Der »Fabrikarbeiter« <span class="pagenumber">[336]</span>

186 Anspielung auf die »Landflucht« bzw. »Binnenwanderung«. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung in ganz Europa stark an. Gründe dafür waren nicht nur die erhebliche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durch Fortschritte im Ackerbau und in der Viehzucht, sondern auch verbesserte hygienische Verhältnisse und der Ausbau der medizinischen Versorgung. Durch das Bevölkerungswachstum, die Agrar- und Gewerbereformen (»Bauernbefreiung«) sowie – ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – dem vermehrten Einsatz von Dünger und Maschinen wurden immer mehr Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Handwerk freigesetzt. Zugleich schuf die starke Industrialisierung einen großen Bedarf an Arbeitern. Anziehend wirkte die Hoffnung auf höhere Löhne, auf größeres Arbeitsplatzangebot sowie auf sozialen Aufstieg.

Vor allem in Ost- und Westpreußen sowie in Posen und Schlesien kam es zu einer regelrechten Massenabwanderung, die zwischen 1890 und 1914 ihren Höhepunkt erreichte. Ziele der Binnenwanderer waren vorwiegend die Städte Berlin, Hamburg und München, das Rhein-Main-Gebiet sowie die großen Industriereviere an der Ruhr, der Saar und in Oberschlesien. Die »Landflucht« ging mit einer starken Urbanisierung einher, welche von vielen Zeitgenossen Hitlers lebhaft kritisiert wurde. Der Nationalökonom Michael Hainisch, 1920 – 1928 Bundespräsident der Republik Österreich, konstatierte in seiner Schrift Die Landflucht (1924), dass in industriell hoch entwickelten Gegenden »der ganze Landarbeiterstand aufgesogen« werde. Und der bayerische Arzt Albert Reibmayr beklagte 1911 im Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie die »Entvölkerung« des platten Landes und die »Verseuchung« sowie den »biologischen Schaden«, den die Landbevölkerung durch die Nähe zur Stadt nehme.

Vgl. Reibmayr, Ursachen, S. 350, 355; Hainisch, Landflucht, Zitat S. 64; Köllmann, Bevölkerung, S. 106 – 124; Rürup, Deutschland, S. 22 – 51, 61 f.; Zimmermann, Zeit, S. 13 – 20; Oltmer, Migration, S. 16, 22 f. Zur »Verstädterung« (Urbanisierung) in Österreich-Ungarn und im deutschen Kaiserreich vgl. Kap. I/2, Anm. 54; Kap. I/10, Anm. 180, 184.

187 Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bildete der »lichte Tag«, die Zeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang, den Zeitrahmen des Arbeitstags. Abzüglich der Pausen lag die durchschnittliche Arbeitszeit im Sommer theoretisch bei etwa zwölf Stunden pro Tag, im Winter bei acht bis neun Stunden. Klima, Wetter und Jahreszeiten beeinflussten den Arbeitsrhythmus ebenso wie die Religion, die zur Einhaltung von Sonn- und Feiertagen verpflichtete. Die Unstetigkeit des damaligen Arbeits- und Wirtschaftslebens etwa durch die Rohstoff- oder Auftragslage sorgte für weitere Arbeitspausen und Wartephasen, sodass die tatsächliche Arbeitszeit etwa zehn bis zwölf Stunden pro Tag betrug.

Dies änderte sich im 19. Jahrhundert: Verlagerung auf Maschinenproduktion in den Fabriken, elektrisches Licht und die kapitalistische Wirtschaftsform mit Konkurrenzdruck, Rentabilitätsansprüchen und Profitorientierung führten zur Ausdehnung der Arbeitszeit. Damit einher ging auch der wachsende Verlust der Sonn- und Feiertagsruhe. Außerdem erhöhte sich die Arbeitsintensität durch die schärfere Abgrenzung, Homogenisierung und Verstetigung der Arbeitszeit. Pünktlichkeit und Disziplin, Verkürzung der Pausen und leistungsorientierte Lohnformen mit Kontrolle und Überwachung setzten die Arbeiter unter großen Druck. Der massive Überschuss an Arbeitskräften erlaubte den Arbeitgebern, die tägliche Arbeitszeit bis in die 1850er Jahre auf durchschnittlich 14 – 16 Stunden zu erhöhen. Erst durch den Druck der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, die sich seit den 1860er Jahren herausbildeten, konnten in den folgenden Jahrzehnten deutliche Erleichterungen für die Arbeiter erreicht werden, auch bei den Arbeitszeiten: Lag die tägliche Arbeitszeit in den 1870er Jahren noch bei etwa zwölf Stunden, konnte sie bis 1913/14 auf durchschnittlich zehn Stunden reduziert werden. In der Weimarer Republik setzte sich dieser Trend fort; nunmehr lag die Arbeitszeit bei acht Stunden pro Tag, bzw. (einschließlich der noch nicht arbeitsfreien Samstage) bei 48 (1923) bzw. 49,9 (1927) Stunden pro Woche. Die Weltwirtschaftskrise ließ den Arbeitskräftebedarf zum Teil drastisch sinken, sodass im Jahr 1932 nur noch eine Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 41,5 Stunden erreicht wurde. Im Dritten Reich wurden die Arbeitswochen jedoch wieder länger: 1941 mussten die Beschäftigten (kriegsbedingt) wieder bis zu 50 Wochenstunden arbeiten.

