Die gewaltigste Schule der deutschen Nation <span class="pagenumber">[296]</span>

274 Hitlers romantisierende Darstellung des Alten Heeres kontrastiert mit mehreren gravierendenden Missständen dieser Institution. So waren Demütigungen fester Bestandteil der Rekrutenausbildung; auch kam es vereinzelt zu körperlichen Misshandlungen. Die erhöhte Selbstmordrate in den Kasernen, die auch in anderen Armeen auftrat, zeugt von der hohen Belastung, der die Rekruten ausgesetzt waren. Das Alte Heer war auch hinsichtlich Verpflegung und Sold ein Klassensystem. Verschärft wurden die starken Ungleichheiten durch das Modell der Einjährig-Freiwilligen, das es den Söhnen wohlhabender Familien ermöglichte, die üblicherweise dreijährige Dienstzeit auf ein Drittel zu reduzieren. Trotz dieser Härten und Missstände war der innere Zusammenhalt der Truppe, zumindest an der Front während der Jahre 1914 – 1918, sehr hoch, was nicht zuletzt im spezifischen Selbstverständnis und in den neuen, zeitgemäßen Führungsmethoden begründet lag. Sie wurden zum Modell für die neuen Ausbildungsvorschriften und Führungsgrundsätze der Reichswehr. Schon aufgrund dieser Ambivalenz tat man sich nach 1918 schwer, zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen. Kriegserinnerungen linksorientierter Autoren, die das Bild des Heeres als einer geschlossenen Kameradschaft in Zweifel zogen, riefen scharfe Attacken aus dem rechten Lager, aber auch großes Publikumsinteresse hervor. Heinrich Wandts Etappe Gent. Streiflichter zum Zusammenbruch (1920) erreichte eine Auflage von rund 250.000 Exemplaren. 1929 legte der Militärhistoriker Martin Hobohm im Auftrag des Untersuchungsausschusses des Reichstags über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918 ein umfangreiches Gutachten zum Thema Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918 vor. In ihm werden unter anderem überharte Strafmethoden, Korruption sowie ungleiche Ernährung, Löhnung, Unterbringung und Beförderung zu den »Hauptmißständen« des Alten Heeres gerechnet.

Vgl. Die Ursachen des deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918, Bd. 11/1, bes.S. 80 – 194; Frevert, Nation, S. 245 – 271; Kühne, Kameradschaft, bes.S. 58 – 62; Schneider u. a. (Hrsg.), Autoren, S. 11.

275 Eine Anspielung auf die in der preußisch-deutschen Armee verankerte Tradition einer vergleichsweise selbstständigen Führung. Durch dieses Führungsverständnis sollten zwar keinesfalls Hierarchie und Befehlsweg aufgehoben werden, allerdings galt es gerade die Initiative der Offiziere der unteren Ebenen zu fördern, indem das Ziel, nicht jedoch die Mittel vorgegebenen wurden. Nachdem sich im deutschen Heer die »Auftragstaktik« als Führungsprinzip um die Jahrhundertwende endgültig durchgesetzt hatte, war dieses vergleichsweise liberale Führungsprinzip mitverantwortlich für die hohe Leistungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte. Es behielt auch im Zweiten Weltkrieg bei Wehrmacht und Waffen-SS ihre Gültigkeit. Der Kommandierende General des II. SS-Panzerkorps, SS-Obergruppenführer Paul Hausser, brachte es in einem Befehl an die ihm untergebenen Offiziere etwa am 12. 7. 1943 folgendermaßen zum Ausdruck: »Abwarten ist immer falsch. Ein Führer muss handeln!«

Vgl. Stadler (Hrsg.), Offensive, S. 108; Leistenschneider, Auftragstaktik.

276 Gemeint ist der Dawes-Plan, gegen den rechte Kreise 1924/25 heftig polemisierten – nicht zuletzt mit antisemitischen Argumenten: So behauptete etwa Alfred Rosenberg in seinem Pamphlet Die internationale Hochfinanz als Herrin der Arbeiterbewegung in allen Ländern (1925), mit dem Dawes-Plan habe sich die von »jüdischem Finanzkapital« getragene »amerikanische Hochfinanz« als der »eigentliche Regent Deutschlands« erwiesen. Identisch argumentierte Gregor Straßer in der NS-Zeitschrift Der Weltkampf. Straßer konstatierte: »Der Dawesplan ist nichts anderes als das jüdische Versailles der deutschen Volkswirtschaft.« Davon, dass der Dawes-Plan Deutschland einseitig diktiert worden sei, konnte indes keine Rede sein. Vielmehr nahm die deutsche Delegation an der Londoner Konferenz vom Juli/August 1924, die das Dawes-Abkommen vorbereitete, als gleichberechtigter Verhandlungspartner teil. Der Delegation gehörte neben Wilhelm Marx, Gustav Stresemann und Hans Luther auch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht an, den Hitler 1934 als Reichswirtschaftsminister berief.

