Ohne politische Ziele <span class="pagenumber">[285]</span>

216 Auch dieser Vorwurf erinnert an Heinrich Claß’ Pamphlet Wenn ich der Kaiser wärʼ (1912), in dem ausdrücklich die »Ziellosigkeit« der deutschen Außenpolitik seit 1871 bemängelt wird. Als deren Hauptursache galt Claß Bismarcks Konzept der territorialen »Saturiertheit« des Reichs, die unzeitgemäß und schädlich sei. »Wo sind die großen Ziele der Regierung?«, fragte Claß und bezichtigte vor allem den von 1909 bis 1917 amtierenden Reichskanzler Bethmann Hollweg, alles, »was nach Größe klang«, durch politische »Instinktlosigkeit vernichtet« zu haben. Als Vorsitzender des ADV schien es Claß daher »geboten, daß alle am öffentlichen Leben Interessierten […] verlangen« sollten, »daß wir tätige äußere Politik treiben, sagen wir ruhig aggressive«. Die Kritik der deutschen Rechten an Bethmann Hollweg steigerte sich bereits im Ersten Weltkrieg zu offener Verachtung. Wichtiger Impulsgeber war dabei der Publizist Hans Freiherr von Liebig, der in seiner Schrift Die Politik von Bethmann Hollwegs (1915/19) über den Reichskanzler urteilte: »Seine Politik war eine Politik der Nachgiebigkeit, Schwäche und Ziellosigkeit, die sich von den Ereignissen willenlos treiben ließ.« Hitler schätzte Liebigs Schriften; dessen Pamphlet Der Betrug am deutschen Volke (1919) wurde schon in den frühen 1920er Jahren zum Bestandteil des offiziellen Kanon jener Bücher erklärt, die »jeder Nationalsozialist kennen« müsse.

Vgl. Frymann, Kaiser, Zitate S. 39, 137 (Herv. i. Orig.); Liebig, Politik, Bd. 1, Zitat S. 294; Münchener Beobachter vom 5. 4. 1919, »Das B-System«; Meister, Schuldbuch (^3/41919), S. 59 f.; Ryback, Bücher, S. 85 f.; Kap. II/2, Anm. 41,171; Kap. II/14, Anm. 28.

217 Das geflügelte Wort »Politik ist die Kunst des Möglichen« findet sich zwar nicht wortwörtlich in den Schriften Bismarcks, gibt dessen Politikverständnis aber dennoch zutreffend wieder. Laut den Aufzeichnungen des Journalisten Clemens Friedrich Meyer bezeichnete Bismarck in einem persönlichen Gespräch vom 11. 8. 1867 Politik als »die Lehre vom Möglichen«. Bereits am 18. 12. 1863 hatte Bismarck im Preußischen Abgeordnetenhaus ausgeführt, Politik sei »keine exakte Wissenschaft«; mit der »Position, die man vor sich« habe, wechsle »auch die Benutzungsart der Positionen«. Bismarck vertrat eine auf langfristigen Erfolg ausgelegte Realpolitik, die sich Affekthandlungen und übersteigerten Ansprüchen grundsätzlich verschließen sollte. Dieses Politikverständnis wurde schon im Kaiserreich korrekt verstanden, wie ein 1909 veröffentlichter Aufsatz des Berliner Juristen Karl Kormann zeigt. Kormann betonte die herausragende Bedeutung von »Wirklichkeitsbewußtsein« in der Politik, die er »nach Bismarcks prächtigem Wort« als »die Lehre vom Möglichen« bezeichnete. Nur »Realpolitik« verdiene den Namen »Staatskunst«, »Doktrinarismus und Prinzipienreiterei« seien hingegen »Todfeinde des politischen Sinns«.

Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 1. November 1863 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, Bd. 1, Zitat S. 507; Bismarck, Werke, Bd. 7, Zitat S. 222; Kormann, Erziehung, Zitat S. 260; Büchmann, Worte, S. 712 f.; Pflanze, Bismarck, Bd. 1, bes.S. 92 – 110; Kühn, Grundgedanke, S. 196 – 203. 

218 Eine sehr bezeichnende Fehlinterpretation, die Hitler auch in seinen Reden wiederholt zum Besten gab. Sie war primär von dem Interesse motiviert, die Weimarer Verständigungspolitik zu diskreditieren, deren Vertreter und Verteidiger sich mitunter auf Bismarcks Konzept der Realpolitik beriefen. Ein prominentes Beispiel ist der von 1923 bis 1929 amtierende Reichsminister des Auswärtigen, Gustav Stresemann. Vor dem Hintergrund der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 plädierte er in Anlehnung an Bismarck für eine »Politik des Erreichbaren«. »Töricht« und »seltsam«, so Stresemann, seien während dieser »außerordentlich harte[n] Probe« für das deutsche Volk die Stellungnahmen derjenigen, »die sich auf Bismarck beziehen und von der Realpolitik dieses großen Staatsmannes in ihrer Beurteilung der außen- und innenpolitischen Verhältnisse nicht das geringste merken« ließen. Auch innerhalb der deutschen Rechten war Hitlers Ansicht keineswegs Konsens. Positive Bezugnahmen auf einen korrekt verstandenen Politikbegriff Bismarcks finden sich etwa in der 1921 anonym veröffentlichten Kampfschrift Niederbruch und Aufstieg. Wege zu Deutschlands Errettung des DVP-Reichstagsabgeordneten und Kolonialrevisionisten Heinrich Schnee sowie in den Erinnerungen von Oberst Max Bauer, einem einflussreichen Vertreter der Dolchstoßlegende.