Vgl. Pollard, Fabrikdisziplin, S. 159 f.; Rupieper, Arbeiter, S. 95; Schneider, Kampf, S. 77 f., 82 – 87; Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 457 f., 481 – 486; Ritter/ Tenfelde, Arbeiter, S. 361 – 364; Schildt, Arbeiterschaft, S. 10; Condrau, Industrialisierung, S. 83 f.; Henning, Handbuch, Bd. 2, S. 732, 741, 751 f.; Dohrnvan Rossum, Arbeitszeit; Liedtke, Revolution, S. 122.

188 Mit der seit der Französischen Revolution fortschreitenden wirtschaftlichen Liberalisierung, bis hin zur Durchsetzung der Gewerbe- und Vertragsfreiheit in den 1860er Jahren, wandelte sich auch das rechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Waren zuvor die Arbeitsbedingungen in Form von Standes-, Zunft- und Polizeiordnungen, die den Arbeitern einen gewissen Schutz garantierten, geregelt, so lag die Festlegung und Einhaltung entsprechender Vereinbarungen danach allein im Ermessen der Arbeitgeber. In ihren Fabrikordnungen gaben sie die Arbeitsweise vor und legten Arbeitsdauer und Sanktionsregelungen fest. Die Löhne blieben bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts anhaltend niedrig. Umgerechnet auf die Währung des deutschen Kaiserreichs verdiente ein Arbeiter 1835 lediglich 240 – 300 Mark pro Jahr. Der wachsende Einfluss der Arbeiterbewegung und die Bemühungen der Gewerkschaften verbesserten allmählich die Arbeitsbedingungen wie auch die Löhne. Der durchschnittliche Jahresverdienst in Industrie, Handel und Verkehr stieg während des Reichsgründungsbooms 1871 – 1873 von 493 auf 688 Mark. Durch die anschließende Wirtschaftskrise fiel er 1879 auf 543 Mark und stagnierte in den folgenden Jahren. Erst 1896 wurde der Stand von 1873 wieder überschritten. Bis 1907 stieg der durchschnittliche Jahresverdienst auf 933 Mark, 1913 wurden 1.083 Mark erreicht. Allerdings stand die Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiter in keinem Verhältnis zur Produktionssteigerung, zu den Gewinnen der Unternehmer und zum wachsenden Wohlstand der bürgerlichen Gesellschaft. Die soziale Kluft wurde trotz des besseren Verdiensts der Arbeiter insgesamt deutlich größer.

Vgl. Rupieper, Arbeiter, S. 94 f.; Schneider, Kampf, S. 77 f.; Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 457, 488, 496; Ritter/ Tenfelde, Arbeiter, S. 355, 475, 495 f.; Schildt, Arbeiterschaft, S. 11 f., 18 f., 22, 86 f.; Condrau, Industrialisierung, S. 75 – 78; Sellier, Arbeiterschutzgesetzgebung, S. 23 f.; Tilly, Arbeit, S. 91; Henning, Handbuch, Bd. 2, S. 739 f.; Hofer, Arbeitsrecht; Liedtke, Revolution, S. 122. 

189 In Wirklichkeit umfasste die »soziale Frage« sowohl städtische Proletarisierung als auch ländlichen Pauperismus, von dem die im 19. Jahrhundert zahlenmäßig rasch wachsende bäuerliche Bevölkerung betroffen war – besonders wenn Ernteausfälle zu Hungerkrisen führten. In sozialdemokratischen Publikationen wurde die Soziale Frage auf dem Lande bereits im 19. Jahrhundert thematisiert, etwa in der gleichnamigen Schrift von Paul Kampffmeyer, die 1889 erschien. Zwar verlagerten sich die sozialen Probleme durch die zunehmende Verstädterung mehr und mehr in die Industriezentren. Hitlers Behauptung, auf dem Land habe es keine »soziale Frage« gegeben, hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie stand vielmehr in der Tradition einer romantischen Verklärung des Landlebens, wie sie zur Jahrhundertwende in der Lebensreformbewegung kultiviert worden war. 1936 wies Kurt Caro die vorliegende Passage dann auch als »vollkommen falsch« zurück: »Im Kernland des Kaiserreiches, dem Königreich Preussen, war die in den Stammprovinzen herrschende Wirtschaftsform der Grossgrundbesitz, der sich oftmals zu Latifundien im römischen Sinne auswuchs. Der Rittergutsbesitzer dachte aber überhaupt nicht an eine Gemeinschaft zum Knecht. Selbst ein freier Bauernstand wurde von ihm kaum geduldet.«