Vgl. Rosenberg, Hochfinanz, Zitate S. 26 f.; Straßer, Weltherrschaft, Zitat S. 629; Hildebrand, Reich (2008), S. 446 f.; Anm. 50 in diesem Kapitel.

278 Das System der Einjährig-Freiwilligen wurde erstmals 1813 in Preußen etabliert, im Vorfeld der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Statt der üblichen dreijährigen Dienstzeit hatten Einjährig-Freiwillige nur ein Jahr zu dienen. 1867 wurden entsprechende Regelungen auf den Norddeutschen Bund, 1871 auf das Deutsche Reich ausgedehnt. Das Gesetz, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste vom 9. 11. 1867 bestimmte: »Junge Leute von Bildung, welche sich während ihrer Dienstzeit selbst bekleiden, ausrüsten und verpflegen, und welche die gewonnenen Kenntnisse in dem vorschriftsmäßigen Umfange dargelegt haben, werden schon nach einer einjährigen Dienstzeit im stehenden Heere […] zur Reserve beurlaubt.« Sollte diese Regelung ursprünglich vor allem die knappe preußische Staatskasse entlasten, so wurde dieses Modell im Kaiserreich zunehmend zu einem Klassenprivileg. Mit entsprechendem Argwohn wurde es von den übrigen Wehrpflichtigen betrachtet und vor allem von der SPD kritisiert.

Vgl. Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1867, S. 131 – 136, Zitat S. 133; Höhn, Sozialismus, Bd. 2, S. 338 – 351; Mertens, Privileg; Neugebauer (Hrsg.), Handbuch, Bd. 3, S. 68 – 70; Anm. 81 in diesem Kapitel.

ment; es erzog weiter zum persönlichen Mute# 1944: Mute ersetzt durch: Mut in einem Zeitalter, da die Feigheit zu einer grassierenden Krankheit zu werden drohte und die Opferwilligkeit, sich für das allgemeine Wohl einzusetzen, schon fast als Dummheit angesehen wurde, und klug nur mehr derjenige zu sein schien, der das eigene »Ich« am besten zu schonen und zu fördern verstand; es war die Schule, die den einzelnen Deutschen noch lehrte, das Heil der Nation nicht in den verlogenen Phrasen einer internationalen Verbrüderung zwischen Negern, Deutschen, Chinesen, Franzosen, Engländern usw. zu suchen273, als vielmehr# 1926: als vielmehr ersetzt durch: sondern in der Kraft und Geschlossenheit des eigenen Volkstums.274

Das Heer erzog zur Entschlußkraft, während im sonstigen Leben schon Entschlußlosigkeit und Zweifel die Handlungen der Menschen zu bestimmen begannen.275 Es wollte etwas heißen, in einem Zeitalter, da die Neunmalklugen überall den Ton angaben, den Grundsatz hochzuhalten, daß ein Befehl immer besser ist als keiner. In diesem einzigen Grundsatze steckte eine noch# 1944: eine noch ersetzt durch: noch eine unverdorbene, robuste Gesundheit, die unserem sonstigen Leben schon längst abhanden gekommen wäre, wenn eben# 1926: gestrichen: eben nicht das Heer und seine Erziehung für die immerwährende Erneuerung dieser Urkraft gesorgt hätten. Man braucht ja nur die entsetzliche Entschlußlosigkeit unserer jetzigen Reichsführung zu sehen, die sich zu keiner Tat aufzuraffen vermag, außer es handelt sich um die erzwungene Unterschreibung eines neuen Ausplünderungsdiktates276; in diesem Falle lehnt sie dann freilich jede Verantwortung ab und unterschreibt mit der Fixigkeit eines Kammerstenographen alles, was man ihr auch nur vorzulegen für gut befindet, denn in diesem Falle ist der Entschluß leicht zu fassen: er wird ihr ja »diktiert«# 1926: »diktiert« ersetzt durch: diktiert .277

Das Heer erzog weiter# 1926: gestrichen: weiter zum Idealismus und zur Hingabe an das Vaterland und seine Größe, während das sonstige Leben schon zur einzigen Domäne der Habsucht und des Materialismus geworden war# 1930: das sonstige Leben schon zur einzigen Domäne der Habsucht und des Materialismus geworden war ersetzt durch: im sonstigen Leben Habsucht und Materialismus um sich gegriffen hatten . Es erzog ein einiges Volk gegenüber der Trennung in Klassen und hatte hier vielleicht# 1933: vielleicht ersetzt durch: vieleicht [sic!];
1937: vielleicht als einzigen Fehler die Einjährigfreiwilligen-Einrichtung# 1939: Einjährigfreiwilligen-Einrichtung ersetzt durch: Einjährig-Freiwilligen-Einrichtung;
1944: Einjährigfreiwilligen-Einrichtung 278 aufzuweisen. Fehler deshalb, weil durch sie das Prinzip der unbedingten Gleichheit durchbrochen und der Höhergebildete wieder aus dem Rahmen# 1926: aus dem Rahmen ersetzt durch: außerhalb des Rahmens der allgemeinen Um-