Die Syphilis <span class="pagenumber">[260]</span>

94 Aufgrund fehlender Meldepflicht und ungenauer Nachweisverfahren lässt sich die Verbreitung der Syphilis im Deutschen Reich vor 1918 nicht genau bestimmen. Seit 1900 wurden jedoch häufig Schätzungen und Hochrechnungen publiziert, die meist das (kultur-)pessimistische Bild einer gesamtgesellschaftlichen »Verseuchung« zeichneten und das Bewusstsein der Zeitgenossen entsprechend prägten. Dass Fachleute auf die Unzuverlässigkeit entsprechender Zahlen hinwiesen, änderte daran nur wenig. Im Gegenteil: Um die Jahrhundertwende war die Auffassung verbreitet, im Durchschnitt werde jeder erwachsene Mann einmal in seinem Leben geschlechtskrank. Die Angst vor einer Infektion mit Syphilis war um 1900 auch in Wien allgegenwärtig. Stefan Zweig zählte sie in seinen Erinnerungen zu jenen Erfahrungen, von denen seine gesamte Generation geprägt worden sei. Auch der junge Hitler berichtete nach der Darstellung August Kubizeks mehrfach von seiner Furcht vor einer Erkrankung – eine Furcht, auf die er, den Empfehlungen alldeutscher Kreise entsprechend, sehr wahrscheinlich mit sexueller Enthaltsamkeit reagierte.

Vgl. Zweig, Welt, S. 105 – 109; Kubizek, Hitler, S. 286; Hamann, Wien, S. 521 – 525; Sauerteig, Krankheit, S. 68 – 88; Zschiegner, Frauen, S. 241 – 249.

95 Noch lange nach der Entdeckung des Krankheitserregers durch Robert Koch im Jahr 1882 blieb die Tuberkulose (zeitgenössisch meist Schwindsucht genannt) die häufigste Todesursache in Europa. Im Kaiserreich gingen zwischen 1892 und 1914 durchschnittlich 10 % aller Sterbefälle auf sie zurück. Noch prekärer war die Lage in Österreich-Ungarn und vor allem in Wien, wo der Anteil der Tuberkulose unter den Todesursachen 1895 bei knapp 23 % lag. Obgleich Wien hierbei noch von anderen europäischen Metropolen wie Madrid, Sankt Petersburg und Moskau übertroffen wurde, bürgerte sich um die Jahrhundertwende der Begriff »Wiener Krankheit« als Synonym für die Tuberkulose ein. Gerade in den Massenunterkünften der Stadt, die Hitler im Winter 1909/10 selbst erlebte, war die Krankheit allgegenwärtig. 1913, als Hitler nach München übersiedelte, gingen knapp 20 % der Sterbefälle in Wien auf die Tuberkulose zurück. Bis 1920 sank diese Quote auf rund 15 %.

Vgl. Bevölkerung und Wirtschaft 1872 – 1972, S. 121; Sandgruber, Exklusivität, S. 77; Hamann, Wien, S. 215 – 217; Dietrich-Daum, Krankheit, bes.S. 103 – 181. 

96 Hitlers auffällige Fixierung auf das Thema Syphilis – er widmet ihm im Folgenden nicht weniger als zehn Seiten – ist auch im Zusammenhang mit seinen Weltkriegserfahrungen zu sehen. Zwar ist keine entsprechende Infektion Hitlers bekannt, doch war die Syphilis im deutschen Heer ein viel diskutiertes Thema, mit dem auch Hitler sehr wahrscheinlich konfrontiert wurde. Schon früh sah sich die militärische Führung zu Aufklärungskampagnen veranlasst, um vor der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten in der Truppe zu warnen. Ein offizieller, auch von den großen Gewerkschaften unterzeichneter »Mahnruf«, der vor allem die Gefahren der Prostitution beschwor und die »Kraft und Gesundheit des Heeres« zur »erste[n] Voraussetzung für den endgültigen Sieg« erklärte, wurde allein in der zweiten Jahreshälfte 1915 in rund fünf Millionen Exemplaren unter den deutschen Soldaten verteilt. Die Verbreitung venerischer Krankheiten im deutschen Heer war tatsächlich ein Problem – in der Etappe noch deutlich mehr als an der Front. Insgesamt wurden während des Kriegs in 713.491 Fällen deutsche Soldaten wegen venerischer Erkrankungen in Lazaretten behandelt, wobei die Syphilis mit rund 30 % hinter Tripperinfektionen die zweithäufigste Behandlungsursache war.

Vgl. Sanitätsbericht über das Deutsche Heer, Bd. 3, S. 163 – 168; Sauerteig, Krankheit, bes.S. 206 – 208, 297 f., 349 f., Zitat S. 207.