Vgl. Bauer, Krieg (1921), S. 146; [Schnee], Niederbruch, S. 71; Kraus, Versailles, S. 8, 93; Stresemann, Reden, Zitat S. 268; Hitler, Reden, Bd. 1, Dok. 145, S. 458; Bd. II/2, Dok. 268, S. 804 f.; Bd. III/1, Dok. 2, S. 11 f.; Bd. IV/3, Dok. 15, S. 76; Anm. 13 in diesem Kapitel.

219 Houston Stewart Chamberlain (1855 – 1927) war einer der einflussreichsten völkischen Schriftsteller im wilhelminischen Kaiserreich. Bekannt wurde er durch sein Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899), das Alfred Rosenberg wiederum als Vorbild für Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) diente. Chamberlains Denken gründete auf dem Glauben an die rassische Überlegenheit der Germanen, deren Kampf mit dem Judentum ihm als Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte galt. Im Ersten Weltkrieg nahm Chamberlain die deutsche Staatsbürgerschaft an und engagierte sich für die radikalnationalistische Deutsche Vaterlandspartei. Seine ideologischen Gewissheiten blieben auch durch die deutsche Niederlage unberührt: Demonstrativ betonte er am 24. 12. 1918 gegenüber Vizeadmiral a. D. Albert von Seckendorff seine »unerschütterliche Überzeugung […], daß Gott den Deutschen für edle Zwecke der ganzen Menschheit zum Heile hat werden und wachsen lassen«. So überrascht es nicht, dass sich Chamberlain auch den Nationalsozialisten annäherte; am 30. 9. 1923 kam es zu einem persönlichen Treffen mit Hitler in Bayreuth. Chamberlain zeigte sich von seinem Besucher begeistert, wie ein überschwänglicher Brief an Hitler vom 7. 10. 1923 bezeugt: »Sie haben den Zustand meiner Seele mit einem Schlage umgewandelt. Daß Deutschland in der Stunde seiner höchsten Not sich einen Hitler gebiert, das bezeugt sein Lebendigsein; […] Ich durfte billig einschlafen und hätte auch nicht nötig gehabt, wieder zu erwachen. Gottes Schutz sei bei Ihnen!« Chamberlain starb am 9. 1. 1927 in Bayreuth.

Vgl. Chamberlain, Briefe, Bd. 2, Zitate S. 62, 126; Field, Evangelist, bes.S. 352 – 445; Piper, Rosenberg, S. 188 – 191; Lobenstein-Reichmann, Chamberlain (2008); Lobenstein-Reichmann, Chamberlain (2009).

Auch dieses waren Risse und Sprünge in unserem Volkskörper, die solange# 1937: solange ersetzt durch: so lange gefahrlos sein konnten, als keine besondere Belastung entstand, die aber zum Unheil werden mußten dann, wenn# 1926: werden mußten dann, wenn ersetzt durch: werden mußte, wenn;
1930: werden mußten, wenn durch die Wucht großer Ereignisse die Frage der inneren Festigkeit der Nation eine ausschlaggebende Bedeutung erhielt.

Auch# 1930: Auch ersetzt durch: Ebenso waren auf dem Gebiete der Politik waren# 1930: gestrichen: waren für aufmerksame Augen Schäden vorhanden, die, wenn nicht in absehbarer Zeit eine Besserung oder Änderung vorgenommen wurde, als Zeichen eines kommenden Verfalls des Reiches gelten durften und mußten. Die Ziellosigkeit der deutschen Innen- wie# 1933: wie ersetzt durch: und Außenpolitik war für jeden sichtbar, der nicht absichtlich blind sein wollte.216 Die Kompromißwirtschaft schien am meisten der Bismarckschen Auffassung zu entsprechen, daß »die Politik eine Kunst des Möglichen«217 wäre. Nun war aber nur# 1926: gestrichen: nur zwischen Bismarck und den späteren deutschen Kanzlern ein kleiner Unterschied vorhanden, der dem ersteren eben# 1926: gestrichen: eben gestattete, eine solche Äußerung über das Wesen der Politik fallen zu lassen, während die gleiche Auffassung aus dem Munde seiner Nachfolger eine ganz andere Bedeutung erlangen mußte. Denn Bismarck wollte mit diesem Satze nur besagen, daß zur Erreichung eines bestimmten politischen Zieles alle Möglichkeiten zu verwenden# 1939: eingefügt: seien; 1944: seien ersetzt durch: wären bzw. nach allen Möglichkeiten zu verfahren wäre218; seine Nachfolger aber sahen in dieser Äußerung die feierliche Entbindung von der Notwendigkeit, überhaupt politische Gedanken oder gar Ziele zu haben. Politische Ziele aber# 1926: haben. Politische Ziele aber ersetzt durch: haben – und politische Ziele waren waren für die Leitung des Reiches zu dieser Zeit wirklich nicht mehr vorhanden; fehlte hierzu doch# 1937: doch ersetzt durch: noch die nötige Unterlage einer bestimmten Weltanschauung sowie die notwendige Klarheit über die inneren Entwicklungsgesetze des politischen Lebens überhaupt.

Es gab nicht wenige, die in dieser Richtung trübe sahen [sic!] und die Plan- und Gedankenlosigkeit der Reichspolitik geißelten, ihre innere Schwäche und Hohlheit also sehr wohl erkannten, allein es waren dies nur die Außenseiter im politischen Leben; die offiziellen Stellen der Regierung gingen an den Erkenntnissen eines Houston Stewart Chamberlain219 genau so gleichgültig vorüber, wie dies bei uns# 1930: dies bei uns ersetzt durch: es heute