Die Notwendigkeit von Leitsätzen <span class="pagenumber">[97]</span>

25 Hitlers Betonung der essenziellen Bedeutung parteiinterner Eliten besitzt aufschlussreiche Parallelen zu Lenins Schrift Was tun? (1902). In ihr hob Lenin ausdrücklich hervor, dass der »zähe Kampf« einer Klasse niemals von einer führungslosen »millionenköpfige[n] Menge« geleistet werden könne, sondern ein solcher Kampf »talentvolle (Talente aber kommen nicht zu Hunderten zur Welt), bewährte, beruflich durchgebildete und in langen Jahren geschulte Führer« voraussetze, die »ausgezeichnet aufeinander eingespielt« sein sollten. In der sowjetischen Herrschaftspraxis fand dieser Gedanke seine Entsprechung in der Machtkonzentration auf die professionellen Kader der KPdSU. »Die Kader entscheiden alles« lautete dementsprechend eine häufig zitierte Losung, die Stalin am 4. 5. 1935 in einer Rede vor Absolventen der Akademie der Roten Armee im Kreml ausgab.

Vgl. Lenin, Werke, Bd. 1, Zitat S. 274 f.; Stalin, Fragen, S. 590 – 596, Zitat S. 594 (Herv. i. Orig.); Glaeßner, Herrschaft, S. 37 – 78; Kap. II/11, Anm. 32.

26 Hitlers Aussage trifft nur zum Teil zu und lässt wesentliche Faktoren außer Acht: »Innerhalb der durch ihre Größe gesetzten Grenzen«, so etwa der Militärhistoriker Martin van Creveld, »entspricht der Wert einer Armee als militärisches Instrument der Qualität und Quantität ihrer Ausrüstung, multipliziert mit ihrer ›Kampfkraft ‹ […]. [Diese] beruht auf geistigen, intellektuellen und organisatorischen Grundlagen und findet ihren Ausdruck in Disziplin und Zusammenhalt, Kampfmoral und Initiative, Mut und Härte, im Willen zum Kampf und der Bereitschaft, notfalls zu sterben. Die ›Kampfkraft‹ lässt sich, kurz gesagt, als die Summe der geistigen Qualitäten definieren, die Armeen zum Kämpfen bringt.« Entscheidend für den militärischen Erfolg ist dabei besonders die Qualität des Offiziers- und Unteroffizierskorps. Blinder Gehorsam und bloßer Drill können hingegen wertlos werden, wenn eine Armee auf einen besser ausgerüsteten oder taktisch überlegenen Gegner trifft. Dies zeigte sich etwa in den Schlachten bei Jena und Auerstedt am 14. 10. 1806, in denen das preußische Heer – die wohl »bestgedrillte« Truppe Europas – von den besser geführten und taktisch überlegenen Armeen Napoleons vernichtend geschlagen wurde. Charakteristisch für die deutsche Führung des Zweiten Weltkriegs war im Übrigen gerade das Fehlen einer übergreifenden strategischen Planungs- und Führungsinstanz sowie regelmäßige und systematische strategische Analysen. Allein bei Hitler liefen alle Fäden der deutschen Kriegsmaschinerie zusammen.

Vgl. Creveld, Kampfkraft, Zitat S. 4; Bichler, Krieg, bes.S. 155.

27 Diese These findet sich bereits in Gustave Le Bons Schrift Psychologie der Massen, mit dessen Gedankengut Hitler möglicherweise durch die 1919 veröffentlichte Broschüre Die Massenseele des Münchner Nervenarztes Julius R. Roßbach in Berührung kam. Le Bon vertrat die Auf‌fassung, dass »Ideen den Massen nur in sehr einfacher Gestalt zugänglich« seien. Um die »Massen« zu überzeugen, müssten daher stets »Verringerungen und Vereinfachungen« der eigentlichen Zusammenhänge vorgenommen werden – mit entsprechenden Konsequenzen: »Schon dadurch, daß eine Idee zu den Massen gelangt und hier zu wirken vermag, ist sie, mag sie ursprünglich noch so groß und wahr gewesen sein, beinahe alles dessen beraubt, was ihre Größe und Erhabenheit ausmacht.«

Vgl. Le Bon, Psychologie, S. 38 – 43, Zitat S. 40; Tyrell, Trommler, S. 54 – 56; Paul, Aufstand, S. 31 – 33; Kap. I/2, Anm. 113.

