Wermuttropfen in die Begeisterung <span class="pagenumber">[176]</span>

61 Die Behauptung, das Deutsche Reich wäre nur vom Wunsch nach Frieden geleitet gewesen, aber die Ententemächte hätten es dennoch geschafft, ihm den Ersten Weltkrieg aufzuzwingen, war 1914 eine Standardformel, die sich in fast jeder Kriegsanalyse der deutschen Presse fand. Als Beweis für den deutschen Friedenswillen wurde immer wieder auf das deutsche Friedensangebot an Belgien nach dem Fall Lüttichs verwiesen. Auch in den späteren Kriegsjahren festigte die Überzeugung, einem friedensbereiten Deutschland stehe ein Bund unversöhnlicher Aggressoren gegenüber, den gesellschaftlichen Konsens, der auch kritische Intellektuelle einschloss. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Zoologe Oscar Hertwig, dessen Schrift Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus (1918) ein Plädoyer für den Pazifismus enthält. Dennoch forderte Hertwig seine Landsleute im Nachwort, das er im November 1917 verfasste, zum Durchhalten und zur Treue gegenüber Kaiser und Reich auf; denn die Mittelmächte würden einen »gerechten Krieg der notgedrungenen Abwehr zur Sicherung ihres Daseins in Gegenwart und Zukunft« führen. »Noch ist das Ziel der übermenschlichen Kämpfe nicht errungen. […] Darum haltet aus – so lautet das Gebot der Stunde – auch im vierten entbehrungsreichen Winter, zum Frieden bereit, doch zuversichtlich und zum Kampf gerüstet.«

Vgl. Münchner Neueste Nachrichten vom 9. 8. 1914, »Das Volk in Waffen!«; vom 19. 8. 1914, »Deutschlands Langmut und Belgiens Hartnäckigkeit«; Hertwig, Abwehr, Zitate S. 117 f.; Anm. 12 in diesem Kapitel.

66 Anspielung auf die bekannte Stellungnahme Wilhelms II. am 1. 8. 1914, dem Tag der deutschen Kriegserklärung an Russland: »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.« Während des Kriegs sollten alle innen- und parteipolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland ruhen. Unter dem Schlagwort des »Burgfriedens« wurden die Kriegskredite von sämtlichen Parteien bewilligt, die Gewerkschaften verzichteten auf die Austragung von Tarifkonflikten, der Reichstag auf Neu- und Nachwahlen, während sich die Presse eine freiwillige Selbstzensur auferlegte.

Vgl. Schönhoven, Gewerkschaften (1987a), S. 249; Kruse, Krieg, S. 76 – 89; Verhey, Geist, S. 261 – 267; Leonhard, Büchse, Zitat S. 206.

der Menschheit unseren Teil beitragen würden.61 Deshalb aber wäre es nicht klug, die Reinheit der Taten des Heeres# 1944: Heeres ersetzt durch: Herzens durch zu großes Geschrei zu verrußen, da ja die übrige Welt für ein solches Gehaben nur wenig Verständnis aufbringen würde. Nichts bewundere man mehr als die Bescheidenheit, mit der ein wahrer Held seine Taten schweigend und ruhig – vergesse; denn darauf kam [sic!] das Ganze hinaus.

Statt daß man nun so einen Burschen bei seinen langen Ohren nahm und zu einem langen Pfahl hin- und an einem Strick aufzog, damit dem Tintenritter die feiernde Nation nicht mehr sein ästhetisches Empfinden zu beleidigen vermochte, begann man nun# 1926: gestrichen: nun tatsächlich gegen die »unpassende« Art des Siegesjubels mit Ermahnungen vorzugehen.

Man besaß aber auch# 1930: Man besaß aber auch ersetzt durch: Man hatte keine blasse Ahnung, daß die Begeisterung, erst einmal geknickt, nicht mehr nach Bedarf zu erwecken ist. Sie ist ein Rausch und wird am besten gleich in diesem Zustande weiter erhalten# 1930: wird am besten gleich in diesem Zustande weiter erhalten ersetzt durch: ist in diesem Zustande weiter zu erhalten . Wie aber sollte man ohne diese Macht# 1930: eingefügt: der Begeisterung einen Kampf bestehen, der nach menschlichem Ermessen die ungeheuersten Anforderungen an die seelischen Eigenschaften der Nation stellen würde?

Ich kannte die Psyche der breiten Masse62 nur zu genau, um nicht zu wissen, daß man hier mit »ästhetischer«63 Gehobenheit nicht das Feuer würde schüren können, das notwendig war, um dieses Eisen in Wärme zu halten. Man war in meinen Augen verrückt, daß man nichts tat, um die Siedehitze der Leidenschaft zu steigern; daß man aber die glücklich vorhandene auch noch beschnitt, vermochte ich schlechterdings nicht zu verstehen.64

Was mich dann zum zweiten ärgerte, war die Art und Weise, in der man nun für gut hielt, sich dem Marxismus65 gegenüberzustellen# 1930: gegenüberzustellen ersetzt durch: gegenüber zu stellen;
1944: gegenüberzustellen . Man bewies damit in meinen Augen nur, daß man von dieser Pestilenz aber auch nicht die geringste Ahnung besaß. Man schien allen Ernstes zu glauben, durch die Versicherung, nun keine Parteien mehr zu kennen66, den Marxismus zur Einsicht und Zurückhaltung gebracht zu haben.

Daß es sich hier überhaupt um keine Partei handelt67, sondern um eine Lehre, die zur Zerstörung der gesamten Menschheit führen muß,