Vgl. Kampffmeyer, Frage; Humbert, Kampf, Zitat S. 189; Köllmann, Industrialisierung, S. 50 f.; Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 460; Rürup, Deutschlands, S. 172 f.; Henning, Handbuch, Bd. 2, S. 739; Kap. I/2, Anm. 50.

Erst# 1930: Erst ersetzt durch: Und erst die Sicherung des Alters# 1926: gestrichen: des Alters des Staatsbeamten# 1926: eingefügt: im Alter vermochte diesen zu jener selbstlosen Pflichttreue zu erziehen, die in der Vorkriegszeit die vornehmste Eigenschaft des deutschen Beamtentums war.185

So wurde ein ganzer Stand, der eigentumslos blieb, in kluger Weise dem sozialen Elend entrissen und damit dem Volksganzen eingegliedert.

Nun war diese Frage neuerdings, und diesmal in viel größerem Umfange an den Staat und# 1937: eingefügt: an; 1939: wieder gestrichen: an die Nation herangetreten. Immer neue Millionen von Menschen# 1930: Immer neue Millionen von Menschen ersetzt durch: Immer neue, in die Millionen gehende Menschenmassen siedelten aus den bäuerlichen Orten in die großen# 1937: großen ersetzt durch: größeren;
1939: großen;
1944: größeren Städte über, um als »Fabrikarbeiter«# 1926: »Fabrikarbeiter« ersetzt durch: Fabrikarbeiter in den neugegründeten Industrien das tägliche Brot zu verdienen.186 Arbeits- und Lebensverhältnisse des neuen Standes waren mehr als traurige# 1930: mehr als traurige ersetzt durch: schlimmer als traurig . Schon die mehr oder minder mechanische Übertragung der früheren Arbeitsmethoden des alten Handwerkers oder auch Bauern auf die neue Form paßte in keinerlei Weise. Die Tätigkeit des einen wie des anderen ließ sich nicht mehr vergleichen mit den Anstrengungen, die der industrielle Fabrikarbeiter zu leisten hat. Bei dem alten Handwerk mochte die Zeit vielleicht weniger eine Rolle spielen, so# 1926: gestrichen: so aber bei den neuen Arbeitsmethoden# 1930: eingefügt: spielte sie es; 1944: spielte sie diese um so mehr. Die formale Übernahme der alten Arbeitszeiten in den industriellen Großbetrieb wirkte geradezu verhängnisvoll; denn die tatsächliche Arbeitsleistung von einst war infolge des Fehlens der heutigen intensiven Arbeitsmethoden nur eine kleine# 1930: eine kleine ersetzt durch: klein .187 Wenn man also damals# 1930: damals ersetzt durch: vorher den Vierzehn- oder Fünfzehnstunden-Arbeitstag noch ertragen konnte, dann aber# 1930: aber ersetzt durch: vermochte man ihn eben# 1926: eben ersetzt durch: sicher nicht mehr# 1930: eingefügt: zu ertragen in einer Zeit, da jede Minute auf das äußerste ausgenützt und angewendet# 1930: gestrichen: und angewendet wird. Wirklich war das Ergebnis dieser sinnlosen Übertragung alter Arbeitszeiten auf die neue industrielle Tätigkeit eine unglückselige# 1930: gestrichen: unglückselige nach zwei Richtungen# 1930: eingefügt: unglückselig : sie vernichtete# 1930: gestrichen: sie vernichtete die Gesundheit und zerstörte den# 1930: und zerstörte den ersetzt durch: wurde vernichtet und der Glauben# 1944: Glauben ersetzt durch: Glaube an ein höheres Recht# 1930: eingefügt: zerstört . Endlich kam hierzu noch die jämmerliche Entlohnung sowie die# 1930: gestrichen: sowie die anderseits# 1926: anderseits ersetzt durch: andrerseits;
1930: einerseits und die demgemäß ersichtlich um so viel bessere Stellung des Arbeitgebers# 1930: eingefügt: andererseits .188

Auf dem Lande konnte es eine soziale Frage nicht geben, da Herr und Knecht die gleiche Arbeit taten und vor allem aus gleicher Schüssel aßen.189 Dieses alles aber war nun# 1926: gestrichen: nun mit einem Schlage anders geworden# 1930: Dieses alles aber war mit einem Schlage anders geworden ersetzt durch: Aber auch dies änderte sich .