28 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Mein Kampf richtete sich die NS-Propaganda noch primär an die großstädtische Arbeiterschaft, ohne jedoch Kleinbürgertum und bäuerliche Landbevölkerung völlig auszuklammern. Aufgrund des geringen Erfolgs dieser Strategie begann die NSDAP seit Herbst 1927 mit einer Neuausrichtung und Ausweitung ihrer Propaganda, die sich neben der Arbeiterschaft nun auch stärker auf Bürgertum, Landbevölkerung und Wehrverbände konzentrierte. Hierauf kam Hitler am 30. 11. 1928 in einer Rede im fränkischen Hersbruck zu sprechen, in der er die NS-Bewegung als »keine Bewegung […] eines bestimmten Standes oder Berufes«, sondern als »eine deutsche Volkspartei« bezeichnete, die »alle Schichten der Nation« und jeden »blutmäßig[en]« Deutschen umfassen wolle, der willens sei, »seinem Volk zu dienen«. Hitlers Anspruch, die NSDAP zur ersten deutschen Volkspartei umzugestalten, ohne Rücksicht auf soziale, regionale und konfessionelle Grenzen, schien 1927/28 zwar noch utopisch, zwischen 1930 und 1933 lässt sich eine entsprechende Ausweitung der Anhängerschaft jedoch durchaus nachweisen.

Vgl. Hitler, Reden, Bd. III/1, Dok. 57, Zitat S. 262 f.; Stachura, Wendepunkt, bes.S. 71 – 90; Falter, Wähler, bes.S. 226 – 230, 285 – 289; Rösch, NSDAP, S. 167 – 170; Anm. 35 in diesem Kapitel.

glieder der geistigen Führung Gefolgschaft leisten. Das Entscheidende ist die Führung selbst.25 Wenn zwei Truppenkörper miteinander kämpfen, wird nicht derjenige siegen, bei dem jeder einzelne die höchste strategische Ausbildung erhielt, sondern derjenige, der die überlegenste Führung und zugleich die disziplinierteste, blindgehorsame#1933: blindgehorsame ersetzt durch: blindgehorsamste, bestgedrillte Truppe hat.26

Das ist eine grundsätzliche Einsicht, die wir bei der Überprüfung der Möglichkeit, eine Weltanschauung in die Tat umzusetzen, uns stets vor Augen halten müssen.

Wenn wir also, um eine Weltanschauung zum Sieg zu führen, sie zu einer Kampfbewegung umzustellen haben, so muß logischerweise das Programm der Bewegung auf das Menschenmaterial Rücksicht nehmen, das ihr zur Verfügung steht. So unverrückbar die Schlußziele und die leitenden Ideen sein müssen, so genial und psychologisch richtig muß das Werbeprogramm auf die Seele derjenigen eingestellt sein, ohne deren Hilfe die schönste Idee ewig nur Idee bleiben würde.

Wenn die völkische Idee aus dem unklaren Wollen von heute zu einem klaren Erfolg kommen will, dann muß sie aus ihrer weiten Gedankenwelt bestimmte Leitsätze herausgreifen, die ihrem Wesen und Inhalt nach geeignet sind, eine breitere Menschenmasse auf sich zu verpflichten27, und zwar diejenige, die allein den weltanschauungsmäßigen Kampf dieser Idee gewährleistet. Es ist dies die der deutschen#1929: Es ist dies die der deutschen ersetzt durch: Dies ist die deutsche Arbeiterschaft.28

Deshalb wurde das Programm der neuen Bewegung in wenigen, insgesamt fünfundzwanzig Leitsätzen zusammengefaßt.29 Sie sind bestimmt, in erster Linie dem Mann aus dem Volk#1937: Volk ersetzt durch: Volke;
1939: Volk ein grobes Bild des Wollens der Bewegung zu geben. Sie sind gewissermaßen ein politisches Glaubensbekenntnis, das einerseits für die Bewegung wirbt und anderseits#1930: anderseits ersetzt durch: andererseits sich eignet, die Geworbenen zu verbinden und zusammenzuschweißen durch eine gemeinsam anerkannte Verpflichtung.

Dabei darf uns folgende Einsicht nie verlassen: Da das sogenannte