97 Zweifel an der Effektivität staatlicher Gesundheitspolitik waren in der öffentlichen Debatte über die Syphilis weitverbreitet und zum Teil berechtigt. 1914, nach über 20jähriger Beschäftigung mit Geschlechtskrankheiten, resümierte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten Alfred Blaschko auf dem 17. Internationalen Medizinischen Kongress in London: »Selbst die Anhänger der [staatlichen] Reglementierung geben zu, daß dieses System in der Praxis sehr unvollkommen ist und nicht die gewünschten Erfolge zeigt.« Der Anstieg und Rückgang der Geschlechtskrankheiten sei offenbar »durch ganz andere Faktoren« bedingt als durch das »Vorhandensein oder Fehlen der Reglementierung«. Hitlers Behauptung, die Ausbreitung der Syphilis sei im Kaiserreich tatenlos hingenommen worden, ist gleichwohl stark überzeichnet: Durch eine Reform des Sozialversicherungsrechts erhielten Geschlechtskranke seit 1903 den Anspruch auf Übernahme der Behandlungskosten. Vielen sozial Schwachen wurde erst seitdem medizinische Betreuung zuteil. Auch auf Landesebene wurde reagiert. Das preußische Gesetz, betreffend die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten vom 28. 8. 1905 bestimmte etwa Überwachung und Behandlungszwang von infizierten Prostituierten. Im Ersten Weltkrieg wurde ferner ein System von Fürsorge- und Beratungsstellen eingerichtet, in denen vor allem die Arbeiterschaft Aufklärung und ärztlichen Rat erhalten sollte.

Vgl. Blaschko, Gefahren, Zitat S. 6 f.; Sauerteig, Krankheit, bes.S. 141 – 186, 319 – 344; Linder, Gesundheitspolitik, S. 290 – 296.

98 Gemeint ist das Arzneimittel Salversan. Es kam 1910 auf den Markt und ermöglichte erstmals eine erfolgreiche medikamentöse Behandlung der Syphilis. Entwickelt wurde es in jahrelangen Laborexperimenten durch den in Frankfurt am Main tätigen deutsch-jüdischen Mediziner und Nobelpreisträger Paul Ehrlich und durch dessen japanischen Assistenten Sahachiro Hata. Hitlers völlig abwegige, ja zynische Kritik an diesem Medikament und seiner »geschäftstüchtigen Anwendung« ist eine Folge der in völkischen Texten immer wieder eingestreuten Geringschätzung und Diffamierung Ehrlichs, der von jüdischer Seite oft und völlig zu Recht als Beispiel für die Leistungen deutscher Wissenschaftler jüdischer Herkunft angeführt wurde.

Vgl. Sauerteig, Krankheit, S. 34 – 37; Hach, Ehrlich; Hüntelmann, Transformationen; Heermann, Versuch, S. 252 – 254; Kap. II/2, Anm. 152.

Ich glaube, daß die heutige Generation, richtig geleitet, dieser Gefahr leichter Herr werden wird. Sie hat verschiedene Dinge miterlebt, die die Nerven etwas zu stärken vermochten bei dem# 1930: etwas zu stärken vermochten bei dem ersetzt durch: bei dem , der sie nicht überhaupt verlor# 1930: verlor ersetzt durch: verlor, etwas zu stärken vermochten .92 Sicher wird auch in der kommenden# 1930: der kommenden ersetzt durch: kommender Zeit der Jude aus# 1930: aus ersetzt durch: in seinen Zeitungen ein gewaltiges Geschrei erheben, wenn sich erst einmal die Hand auf sein Lieblingsnest legt und# 1930: legt und ersetzt durch: legt, dem dem Presseunfug ein Ende macht und auch# 1930: macht und auch ersetzt durch: macht, auch dieses Erziehungsmittel in den Dienst des Staates stellt und nicht mehr in der Hand von Volksfremden und Volksfeinden beläßt.93 Allein ich glaube auch# 1930: gestrichen: auch , daß dies uns Jüngere weniger belästigen wird als einstens unsere Väter. Eine Dreißig-Zentimeter-Granate zischte immer noch mehr als tausend jüdische Zeitungsvipern; also laßt sie dann# 1930: dann ersetzt durch: denn nur zischen.# 1933: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen

Ein weiteres Beispiel für die Halbheit und Schwäche# 1930: eingefügt: in den wichtigsten Lebensfragen der Nation bei der Leitung des Vorkriegsdeutschland# 1933: Vorkriegsdeutschland ersetzt durch: Vorkriegsdeutschlands in den wichtigsten Lebensfragen der Nation# 1930: gestrichen: in den wichtigsten Lebensfragen der Nation kann folgendes sein# 1926: kann folgendes sein ersetzt durch: ist folgendes . Parallel der [sic!] politischen, sittlichen und moralischen Verseuchung des Volkes lief schon seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzliche gesundheitliche Vergiftung des Volkskörpers. Die Syphilis begann besonders in den Großstädten immer mehr zu grassieren94, während die Tuberkulose gleichmäßig fast im ganzen Lande ihre Todesernte hielt.95

Trotzdem in beiden Fällen die Folgen für die Nation entsetzliche waren, vermochte man sich doch# 1930: gestrichen: doch nicht mehr# 1930: gestrichen: mehr zu entscheidenden Maßnahmen dagegen aufzuraffen.

Besonders der Syphilis96 gegenüber kann man das Verhalten der Volks- und Staatsleitung nur mit dem Worte einer vollkommenen# 1930: dem Worte einer vollkommenen ersetzt durch: vollkommener Kapitulation bezeichnen. Da mußte man bei einer ernstgemeinten Bekämpfung# 1926: Da mußte man bei einer ernstgemeinten Bekämpfung ersetzt durch: Bei einer ernstgemeinten Bekämpfung mußte man schon etwas weiter ausgreifen, als dies in Wirklichkeit geschah.97 Die Erfindung eines Heilmittels fraglicher Art sowie dessen geschäftstüchtige Anwendung vermögen bei dieser Seuche nur wenig mehr zu helfen.98 Auch hier konnte nur der Kampf gegen die Ursachen in Frage kommen und nicht die Beseitigung der Erscheinungen. Die Ursache aber liegt in erster Linie in unserer Pro-