Die Prostitution – eine Schmach der Menschheit <span class="pagenumber">[265]</span>

117 Ein aufschlussreicher Hinweis auf eine Urangst Hitlers, aber auch anderer führender NS-Funktionäre: Die Furcht vor einem »Treuebruch« des deutschen Volkes in Zeiten großer mentaler und materieller Belastung. Diese Angst war auch eine Folgewirkung der Legende, der Erste Weltkrieg sei durch einen »Dolchstoß« der Heimat verloren gegangen. Immer wieder betonte Hitler in seinen Reden, dass sich ein »November 1918 […] in der deutschen Geschichte nicht mehr wiederholen« dürfe und werde – so etwa kurz nach Kriegsbeginn am 6. 10. 1939 vor dem Reichstag. Die NS-Propaganda appellierte dann bis in die letzten Kriegstage hinein an den Durchhaltewillen und die »Treue« des Volkes. Noch in seiner letzten Rundfunkansprache am 19. 4. 1945, wenige Tage vor seinem Selbstmord, beschwor Joseph Goebbels seine Zuhörer: »Wir aber schauen auf ihn [Hitler] voll Hoffnung und in einer tiefen, unerschütterlichen Gläubigkeit. Trotzig und kampfesmutig stehen wir hinter ihm: Soldat und Zivilist, Mann und Frau und Kind – ein Volk, zum Letzten entschlossen, da es um Leben und Ehre geht. […] Wir werden nicht wanken und nicht weichen, wir werden ihn in keiner Stunde, und sei es die atemberaubendste und gefährlichste, im Stiche lassen.«

Mit bloßen Worten war es jedoch nicht getan; die Nationalsozialisten zogen auch praktische Konsequenzen aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Hierzu zählte unter anderem die hohe Bedeutung, die der Lebensmittelversorgung der Zivilbevölkerung zuerkannt wurde. Auch der gezielte Terror gegen vermeintliche »Volksschädlinge« und »Wehrkraftzersetzer« sollte im Zweiten Weltkrieg die Stabilität von Front und Heimat sichern. Deutsche, die am Sieg der Wehrmacht zweifelten, »sich den Kriegsanstrengungen entzogen, unter den physischen und psychischen Belastungen des Kriegsalltags zusammenbrachen oder in Apathie versanken, die desertierten oder kapitulierten, [mussten] mit mörderischen Konsequenzen rechnen«. Insgesamt wurden in Deutschland rund 16.560 Angeklagte zum Tode verurteilt, davon etwa 96 % nach Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Vgl. Heiber (Hrsg.), Goebbels-Reden, Bd. 2, Zitat S. 455; Domarus, Hitler, Bd. 3, Zitat S. 1393; Evans, Rituale, S. 826 – 880; Huegel, Kriegsernährungswirtschaft, S. 292 – 317; Kallis, Niedergang, bes.S. 241 – 248; Tooze, Ökonomie, S. 203 f., 497 f.; Wagner, Volksgerichtshof, S. 796 – 805; Keller, Volksgemeinschaft, bes.S. 11 – 20, 217 – 323, 365 – 434, Zitat S. 427; Anm. 13 in diesem Kapitel.

119 Eugeniker und Rassenhygieniker verwiesen schon seit der Jahrhundertwende auf den Zusammenhang zwischen Prostitution, Syphilis und dem als zu hoch empfundenen Heiratsalter vor allem bürgerlicher Männer. Der Arzt Wilhelm Schallmayer betonte 1903: »Es sind die den besser situierten und den gebildeten Ständen angehörenden jungen Männer, die von der Prostitution relativ den meisten Gebrauch machen. Sie sind ihr nicht nur aus dem Grunde besonders ausgesetzt, weil sie größtenteils in der Lage sind, sie zu bezahlen, sondern auch, weil sie aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen viel später in die Ehe zu treten pflegen als die Männer der weniger angesehenen Klassen.« Vor diesem Hintergrund bezeichnete auch Franz Lüdtke in seiner Broschüre Die sexuelle Not der Jugend (1919) die »möglichst frühzeitige Ehe als eine bedeutsame […] Maßregel gegen die Weiterverbreitung der venerischen Seuchen«. Die »Überwindung der Ehescheu« und die »wirtschaftliche Ermöglichung einer rechtzeitigen Eheschließung« galten ihm als die zwei »Hauptziele« einer »zukünftigen Bevölkerungspolitik«. Das 1923 von den Ärzten Emil Meirowsky und Felix Pinkus herausgegebene Lehrbuch Die Syphilis betonte ebenfalls nachdrücklich den »gefahrvermindernde[n] Einfluß der Ehe«. Um 1900 lag das Heiratsalter bürgerlicher Männer bei durchschnittlich 30 Jahren – rund fünf Jahre über jenem der männlichen Arbeiterschaft. Diese Diskrepanz war vor allem durch die deutlich längeren Ausbildungszeiten bürgerlicher Männer sowie durch ein Ehemodell bedingt, das den männlichen Alleinversorger zur Norm erhob.

