Das Verdienst der Alldeutschen in Österreich <span class="pagenumber">[100]</span>

165 Schönerers großes Ziel war eine langfristige Vereinigung der deutschen Teile Österreich-Ungarns mit dem Deutschen Reich. Der erste Schritt hierzu sollte – so Schönerer im Januar 1901 – ein »bundesrechtliches Verhältnis der ehemaligen deutschen Bundesländer Österreichs mit dem Deutschen Reich« sein, dem dann deren »Angliederung« an das Deutsche Reich folgen sollte. Wenn Schönerer außerdem forderte, sich »vom jüdischen Einfluß rein zu halten und […] von Rom loszusagen«, so musste er mit diesem großdeutschen, borussischen, antisemitischen und antiklerikalen Programm in einen scharfen Gegensatz zur Habsburger-Dynastie geraten. Voller Empörung über die Unterstützung der »Los-von-Rom«-Bewegung durch Personen wie den Berliner Generalsuperintendenten Wilhelm Faber notierte Franz Joseph I. – sonst kein Freund von Marginalien – an den Rand einer entsprechenden Mitteilung: »Da hört sich doch jeder Spaß auf!« Schönerer galt denn auch als Staatsfeind und wurde polizeilich überwacht. Unter dem Motto »Los von Rom ist Los von Österreich« eröffnete der österreichische Staat eine Gegenoffensive, die etwa von einer Loyalitätsadresse des Evangelischen Kirchenrats in Wien an den österreichischen Kaiser (1899) sowie vom Protektorat des Thronfolgers Franz Ferdinand für den Katholischen Schulverein (1901) begleitet wurde. Als die »Los-von-Rom«-Bewegung um 1910 schließlich abebbte, hatte sie ihre Ziele auch nicht annähernd erreicht, weder in Österreich noch in Deutschland: Während »die meisten deutschen Protestanten der österreichischen Frage indifferent bis ablehnend gegenüberstanden« und auch die deutsche Regierung Österreich-Ungarn als Großmacht unbedingt erhalten wollte, konnte die Bewegung in Österreich »der katholischen Kirche keinen ernsthaften Schaden« zufügen.

Vgl. Whiteside, Schönerer, Zitate S. 190, 217 f., 225, 232; Pantenburg, Schatten, S. 150, 155, Zitat S. 148; Hamann, Wien, S. 340 f., 357; Wladika, Vätergeneration, S. 428 – 433, 453 – 475; Kořalka, Schönerer, Zitat S. 85.

166 Das ist weit übertrieben. In Wirklichkeit dürften sich die Anhänger Schönerers »auf eine Zahl von 100.000 bis 150.000 Personen« beschränkt haben. Hitlers Eindruck resultiert wohl aus der Zeit des Sprachenstreits bzw. der Badeni-Krise im Jahr 1897, als es in den deutschböhmischen Gebieten, aber auch in anderen Zentren des Deutschnationalismus, etwa in Graz, zu massiven Protesten gekommen war, die äußerlich an eine Massenbewegung erinnerten. Wie begrenzt Schönerers Einfluss indes blieb, veranschaulichte selbst sein größter politischer Triumph im Jahr 1901 – auch nach den Massenprotesten und der erregten Atmosphäre infolge des Sprachenstreits kamen die Alldeutschen im Reichsrat lediglich auf 21 von 425 Sitzen. Möglich war dies zudem nur durch ein undemokratisches Wahlrecht, das einzelne Wählergruppen klar bevorzugte. Obwohl Schönerers Verehrung durch seine Anhänger in Ansätzen bereits den späteren Führerkult des NS-Regimes vorwegnahm – Schönerer ließ sich als »Führer« anreden, Widerspruch oder Änderungen an seinem Parteiprogramm duldete er nicht und sein Porträt zierte unzählige Gegenstände –, war Schönerer selbst weder willens noch in der Lage, eine wirkliche Massenpartei aufzubauen. Auch die Tatsache, dass Schönerer immer wieder neue, kurzlebige Parteien gründete, veranschaulicht, dass ihm nicht das gelang, was später seinem »Schüler« Hitler gelingen sollte – die Formierung einer Sammlungsbewegung, die das Potenzial aller rechtsradikalen Parteien, Kleingruppen und Vereine weitgehend in sich vereinigte.

Vgl. Whiteside, Schönerer, Zitat S. 231; Hamann, Wien, S. 337 – 364; Wladika, Vätergeneration, S. 77 – 163, Zitat S. 149; Anm. 60 in diesem Kapitel.

