Der Werdegang des Judentums <span class="pagenumber">[332]</span>

168 Die Vorstellung von den Juden als heuchlerische und egoistische Wohltäter findet sich bereits in der antisemitischen Literatur des 19. Jahrhunderts. So schrieb Wilhelm Marr in Goldene Ratten und rothe Mäuse (1880) – nachdem er seinen Lesern eine Berechnung des Vermögens und der davon abgeleiteten Zinsen des jüdischen Bankiers Rothschild in Paris präsentiert hatte: »Wenn nun der Pariser Rothschild für die Überschwemmten von Murcia die von den Judenzeitungen mit Emphase in alle Welt ausposaunte Summe von 150,000 Francs gezeichnet hat, so hat er für diese spanischen Oberschlesier etwa gezeichnet, was ihm sein Vermögen gestattet, in 7½ Stunden zu verzehren. Wem fällt bei dieser ›Großmuth‹ nicht die ›arme Wittwe‹ aus dem Evangelium ein?« Hitler erwähnt bei seiner Kritik an den jüdischen Wohltätern wohlweislich nicht, dass er in seiner Wiener Zeit selbst von jüdischen Sozialeinrichtungen profitiert hatte.

Vgl. Marr, Ratten, Zitat S. 18 (Herv. i. Orig.); Hamann, Wien, S. 499; Kap. I/10, Anm. 266.

171 Eine Anlehnung an das Klischee vom »reichen Juden«, das sich in zahlreichen antisemitischen Schriften findet, etwa in Franz Schrönghamer-Heimdals Judas, der Weltfeind (1919): »Man sieht, die Juden haben alle Geld, obwohl sie nicht arbeiten wie andere Sterbliche.« Damit wurde nicht nur insinuiert, »der Jude« sei in Bezug auf »Opferbereitschaft« kein Idealist wie der »Arier«, geleugnet wurde auch jegliche jüdische Armut. Der kommunistische Wiener Journalist Bruno Frei, ein Nachfahre Heinrich Heines, veröffentlichte 1920 ein Buch über Jüdisches Elend in Wien. Nicht nur der Text, auch die angefügten Fotografien liefern eindrückliche Beispiele für die zum Teil erschreckende Armut, unter der viele Juden in Wien litten. Mit Recht bezeichnete Frei die »Vorstellung, daß die Juden eine einheitliche Wirtschaftsgruppe bilden« als »absurd«; das jüdische Elend sei »nicht anders als das nichtjüdische«, würde allerdings kaum zur Kenntnis genommen. Tatsächlich war gerade die starke Zuwanderung galizischer Juden nach Wien eine Armutswanderung. Für viele Juden war die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in der Stadt allerdings vergebens: Sie gehörten in Wien zur ärmsten Bevölkerungsschicht und endeten mitunter als »Betteljuden«. Ähnliches gilt für die Juden im Deutschen Reich, etwa für jene Ostjuden, die während des Ersten Weltkriegs in Galizien und Polen angeworben oder zwangsrekrutiert wurden und die unter katastrophalen hygienischen Bedingungen im Berliner Scheunenviertel lebten – einem Elendsviertel unweit des Alexanderplatzes.

Vgl. Schrönghamer-Heimdal, Judas, Zitat S. 10; Frei, Elend, Zitate S. 22 f.; Hödl, Bettler, S. 147 – 155; Saß, Luftmenschen, S. 11, 77, 83 – 85, 99 f.; Bajohr, Geld; Kap. I/2, Anm. 180.

172 Hitlers Kritik am Liberalismus entsprach ganz dem Denken der deutschen Rechten, für die diese politische Strömung stets ein zentrales Feindbild darstellte. So prononcierte Oswald Spengler in seiner Schrift Preußentum und Sozialismus (1920) den Gegensatz zwischen »preußischem Sozialismus« und britischem Liberalismus: England habe aufgrund seines »Inseldaseins« eine Kultur der individuellen Freiheit begründet, wohingegen Preußen, bedingt durch die ständige Bedrohung an seinen Grenzen, seine Freiheit durch den Gehorsam gegenüber dem Kollektiv definiere. Das Preußentum verkörpere ein »System sozialer Pflichten«, das ganz im Widerspruch zum individualistischen englischen Modell stehe. Letzteres bedeute »freie[n] Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr.« 1928 forderte der völkische Publizist Wilhelm Stapel, der Liberalismus müsse »ausgerottet werden«, damit das deutsche Volk durch die »Zeiten der Verwüstung des Leibes und der Seelen hindurch[ge]rette[t]« werden könne.

