Bismarcks Schöpfung <span class="pagenumber">[216]</span>

101 Artikel 6 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. 4. 1871 schrieb die Zusammensetzung des Bundesrats fest, ohne die Stimmverteilung näher zu begründen; vielmehr war diese »der des alten Bundestags [von 1848] nachgebildet«. Preußen war mit 17 Stimmen vertreten, Bayern mit sechs, Sachsen und Württemberg mit je vier, Baden und Hessen mit je drei, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig mit je zwei. Jeweils eine Stimme führten Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen, Hamburg. Zusammen waren dies 58 Stimmen. Aus diesem starren System ergaben sich zwangsläufig Ungleichgewichte. So hatte etwa Bayern, obwohl es mehr als doppelt so viele Einwohner und fast das Vierfache der Fläche besaß, mit sechs Stimmen nur zwei Stimmen mehr als Württemberg. Und auch Preußen war unterrepräsentiert, was freilich realiter nichts anderes war als eine Scheinkonzession »an die partikularen Traditionen der Monarchien und Stadtrepubliken in Deutschland und im Deutschen Bund«. Ausschlaggebend in der Verfassungspraxis blieb die preußische Hegemonie. Gleichwohl entsprach der »willkürliche Charakter der Stimmenverteilung« keinesfalls »der Größe und tatsächlichen Bedeutung sowie der Leistung der Einzelstaaten«, wie Hitler behauptet; eine solche Verteilung war vielmehr das Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse. Zumindest für die Zeit von 1871 bis 1918 blieben die Machtverhältnisse im Bundesrat dauerhaft festgeschrieben.

Vgl. Bundes-Gesetzblatt des Deutschen Bundes 1871, Zitat S. 67; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 848 – 860, Zitat S. 855; Bd. 4, S. 373 – 389, Scholl, Bundesrat, Zitat S. 45 f.; Nipperdey, Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, S. 88 – 98, Zitat S. 88; Lilla, Reichsrat, S. 9*-61*.

102 Davon kann in dieser verallgemeinernden Form keine Rede sein. Nach der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. 4. 1871 hatten die 25 Einzelstaaten, die »als Staaten im vollen Sinn des Worts« galten, ihre ursprünglichen, eigenstaatlichen Hoheitsrechte nicht verloren: »Zu diesen eigenstaatlichen Hoheitsrechten der Länder gehörten: erstens das Recht der Länder auf ihre eigene Verfassung (›Verfassungsautonomie‹ der Länder); zweitens das Recht der Länder auf Besitz und Ausübung ihrer Zuständigkeiten in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, in bescheidenem Umfang auch auf dem Gebiet der auswärtigen und militärischen Gewalt (status activus der Länder); drittens das Recht der Länder auf Freiheit von allen Eingriffen des Reichs, die nicht ausdrücklich durch die Reichsverfassung, etwa im Verfahren der Reichsaufsicht oder der Reichsexekution, zugelassen waren (status negativus der Länder; Anspruch auf eine ›reichsfreie Sphäre‹).«

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Zitate S. 803, 805 (Herv. i. Orig.); Nipperdey, Föderalismus; Nipperdey, Geschichte 1866 – 1918, Bd. 2, S. 85 – 109. Zur Einbettung der Länder in die deutsche Verfassungspraxis zwischen 1871 und 1918 sowie zur damaligen Abgrenzung zwischen Reichs- und Länderkompetenzen vgl. Anm. 98, 105 in diesem Kapitel.

103 Tatsächlich ging Bismarck bei der Integration der deutschen Einzelstaaten in den Norddeutschen Bund 1866/67 und in das Deutsche Reich 1871 psychologisch durchaus geschickt vor, wie das Beispiel Sachsens zeigt: Nachdem sich das Königreich Sachsen im Deutschen Krieg von 1866 auf die Seite Österreichs gestellt hatte, besetzten preußische Truppen nach der Kriegserklärung Preußens am 15. 6. 1866 innerhalb von vier Tagen ganz Sachsen, das von König, Regierung und Armee kampflos geräumt werden musste. Die sächsische Armee vereinigte sich daraufhin in Böhmen mit dem österreichischen Heer und wurde zusammen mit diesem am 3. 7. 1866 in der Schlacht bei Königgrätz vernichtend geschlagen. Nach der Niederlage musste Sachsen einem Beitritt zum Norddeutschen Bund zustimmen, wollte aber zumindest sein militärisches Prestige wahren. Bismarck erkannte rasch den Nutzen eines solchen Entgegenkommens und setzte sich dabei gegen den Willen des preußischen Hofs und Militärs durch, die ebenfalls aus Prestigegründen keine Rücksicht auf sächsische Befindlichkeiten nehmen wollten. Am 7. 2. 1867 unterzeichneten Preußen und Sachsen eine Militärkonvention, durch die Preußen die Wehrhoheit über Sachsen erhielt und die sächsische Armee künftig unter preußisches Kommando gestellt wurde. Der sächsische König blieb formal Oberkommandierender, war allerdings nicht mehr kommandobefugt, die sächsische Armee bestand als Landeskontingent weitgehend geschlossen fort. Obwohl dies nur symbolische Zugeständnisse waren, war ihre psychologische Bedeutung für die sächsische Seite hoch, sodass sie die Basis bildeten für die künftige konstruktive wie loyale Zusammenarbeit.

Vgl. Buschmann, Bündnis, S. 102 – 144; Gülich, Armee, S. 192 – 236; Kap. I/3, Anm. 149.

