orientiere. Auch zu den Problemen, die sich aus dem Wachstum einer politischen Partei ergeben können, hat sich Michels in ähnlicher Tendenz geäußert – wenn auch auf einem höheren intellektuellen und sprachlichen Niveau wie Hitler: »Anstatt daß die Partei mit wachsender Kraft und Stärke ihrer Organisation an revolutionärer Dynamik gewinnt, können wir heute gerade die entgegengesetzte Beobachtung machen: es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Wachstum der Partei und dem Wachstum an Vorsicht und Ängstlichkeit ihrer Politik. Die Partei, stets vom Staate gefährdet und in ihrer Existenz von ihm abhängig, ist groß geworden, ängstlich bemüht, alles zu vermeiden, was ihn übermäßig reizen könnte.«

Vgl. Michels, Soziologie, Zitate S. 346.

38 Vermutlich eine Kritik an jenen konkurrierenden völkischen Gruppen, die damals heftig gegen Hitler und seine Partei polemisierten. Ein besonders markantes Beispiel für diese Konkurrenz war 1925/26 der Nationalsoziale Volksbund, den Anton Drexler, der ehemalige Mitbegründer der (NS)DAP, zusammen mit mehreren Vertretern des Völkischen Blocks im Mai 1925 gegründet hatte. Die wichtigsten Protagonisten dieser winzigen Gruppierung – neben Drexler waren dies Edgar Stelzner und Friedrich Plümer – konnten aufgrund ihrer intimen Kenntnisse der NSDAP mit ihr und ihren Funktionären hart ins Gericht gehen und taten dies mitunter auch in Form von Flugschriften. So heißt es etwa in einer anonymen Druckschrift aus dem Jahr 1925: »Es ist nicht verwunderlich, wenn der Vertreter des ›Daily Mail‹ schreibt, daß er beim Verlassen des ›Hauptquartiers‹ Hitlers, der keinerlei große Eigenschaften besitze, den Eindruck gehabt habe, aus einem Irrenhaus zu kommen. Eines jedenfalls fehlt Hitler völlig: Logik und Menschenkenntnis.«

Vgl. Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 67, 70, 111; Bd. II/1, Dok. 26, 49, 159; Hitler und sein Anhang, Zitat S. 41 (Herv. i. Orig.); Plümer, Wahrheit; Plöckinger, Geschichte, S. 328 – 331; Kap. I/12, Anm. 146, 165.

Alle großen Bewegungen, mochten sie religiöser oder politischer Natur sein, haben ihre gewaltigen Erfolge nur der Erkenntnis und Anwendung dieser Grundsätze zuzuschreiben, besonders aber alle dauerhaften Erfolge sind ohne Berücksichtigung dieser Gesetze gar nicht denkbar.32

* * *

Ich habe mich als Propagandaleiter der Partei sehr bemüht, nicht nur für die Größe der späteren Bewegung den Boden vorzubereiten, sondern durch eine sehr radikale Auf‌fassung in dieser Arbeit auch dahin#1944: dahin ersetzt durch: darin gewirkt, daß die Organisation nur bestes Material erhalte.33 Denn je radikaler und aufpeitschender meine Propaganda war34, um so mehr schreckte dies Schwächlinge und zaghafte Naturen zurück und verhinderte deren Eindringen in den ersten Kern unserer Organisation.35 Sie sind vielleicht Anhänger geblieben, aber gewiß nicht mit lauter Betonung, sondern unter ängstlichem Verschweigen dieser Tatsache. Wieviel Tausende haben mir nicht damals versichert, daß sie ja an sich ganz einverstanden mit allem wären, aber nichtsdestoweniger unter keinen Umständen Mitglied sein könnten. Die Bewegung wäre so radikal, daß eine Mitgliedschaft bei ihr den einzelnen wohl schwersten Beanstandungen, ja Gefahren aussetze, so daß man es dem ehrsamen, friedlichen Bürger nicht verdenken dürfe, wenigstens zunächst beiseite zu stehen#1944: beiseite zu stehen ersetzt durch: beiseitezustehen, wenn er auch mit dem Herzen vollkommen zur Sache gehöre.36

Und das war gut so.37

Wenn diese Menschen, die mit der Revolution innerlich nicht einverstanden waren, damals alle in unsere Partei gekommen wären, und zwar als Mitglieder, so könnten wir uns heute als fromme Bruderschaft, aber nicht mehr als junge, kampfesfreudige Bewegung betrachten.38

Die lebendige und draufgängerische Form, die ich damals unserer Propaganda gab, hat die radikale Tendenz unserer Bewegung gefestigt und garantiert, da nunmehr wirklich nur radikale Menschen – von Ausnahmen abgesehen – zur Mitgliedschaft bereit waren.