Früh reif und vorzeitig alt <span class="pagenumber">[269]</span>

139 Ob Hitler hier auf spezielle Ereignisse anspielt, lässt sich nicht ermitteln. Außer Zweifel steht zwar, dass im Kaiserreich und in der Weimarer Republik auch pubertierende Jugendliche an Syphilis erkrankten, genaue Zahlen lassen sich für diese Altersgruppe jedoch ebenso wenig wie für die Gesamtbevölkerung ermitteln. Warnungen vor einer zu frühen Sexualisierung der Jugend und ihrer Gefährdung durch Geschlechtskrankheiten waren indes gang und gäbe. In der Broschüre Die sexuelle Not der Jugend (1919) heißt es etwa, dass »Jugendliche einen immer wachsenden Prozentsatz an der Gesamtzahl der venerischen Erkrankungen in Deutschland stellen« würden, eine Entwicklung, von der »sogar schon [die] Schuljugend« betroffen sei. Als Reaktion auf die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter Jugendlichen wurde vor und nach 1918 intensiv über die Frage der Sexualaufklärung gestritten. Vor allem Vertreter der Ärzte- und Lehrerschaft sowie der Frauenbewegung forderten eine bessere Vermittlung anatomischen und physiologischen Wissens an den Schulen. Hiergegen formierte sich jedoch massiver Widerstand vor allem von Seiten der Kirchen, die eine Sexualaufklärung im Schulunterricht strikt ablehnten und eine an traditionellen christlichen Sittlichkeitsvorstellungen ausgerichtete Belehrung der Jugend für ausreichend hielten. Diese sollte von den Eltern, vor allem von den Müttern, geleistet werden.

Vgl. Lüdtke, Not, Zitate S. 31, 37; Schuster, Sexualaufklärung; Sauerteig, Krankheit, S. 227 – 264; Anm. 94 in diesem Kapitel.

141 Diesen totalitären Anspruch versuchten die Nationalsozialisten im Dritten Reich durch eine straff zentralisierte und indoktrinierende Kulturpolitik zu realisieren. Die entscheidende Institution war hier das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, zu dessen Leitung Joseph Goebbels am 13. 3. 1933 berufen wurde. Gemäß Hitlers Verordnung über die Aufgaben des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda vom 30. 6. 1933 war Goebbels »zuständig für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation, der Werbung für Staat, Kultur und Wirtschaft, der Unterrichtung der in- und ausländischen Öffentlichkeit über sie und der Verwaltung aller diesen Zwecken dienenden Einrichtungen«. Hierzu wurden durch das Reichskulturkammergesetz vom 22. 9. 1933 Kammern für Schrifttum, Presse, Rundfunk, Theater, Musik und bildende Künste errichtet. Für Kulturschaffende war die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer obligatorisch; Nichtaufnahme oder Ausschluss bedeutete Berufsverbot. Juden fanden in der Reichskulturkammer keine Aufnahme. Auch politisch missliebigen Personen blieb die Mitgliedschaft verwehrt.

Vgl. RGBl. 1933/I, S. 449, 661 f., Zitat S. 449; Steinweis, Art, S. 32 ff.; Barbian, Beherrschung; Mühlenfeld, Kommissariat; Dahm, Reichskulturkammer; Kap. II/11, Anm. 21.

142 Dieser Satz wurde im Dritten Reich häufig zur Begründung und Legitimierung eines dezidiert rassenideologisch ausgerichteten Volksgemeinschaftsdenkens herangezogen. Friedbert Schultze etwa, führende Figur in der 1932 gegründeten Nordischen Glaubensgemeinschaft, betonte in der Broschüre So lebst du deutsch! Das Sittengesetz des deutschen Menschen (1937), das Leben gewinne erst »durch den Zusammenhang mit einer Gemeinschaft […] seinen Wert«. Zwar erfordere die »eigene Persönlichkeit […] Freiheit für sich«, jedoch keine Freiheit als »selbstsüchtiges Ausleben der eigenen Triebe«. »Sittliche Freiheit« diene vielmehr »dem Ganzen aus eigener Verantwortung. Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht der Erhaltung der Rasse (Hitler)«.

Vgl. Schultze, Sittengesetz, Zitat S. 70 (Herv. i. Orig.); Mogge, Jugendbünde, S. 57; Kap. I/2, Anm. 128.

führt zu Vorstellungen und Erregungen in einer Zeit, da der Knabe für solche Dinge noch gar kein Verständnis haben dürfte. Das Ergebnis dieser Art von Erziehung kann man aber# 1926: gestrichen: aber an der heutigen Jugend auch# 1926: gestrichen: auch in nicht gerade erfreulicher Weise studieren. Sie ist frühreif und damit aber# 1926: gestrichen: aber auch vorzeitig alt geworden. Aus den Gerichtssälen dringen manches Mal Vorgänge an die Öffentlichkeit, die grauenhafte Einblicke in das Seelenleben unserer 14- und 15jährigen# 1939: 14- und 15jährigen ersetzt durch: Vierzehn- und Fünfzehnjährigen;
1944: 14- und 15jährigen gestatten. Wer will sich da wundern, daß schon in diesen Alterskreisen die Syphilis ihre Opfer zu suchen beginnt?139 Und ist es nicht ein Jammer, zu sehen, wie so mancher körperlich schwächliche, geistig aber verdorbene junge Mensch seine Einführung in die Ehe durch eine großstädtische Hure vermittelt erhält?

Nein, wer der Prostitution zu Leibe gehen will, muß in erster Linie die geistige Voraussetzung zu derselben beseitigen helfen. Er muß mit dem Unrat unserer sittlichen Verpestung der großstädtischen »Kultur«140 aufräumen, und zwar rücksichtslos und ohne Schwanken vor allem Geschrei und Gezeter, das dann# 1926: gestrichen: dann natürlich losgelassen werden wird. Wenn wir die Jugend nicht aus dem Morast ihrer heutigen Umgebung herausheben, wird sie in demselben untersinken [sic!]. Wer diese Dinge nicht sehen will, unterstützt sie und macht sich dadurch zum Mitschuldigen an der langsamen Prostituierung unserer Zukunft, denn die liegt nun einmal in der werdenden Generation# 1926: denn die liegt nun einmal in der werdenden Generation ersetzt durch: die nun einmal in der werdenden Generation liegt . Dieses Reinemachen unserer Kultur hat sich dann# 1926: gestrichen: dann auf fast alle Gebiete zu erstrecken. Theater, Kunst, Literatur, Kino, Presse, Plakat und Auslagen sind von den Erscheinungen einer verfaulenden Welt zu säubern und in den Dienst einer sittlichen Staats- und Kulturidee zu stellen.141 Das öffentliche Leben muß von dem erstikkenden Parfüm unserer modernen Erotik befreit werden, genau so wie aber auch# 1926: gestrichen: aber auch von jeder unmännlichen prüden Unaufrichtigkeit. In allen diesen Dingen muß das Ziel und der Weg bestimmt werden von der Sorge für die Erhaltung der Gesundheit unseres Volkes an Leib und Seele. Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht der Erhaltung der Rasse.142

Erst nach der Durchführung dieser Maßnahmen kann der medizinische Kampf gegen die Seuche selber mit einiger Aussicht auf Er-