Bethmann und Lloyd George als Redner <span class="pagenumber">[119]</span>

92 Diese Einschätzung entspricht der von Hitler schon in den Kapiteln Kriegspropaganda (I/6) und Die Revolution (I/7) prononcierten Überlegenheit der alliierten, vor allem der britischen über die deutsche Propaganda. Schon im August 1918 klagten die Münchner Neuesten Nachrichten: »Allein die englischen Minister zeichnen sich seit je durch einen politischen Offensivgeist aus, den wir leider bei unseren Staatsmännern immer noch schmerzlich vermissen. […]. Wo bleiben die entsprechenden deutschen Antworten auf schlagende aggressive Reden, wie sie immer wieder von England zu uns herübertönen?« Ernst von Reventlow verwies ebenfalls auf die große Wirkung, die schon die ersten Kriegsreden von Lloyd George gehabt hätten. Auch Erich Ludendorff stellte die Fähigkeiten Lloyd Georges dem angeblichen Versagen der deutschen Propaganda gegenüber. In Julius R. Roßbachs Broschüre Die Massenseele (1919) erscheint Lloyd George als »Virtuose in der Behandlung der Massen«. Insofern reproduzierte Hitler nur ein gängiges Klischee, als er am 21. 11. 1922 in München ausführte: »Lloyd George hat kürzlich gesagt, seine Rolle für England sei während des Krieges die eines Tambours gewesen. Für Deutschland war es ein Unglück, daß es keinen solchen Tambour gehabt hat. Was hatten wir an Stelle des Tambours? Wir hatten Parlamentswinsler während des Krieges und nach dem Zusammenbruch.«

Vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 9. 8. 1918, »Die Macht des Wortes«; Reichswart vom 23. 6. 1923, »Lloyd George bestätigt Dolchstoß«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 428, Zitat S. 736; Ludendorff, Kriegserinnerungen, S. 293 f.; Roßbach, Massenseele, Zitat S. 15; Damaschke, Geschichte, S. 264. Zu den Ressentiments Hitlers und der deutschen Rechten gegen Bethmann Hollweg vgl. Kap. II/2, Anm. 171.

93 Die Reichstagsreden Bethmann Hollwegs wurden während des Ersten Weltkriegs in der Regel in deutschen Zeitungen abgedruckt. Darüber hinaus erschien 1916 eine erste Sammlung von sechs »Kriegsreden«, 1919 wurden dann alle Reden des Reichskanzlers bis 1917 unter dem Titel Bethmann Hollwegs Kriegsreden publiziert. Der Historiker Friedrich Thimme meinte in seiner Einleitung dazu, dass sie »zu unserem besten Rüstzeug in dem geistigen Kampf mit unseren Gegnern« gehört hätten. Der völkische Publizist Hans von Liebig, der seit 1915 wüst gegen Bethmann Hollweg agitiert hatte, konstatierte hingegen 1922 ähnlich wie Hitler ein Versagen Bethmann Hollwegs, denn »kein leidenschaftliches Wort gegen irgend einen der Feinde des deutschen Volkes erklang während des Weltkrieges aus seinem Munde«. Lediglich bei der Verfolgung innenpolitischer Gegner sei der Reichskanzler von »echtem innerem Feuer beseelt« gewesen.

Vgl. Stuttgarter Neues Tagblatt vom 4. 11. 1919, »Bethmann Hollwegs Kriegsreden«; Thimme (Hrsg.), Kriegsreden (1919), Zitat S. VII; Liebig, Bethmann-Hollweg, Zitat S. 21.

94 In Wirklichkeit nahm die Öffentlichkeit in den Jahren 1925 – 1929 kaum mehr Notiz von der NSDAP – weder im Inland, geschweige denn im Ausland. Lediglich die 1925 in Bayern, Preußen, Hamburg, Sachsen, Baden, Hessen, Lübeck, Anhalt und Oldenburg verhängten Redeverbote gegen Hitler blieben zunächst noch bestehen, ehe sie zwischen März 1927 und September 1928 allesamt wieder aufgehoben wurden. Auch von einer systematischen politischen oder juristischen »Verfolgung«, wie Hitler sie hier insinuiert, kann keine Rede sein. Eindrücklich unterstreicht dies nicht zuletzt Hitlers eigene Biografie – vor allem das überaus milde Urteil gegen ihn nach dem gescheiterten Putschversuch vom 8./9. 11. 1923, seine geradezu luxuriösen Haftbedingungen im Festungsgefängnis in Landsberg am Lech sowie seine vorzeitige Haftentlassung am 20. 12. 1924.

Vgl. Einleitung, S.  ↗ –  ↗; Kap. II/1, Anm. 22. Zur frappierenden Milde der deutschen Justiz nach 1918 gegenüber der radikalen Rechten

vgl. Kap. II/9, Anm. 130, 209.

Man vergleiche damit das hilflose Gestammel eines Bethmann Hollweg#1930: Bethmann Hollweg ersetzt durch: Bethmann-Hollweg;
1937: Bethmann Hollweg.92 Scheinbar waren diese Reden freilich geistreicher, in Wirklichkeit aber zeigten sie nur die Unfähigkeit dieses Mannes, zu seinem Volke zu sprechen, das er eben nicht kannte.93 Trotzdem bringt es das durchschnittliche Spatzenhirn einer deutschen, wissenschaftlich natürlich höchst gebildeten Schreiberseele fertig, die Geistigkeit des englischen Ministers nach dem Eindruck abzuschätzen, den eine auf Massenwirkung abzielende Rede auf sein vor lauter Wissenschaft verkalktes Innere hinterläßt, und in Vergleich zu bringen zu der eines deutschen Staatsmannes, dessen geistreiches Geschwätz bei ihm natürlich auf einen empfänglicheren Boden trifft. Daß Lloyd George an Genialität einem Bethmann Hollweg#1933: Bethmann Hollweg ersetzt durch: Bethmann-Hollweg;
1937: Bethmann Hollweg nicht nur ebenbürtig, sondern tausendmal#1939: tausendmal ersetzt durch: tausend mal;
1944: tausendmal überlegen war, bewies er eben dadurch, daß er in seinen Reden jene Form und jenen Ausdruck fand, die ihm das Herz seines Volkes öffneten und dieses Volk endlich restlos seinem Willen dienen ließen. Gerade in der Primitivität dieser Sprache, der Ursprünglichkeit ihrer#1930: ihrer ersetzt durch: ihre;
1933: ihrer Ausdrucksformen und der Anwendung leicht verständlicher, einfachster Beispiele liegt der Beweis für die überragende politische Fähigkeit dieses Engländers. Denn die Rede eines Staatsmannes zu seinem Volk habe ich nicht zu messen nach dem Eindruck, den sie bei einem Universitätsprofessor hinterläßt, sondern an der Wirkung, die sie auf das Volk ausübt. Und dies allein gibt auch den Maßstab für die Genialität des Redners.

* * *

Die staunenswerte Entwicklung unserer Bewegung, die erst vor wenigen Jahren aus einem Nichts heraus gegründet wurde und heute schon für wert gehalten wird, von allen inneren und äußeren Feinden unseres Volkes auf das schärfste verfolgt zu werden, ist der steten Berücksichtigung und Anwendung dieser Erkenntnisse zuzuschreiben.94

So wichtig auch das Schrifttum der Bewegung sein mag, so wird es doch in unserer heutigen Lage größere Bedeutung für die gleiche