169 Während Hitlers Zeit in Wien hatte Schönerer seinen politischen Zenit in der Tat bereits überschritten. Nach seinem Wahlerfolg im Jahr 1901 hatte er parteipolitisch so gut wie alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte: Die alldeutsche Bewegung blieb in zahllose, konkurrierende Vereine, Parteien und Gruppierungen zersplittert, es existierte – im Gegensatz zu den Sozialdemokraten und Christlich-sozialen – keinerlei Basisorganisation, am Aufbau einer Massenpartei hatte Schönerer kein Interesse, und schließlich blieb seine Führung autokratisch, schroff und allein auf ihn bezogen. Zudem begann sich Schönerer nach seinem Wahlerfolg immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen; hatte er 1902 noch 20 öffentliche Reden gehalten, so waren es 1904 nur noch drei. Auf Studententagen oder Arbeiterversammlungen erschien er gar nicht mehr. Die katastrophale Wahlniederlage des Jahres 1907 – die Alldeutschen erhielten nur noch zwei Mandate im Reichsrat, Schönerer selbst nur noch 969 Stimmen – war nicht nur das Ergebnis des neuen Wahlrechts, das die Bevorzugung der Besitzenden abgeschafft hatte, sie war auch die konsequente Folge der zahllosen Fehler und Schwächen Schönerers, dem es nicht gelungen war, seinen einmaligen Erfolg zu verstetigen. Hitler dürfte bei seinen Besuchen im Reichsrat Schönerer wohl kaum persönlich erlebt haben, da sich dieser kaum noch in Wien aufhielt und kein Mandat mehr besaß. Von Karl Luegers letzten Amtsjahren als Wiener Bürgermeister konnte Hitler dagegen einen persönlichen Eindruck erhalten.

Vgl. Whiteside, Schönerer, S. 227 – 243; Hamann, Wien, S. 337, 393; Rumpler, Parlament, S. 882 f.; Wladika, Vätergeneration, S. 467; Hye, Vereine, S. 194; Anm. 158 in diesem Kapitel.

Die legale Staatsgewalt fußte damals auf dem deutschfeindlichen Boden des Parlaments mit seinen nichtdeutschen Majoritäten163 – und dem ebenso deutschfeindlichen Herrscherhaus. In diesen beiden Faktoren war die gesamte Staatsautorität verkörpert. Von dieser Stelle aus das Los des deutschösterreichischen Volkes ändern zu wollen, war Unsinn. Damit aber wäre nun nach den Meinungen unserer Anbeter des einzig möglichen »legalen« Weges und der Staatsautorität an sich jeder Widerstand, weil mit legalen Mitteln nicht durchführbar, zu unterlassen gewesen. Dieses aber würde das Ende des deutschen Volkes in der Monarchie mit zwingender Notwendigkeit – und zwar in kurzer Zeit – bedeutet haben. Tatsächlich ist das Deutschtum vor diesem Schicksal auch nur durch den Zusammenbruch dieses Staates allein gerettet worden.

Der bebrillte Theoretiker freilich würde immer noch lieber für seine Doktrin sterben als für sein Volk.164

Da die Menschen sich erst Gesetze schaffen, glaubt er, sie wären später für diese da.

Mit diesem Unsinn zum Entsetzen aller theoretischen Prinzipienreiter sowie sonstigen# 1926: sonstigen ersetzt durch: sonstiger staatlichen# 1937: staatlichen ersetzt durch: staatlicher Fetischinsulanern# 1926: Fetischinsulanern ersetzt durch: Fetischinsulaner [sic!] gründlich aufgeräumt zu haben, war das Verdienst der damaligen alldeutschen Bewegung in Österreich.

Indem die Habsburger versuchten, mit allen Mitteln dem Deutschtum auf den Leib zu rücken, griff diese Partei nun# 1926: gestrichen: nun das »erhabene« Herrscherhaus selber und zwar rücksichtslos an.165 Sie hat zum ersten Male die Sonde an diesen faulen Staat gelegt und Hunderttausenden die Augen geöffnet. Es ist ihr Verdienst, den herrlichen Begriff der Vaterlandsliebe aus der Umarmung dieser traurigen Dynastie erlöst zu haben.

Ihr Anhang war in der ersten Zeit ihres Auftretens außerordentlich groß, ja drohte zu einer förmlichen Lawine zu werden.166 Allein, der Erfolg hielt nicht an. Als ich nach Wien kam167, war die Bewegung schon längst von der inzwischen zur Macht gelangten christlich-sozialen# 1937: christlich-sozialen ersetzt durch: Christlich-sozialen;
1939: christlich-sozialen Partei168 überflügelt, ja zu einer nahezu vollständigen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt# 1944: herabgedrückt ersetzt durch: herabgewürdigt worden.169