Vgl. Spengler, Preußentum, Zitate S. 14, 32 f., 38; Stapel/ Niedergall, Weltanschauung, Zitat S. 520; Vordermayer, Bildungsbürgertum, S. 51 – 55.

verstehen, wie schwer dem Juden diese Umstellung werden muß. Ja, es ist eine mühsame Arbeit, sich den abgehäuteten Opfern167 nun auf einmal wieder# 1926: nun auf einmal wieder ersetzt durch: auf einmal als »Freund der Menschen« vorzustellen.

Er beginnt# 1930: beginnt ersetzt durch: geht denn auch zunächst in# 1930: zunächst in ersetzt durch: zunächst daran, in den Augen des Volkes wieder gut zu machen# 1937: gut zu machen ersetzt durch: gutzumachen;
1939: gut zu machen;
1944: gutzumachen , was er bisher an ihm verbrochen hatte. Er eröffnet# 1930: eröffnet ersetzt durch: beginnt seine Wandlung als »Wohltäter« der Menschheit.168 Da seine neue Güte einen realen Grund besitzt# 1930: besitzt ersetzt durch: hat , kann er sich auch nicht gut an das alte Bibelwort halten, daß die Linke nicht wissen solle, was die Rechte gibt169, sondern er muß sich wohl oder übel damit abfinden, möglichst viele wissen zu lassen, wie sehr er nun# 1926: gestrichen: nun die Leiden der Masse empfindet und was alles er dagegen persönlich an Opfern bringt. In dieser ihm nun einmal angeborenen »Bescheidenheit«# 1926: »Bescheidenheit« ersetzt durch: Bescheidenheit trommelt er nun# 1926: gestrichen: nun seine Verdienste in die übrige Welt solange# 1937: solange ersetzt durch: so lange hinaus, bis diese wirklich daran zu glauben beginnt. Wer nicht daran glaubt, tut ihm dann# 1926: gestrichen: dann bitter unrecht# 1930: unrecht ersetzt durch: Unrecht . In kurzer Zeit schon fängt er nun# 1926: gestrichen: nun an, die Dinge so zu drehen, als ob bisher überhaupt nur ihm immer Unrecht zugefügt worden wäre und nicht umgekehrt.170 Besonders Dumme glauben dies und können dann nicht anders, als den armen »Unglücklichen« zu bedauern.

Im übrigen wäre hier noch zu bemerken, daß der Jude bei aller Opferwilligkeit# 1930: Opferwilligkeit ersetzt durch: Opferfreudigkeit persönlich natürlich dennoch nie verarmt.171 Er versteht es, sich schon# 1926: es, sich schon ersetzt durch: es schon, sich;
1930: schon einzuteilen; ja, manchmal ist seine Wohltat wirklich nur mit dem Dünger zu vergleichen, der auch nicht aus Liebe zum Feld auf dieses gestreut wird, sondern aus Voraussicht# 1937: Voraussicht ersetzt durch: Vorsicht;
1939: Voraussicht für das spätere eigene Wohl. Auf jeden Fall aber weiß in verhältnismäßig kurzer Zeit alles, daß der Jude nun# 1926: gestrichen: nun ein »Wohltäter und Menschenfreund« geworden ist. Welch ein eigentümlicher Wandel!

Was aber bei anderen mehr oder weniger als selbstverständlich gilt, erweckt hier# 1930: gestrichen: hier schon aus diesem Grunde# 1930: aus diesem Grunde ersetzt durch: deshalb höchstes Erstaunen und# 1930: Erstaunen und ersetzt durch: Erstaunen, ja bei vielen ersichtliche Bewunderung# 1930: Bewunderung ersetzt durch: Bewunderung, weil es bei ihm eben nicht selbstverständlich ist . So kommt es, daß man ihm deshalb# 1930: gestrichen: deshalb auch jede solche Tat noch um vieles höher anrechnet als der übrigen Menschheit, bei der dies als selbstverständlich gilt# 1930: Menschheit, bei der dies als selbstverständlich gilt ersetzt durch: Menschheit .

Aber noch mehr: der# 1944: der ersetzt durch: Der Jude wird auf einmal auch »liberal«# 1926: »liberal« ersetzt durch: liberal und fängt an, vom notwendigen »Fortschritt«# 1926: »Fortschritt« ersetzt durch: Fortschritt der Menschheit zu schwärmen.172