Deutschland – Rußland vor dem Kriege <span class="pagenumber">[326]</span>

105 Anfang der 1920er Jahre war der Gedanke eines Bündnisses zwischen einem entdemokratisierten Deutschland und einem nicht mehr bolschewikischen Russland in der völkischen Bewegung (einschließlich der NSDAP) sehr populär. Demgegenüber waren jene deutschvölkischen Ideologen, die einen Expansionskrieg gegen Sowjetrussland bzw. gegen die Sowjetunion forderten, in der Minderheit. Selbst Hitler schloss in dieser Zeit ein Bündnis mit Russland nicht aus, wie er in einer Rede am 27. 7. 1920 in München deutlich machte. Es könne allerdings nur zustande kommen, »wenn das Judentum abgesetzt« würde, und käme Deutschland nur zugute, wenn die Deutschen selbst »ein einiges, starkes, nationalfühlendes Volk« wären. Noch am 21. 4. 1922 verkündete er, man müsse das russische Volk aufrufen, seine »Peiniger« – die Juden – abzuschütteln. Erst dann könne man Russland nähertreten. Auch nach der Konsolidierung der bolschewikischen Herrschaft im Laufe der 1920er Jahre hielten viele Völkische und Konservative in Deutschland an einer Ostorientierung fest, wobei sich ihre ablehnende Haltung gegenüber den Bolschewiki zum Teil veränderte: Die Sowjetunion wurde nun als gut organisierter Staat mit nationaler russischer Tradition gedeutet bzw. als »Land der roten Zaren«, wie es Oberst Max Bauer in seinem gleichnamigen Buch von 1925 ausdrückte. Hinzu kam, dass namhafte Geopolitiker, allen voran Karl Haushofer, aus Ablehnung des »westlichen Imperialismus« eine prorussische Haltung einnahmen und für ein Bündnis mit der Sowjetunion warben.

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 124 (Zitate), 138, 380; Horn, Aufsatz, S. 285 f., 288 – 291; Dupeux, Nationalbolschewismus, S. 218 – 222; Jung, Voraussetzungen, S. 260 f.

106 Davon, dass das deutsche Kaiserreich den Weltfrieden »um jeden Preis« habe erhalten wollen, konnte vor allem nach dem Rücktritt Bismarcks (1890) keine Rede sein. Sogar Reichskanzler Bethmann Hollweg war davon überzeugt, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Russland unvermeidlich sei. Dabei waren für Bethmann Hollweg Kriege eigentlich Katastrophen, die es unbedingt zu vermeiden gelte. Ab 1912 hielt er es jedoch in Übereinstimmung mit den Prognosen der deutschen Militärführung für richtig, den scheinbar unabwendbaren Krieg lieber im günstigen Augenblick zu riskieren, als gegenüber den Ententemächten immer stärker an Terrain zu verlieren.

Vgl. Ullrich, Großmacht, S. 250 – 263; Stein, Heeresrüstungspolitik, S. 329 – 332; Hildebrand, Reich, S. 302 – 315; Clark, Schlafwandler, bes.S. 533 – 538; Kap. I/4, Anm. 104; Kap. I/5, Anm. 22.

107 Der Panslawismus, ein »allslawischer« Nationalismus, gewann seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden Einfluss auf Gesellschaft und Politik Russlands. Dabei war die Idee von zentraler Bedeutung, Russland habe – vor allem auf dem Balkan – eine »slawische Mission« zu erfüllen. Panslawistische Positionen sollten die russischen Großmachtbestrebungen ideologisch legitimieren. Dieses Denken intensivierte sich vor dem Ersten Weltkrieg, wobei zwei Ereignisse eine wichtige Rolle spielten: zum einen Russlands Niederlage im Krieg gegen Japan 1904/05, die zur Folge hatte, dass sich seine Außenpolitik wieder stärker auf Europa konzentrierte; zum anderen die Bosnien-Krise von 1908.

Die russische Presse vertrat nun größtenteils eine antideutsche Linie. So forderte etwa die Zeitung Nowoje Wremja (Neue Zeit), eines der einflussreichsten Blätter, das auch Zar Nikolaus II. täglich las, im Juni 1908: Russland müsse im Innern seinen Nationalismus kultivieren und außenpolitisch die Sache der Slawen unterstützen. Es müsse der kulturellen Dominanz der Deutschen in Süd- und Südosteuropa und dem mächtigen deutschen »Drang nach Osten« eine gleichwertige kulturelle Kraft, eben die slawische, entgegenstellen. Am 29. 7. 1914, drei Tage vor Eintritt des Deutschen Reichs und Russlands in den Ersten Weltkrieg, meldete der Korrespondent des Berliner Tageblatts aus St. Petersburg: »Hier hält man die Lage für nicht ganz aussichtslos, jedoch besteht kein Zweifel, daß die [russische] Kriegspartei durch ihre allnächtlich sich wiederholenden Demonstrationen viel an Terrain gewinnt und durch die Nationalisten und Panslawisten eine direkt deutschfeindliche Stimmung genährt wird. Panslawistische Kreise fordern heute einen Krieg auf jeden Fall; sie sprechen ganz offen von einer Strafexpedition, die gegen Deutschland auszuführen wäre.«

Vgl. Berliner Tageblatt vom 30. 7. 1914 (MA), »Die panslawistische Hetze gegen Deutschland« (Herv. i. Orig.); Petrovich, Panslavism, S. 241 – 282; Beyrau, Komplex, S. 80 – 90; Lieven, Russia, S. 118 – 138; Schmidt, Presse, S. 63 – 71, 80 – 90; Altrichter, Schweif, S. 183 – 194; Groepper, Sturz, bes.S. 33, 377.