105 In seiner Verfassung von 1871 war das Deutsche Reich ein Bundesstaat. In dieser Schöpfung verbanden sich »unterschiedliche Traditionen und Prinzipien […] in einer kunstvollen, vielleicht künstlichen Synthese: die national-unitarischen, die föderativen, die hegemonialen, die liberalen und die obrigkeitlich-antiparlamentarischen«. Sowohl das Reich als auch die Bundesstaaten handelten als Träger staatlicher Gewalt – Letztere im Rahmen ihrer unabhängigen Hoheitsrechte oder innerhalb der Möglichkeiten, welche die Verfassung des Deutschen Reichs definierte. Dagegen verfügte das Reich über die wichtigsten äußeren Vertretungsrechte (Völkerrechtliche Vertretung, Bündnisrecht und Kriegsrecht, Art. 11; militärischer Oberbefehl, Art. 63 und 64), die Reichsgesetze rangierten vor den Gesetzen der Gliedstaaten (Art. 2), und das Reich besaß positiv formulierte Gesetzgebungskompetenzen, deren Vollzug es zu beaufsichtigen hatte (Art. 4). Als Disziplinierungsmittel stand dem Reich die Bundesexekution (Art. 19) zu, ferner das Notstandsrecht (Art. 68) und die Rechtsprechung in Verfassungsfragen (Art. 76). Auch war allein das Reich imstande, die Kompetenzen zwischen Reich und Gliedstaaten im Wege der Verfassungsänderung zu ändern (Art. 78 AbS. 1).

Dabei sollte zwischen 1871 und 1918 – so Thomas Nipperdey – das Reich im Vergleich zu den Ländern »zunehmend eine größere Rolle« spielen, »als die Verfassung das ursprünglich vorgesehen hatte. Die Reichsgesetzgebung nahm stark zu; es entstanden eigene Reichsverwaltungen. Militär- und Flottenpolitik, Außen- und Kolonialpolitik, die – zoll- und wirtschaftspolitischen – Anfänge des Interventionsstaates und die Anfänge des Sozialstaates – das wurden die entscheidenden staatlichen Aufgaben, und sie erhöhten zwangsläufig das Gewicht des Reichs ganz gewaltig. Subjektiv gewann das nationalunitarische Kaisertum an Selbständigkeit, Prestige und Integrationswirkung. Die Reichsbürokratie löste sich von der preußischen Bürokratie und gewann an Initiative und Gewicht, auch gerade im Bundesrat. Das Reich gewann – als Institutionen- und Entscheidungsgefüge – gegenüber Preußen an Gewicht.«

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 777 – 780, 785 – 808; Nipperdey, Föderalismus, Zitate S. 80, 86; Botzenhart, Verfassungsgeschichte, S. 94 – 104; Holste, Bundesstaat, S. 250 f.

Dem allem#1930: allem ersetzt durch: allen trug, wenigstens teilweise, die Verfassung des alten Reiches auch Rechnung, insofern sie im Bundesrat den einzelnen Staaten nicht die gleiche Vertretung einräumte, sondern entsprechend der Größe und tatsächlichen Bedeutung sowie der Leistung der Einzelstaaten bei der Bildung des Reiches Abstufungen vornahm.101

Die von den Einzelstaaten zur Ermöglichung der Reichsbildung abgetretenen Hoheitsrechte wurden nur zum kleinsten Teil aus eigenem Willen aufgegeben, zum größten Teil waren sie praktisch entweder ohnehin nicht vorhanden oder sie waren unter dem Druck der preußischen Übermacht einfach genommen worden.102 Allerdings ging Bismarck dabei nicht von dem Grundsatz aus, dem Reiche zu geben, was den einzelnen Staaten nur irgend genommen werden konnte, sondern von den Einzelstaaten nur abzuverlangen, was das Reich unbedingt brauchte. Ein ebenso gemäßigter wie weiser Grundsatz, der auf der einen Seite auf Gewohnheit und Tradition die höchste Rücksicht nahm und auf der anderen dadurch von vornherein dem neuen Reich ein großes Maß von Liebe und freudiger Mitarbeit sicherte.103 Es ist aber grundfalsch, diesen Entschluß Bismarcks etwa seiner Überzeugung zuzuschreiben, daß damit das Reich für alle Zeit genügend an Hoheitsrechten#1944: an Hoheitsrechten ersetzt durch: Hoheitsrechte besäße. Diese Überzeugung hatte Bismarck keineswegs; im Gegenteil, er wollte nur der Zukunft überlassen, was im Augenblick#1937: Augenblick ersetzt durch: Augenblicke;
1939: Augenblick schwer durchzuführen und zu ertragen gewesen wäre. Er hoffte auf die langsam ausgleichende Wirkung der Zeit und auf den Druck der Entwicklung an sich, der er auf die Dauer mehr Kraft zutraute als einem Versuch, die augenblicklichen Widerstände der einzelnen Staaten sofort zu brechen.104 Er hat damit die Größe seiner staatsmäßigen#1930: staatsmäßigen ersetzt durch: staatsmännischen Kunst gezeigt und am besten bewiesen. Denn in Wirklichkeit ist die Souveränität des Reiches dauernd auf Kosten der Souveränität der einzelnen Staaten gestiegen. Die Zeit hat erfüllt, was Bismarck sich von ihr erhoffte.105

Mit dem deutschen Zusammenbruch und der Vernichtung der monarchischen Staatsform ist diese Entwicklung zwangsläufig beschleunigt worden. Denn da die einzelnen deutschen Staaten ihr Dasein weniger stammesmäßigen Unterlagen als rein politischen Ursachen zuzuschreiben hatten, mußte die Bedeutung dieser Einzel-