Vgl. Schallmayer, Vererbung (1903), Zitat S. 140; Blaschko, Geschlechtskrankheiten, S. 19; Lüdtke, Not, Zitate S. 37, 70; Meirowsky/ Pinkus (Hrsg.), Syphilis, Zitat S. 31; Sauerteig, Krankheit, S. 50 f.

120 Ebenso wie in anderen Passagen von Mein Kampf über den angeblichen Charakter »der« Frauen, reproduziert Hitler auch hier lediglich Klischees, die in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer fast ausschließlich von Männern geprägten Wissenschaften verbreitet waren. Verwiesen sei nur auf den seinerzeit populären Philosophen Eduard von Hartmann, der bereits 1886 in der Schrift Moderne Probleme urteilte: »In dem physiologischen Geschlechtscharakter des Mannes und Weibes ist nicht nur ein Unterschied, sondern geradezu ein Gegensatz anzuerkennen […]. Dieser Gegensatz ist derjenige von Aktivität und Passivität, von Begehren und Gewähren, Werben und Umworbensein; […] Ein Mann von geschlechtlicher Passivität erscheint als ein hinter seiner natürlichen Aufgabe zurückbleibender, unmännlicher Mann; ein Weib von geschlechtlicher Aktivität erscheint als ein ihre Sphäre überschreitendes, unweibliches Weib.«

Vgl. Hartmann, Probleme, Zitat S. 36 f.; Kap. I/2, Anm. 114; Kap. II/2, Anm. 109.

auch# 1930: gestrichen: auch [sic!]. Man hätte zu diesem Zwecke# 1944: Zwecke ersetzt durch: Zweck ihre Schäden als das entsetzlichste Unglück in vollem Umfange, und zwar unter Anwendung aller Hilfsmittel, den Menschen einhämmern müssen, bis die ganze Nation zur Überzeugung gekommen wäre, daß von der Lösung dieser Frage eben alles abhänge, Zukunft oder Untergang.

Erst nach einer solchen, wenn nötig jahrelangen Vorbereitung, wird die Aufmerksamkeit und damit aber auch Entschlossenheit eines ganzen Volkes so sehr geweckt sein, daß man nun auch zu sehr schweren und opfervollen Maßnahmen wird greifen können, ohne Gefahr laufen zu müssen, vielleicht nicht verstanden oder plötzlich vom Wollen der Masse im Stiche# 1937: Stiche ersetzt durch: Stich;
1939: Stiche gelassen zu werden.117

Denn um dieser Pest ernstlich an den Leib zu rücken, sind ungeheure Opfer und ebensogroße# 1933: ebensogroße ersetzt durch: ebenso große Arbeiten nötig.

Der Kampf gegen die Syphilis erfordert einen Kampf gegen die Prostitution, gegen Vorurteile, alte Gewohnheiten, gegen bisherige Vorstellungen, allgemeine Ansichten, darunter nicht zum letzten gegen die verlogene Prüderie118 in gewissen Kreisen usw.# 1930: Kreisen usw. ersetzt durch: Kreisen.

Die erste Voraussetzung zu einem, aber auch nur moralischen Rechte, gegen diese Dinge anzukämpfen, ist die Ermöglichung einer frühen Verehelichung der kommenden Generationen. Im späten Heiraten liegt allein schon der Zwang zur Beibehaltung einer Einrichtung, die, da kann man sich winden wie man will, eine Schande der Menschheit ist und bleibt, eine Einrichtung, die verflucht schlecht einem Wesen ansteht, das sich in sonstiger Bescheidenheit gern als das »Ebenbild« Gottes ansieht.

Die Prostitution ist eine Schmach der Menschheit, allein man kann sie nicht beseitigen durch moralische Vorlesungen, frommes Wollen usw., sondern ihre Einschränkung und ihr endlicher Abbau setzen die Beseitigung einer ganzen# 1944: die Beseitigung einer ganzen ersetzt durch: eine Unzahl von Vorbedingungen voraus. Die erste aber ist und bleibt die Schaffung der Möglichkeit einer der menschlichen Natur entsprechenden frühzeitigen Heirat vor allem des Mannes119; denn die Frau ist ja hier ohnehin nur der passive Teil.120

Wie verirrt, ja unverständlich aber die Menschen heute zum Teil schon geworden sind, mag daraus hervorgehen, daß man nicht selten