108 Vor dem Ersten Weltkrieg kam es in Russland zu mehreren »Probemobilmachungen«, beispielsweise im September 1912, im April 1913 und im September 1913. Da ihr Schwerpunkt an den Grenzen zum Deutschen Reich lag, wurden diese Übungen in Deutschland ungeachtet der offiziellen russischen Beschwichtigungsversuche als Provokation empfunden. Reichskanzler Bethmann Hollweg bemühte sich, die Wogen zu glätten. So schrieb er am 1. 10. 1912 an Kaiser Wilhelm II.: »Der schon früher in der Presse ventilierten Probemobilmachung ist eine politische Bedeutung nicht beizulegen. Ich glaube deshalb, daß ein Grund zur Beunruhigung für uns […] nicht vorliegt.« Da sich die Probemobilmachungen jedoch wiederholten und mit einer aggressiven antideutschen Haltung der öffentlichen Meinung Russlands einhergingen, verschärften sie die Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Russland. Am 26. 3. 1914 empörte sich Tirpitz darüber, dass die Sprache der russischen Presse immer »unverschämter« werde, dass Russland mit aller Macht rüste und im Herbst 1914 an seiner Westgrenze (erneut) eine Probemobilmachung plane. Deutschland, so Tirpitz, werde in diesem Fall mit einer Probemobilmachung an seiner Ostgrenze antworten.

Vgl. Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 – 1914, Bd. 33, S. 128 f., Zitat S. 142; Stevenson, Armaments, S. 234, 316; Hopmann, Leben, S. 248, 360.

Der Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung erfordert eine klare Einstellung zu Sowjet-Rußland. Man kann nicht den Teufel mit [dem] Beelzebub austreiben.

Wenn selbst völkische Kreise heute von einem Bündnis mit Rußland schwärmen105, dann sollen diese nur in Deutschland Umschau halten und sich zum Bewußtsein bringen, wessen Unterstützung sie bei ihrem Beginnen finden. Oder sehen neuerdings Völkische eine Handlung als segensreich für das deutsche Volk an, die von der internationalen Marxistenpresse empfohlen und gefordert#1944: gefordert ersetzt durch: gefördert wird? Seit wann kämpfen Völkische mit einer Rüstung, die uns der Jude als Schildknappe hinhält?

Man konnte dem alten Deutschen Reich einen Hauptvorwurf in bezug auf seine Bündnispolitik machen. Allein nicht den, daß es das gute Verhältnis zu Rußland nicht mehr aufrecht erhielt, sondern nur den, daß es sein Verhältnis zu allen verdarb, infolge dauernden Hin- und Herpendelns#1929: machen. Allein nicht den, daß es das gute Verhältnis zu Rußland nicht mehr aufrecht erhielt, sondern nur den, daß es sein Verhältnis zu allen verdarb, infolge dauernden Hin- und Herpendelns ersetzt durch: machen: daß es sein Verhältnis zu allen verdarb, infolge dauernden Hin- und Herpendelns;
1937: Hin- und Herpendelns ersetzt durch: Hinundherpendelns;
1939: Hinundherpendelns wieder ersetzt durch: Hin- und Herpendelns, in der krankhaften Schwäche, den Weltfrieden um jeden Preis zu erhalten.#1929: erhalten. ersetzt durch: wahren. Allein, eines konnte man ihm nicht vorwerfen, daß es das gute Verhältnis zu Rußland nicht mehr aufrecht erhielt.;
1933: aufrecht erhielt ersetzt durch: aufrechterhielt106

Ich gestehe offen, daß ich schon in der Vorkriegszeit es für richtiger gehalten hätte, wenn sich Deutschland, unter Verzicht auf die unsinnige Kolonialpolitik und unter Verzicht auf Handels- und Kriegsflotte, mit England im Bunde, gegen Rußland gestellt hätte und damit von der schwachen Allerweltspolitik zu einer entschlossenen europäischen Politik kontinentalen Bodenerwerbs übergegangen wäre.

Ich vergesse nicht die dauernde freche Bedrohung, die das damalige panslawistische Rußland Deutschland zu bieten wagte107; ich vergesse nicht die dauernden Probemobilmachungen, deren einziger Sinn nur#1929: gestrichen: nur eine Brüskierung Deutschlands war108; ich kann nicht vergessen die Stimmung der öffentlichen Meinung in Rußland, die schon vor dem Kriege sich an haßerfüllten Ausfällen gegen unser Volk und Reich überbot, kann nicht vergessen die große russische Presse, die immer mehr für Frankreich schwärmte als für uns.