Erkrankungen von Volkskörpern <span class="pagenumber">[245]</span>

30 Zwar kam es in Europa zuletzt im 18. Jahrhundert zu großen Pestepidemien (Marseille 1720, Moskau 1751), den Verhältnissen außerhalb Europas – ein Raum, den Hitler persönlich nie kennenlernte – spricht seine Einschätzung jedoch Hohn. Trotz der Entdeckung des Pesterregers durch den Bakteriologen Alexandre Yersin im Jahr 1894, kam es seit dem späten 19. Jahrhundert ausgehend von Südwestchina zu einer großen Pest-Pandemie, die durch den Schiffsverkehr auch Indien, Vietnam, die Philippinen und die USA (San Francisco) erreichte. Weltweit wurden zwischen 1894 und 1938 knapp 13,2 Millionen Pesttote registriert, davon rund 12,5 Millionen allein in Indien.

Vgl. Winkle, Geißeln, bes.S. 495 – 499, 506 – 515; Osterhammel, Verwandlung, S. 279 – 283; Bergdolt, Pest, bes.S. 16 f., 79, 109 – 114. 

31 Von einer »allmählichen Gleichgültigkeit« gegenüber der Tuberkulose – der häufigsten Todesursache in Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg – kann keine Rede sein. Schon ihre häufige Thematisierung in der Kunst belegt, welche Bedeutung diese Krankheit im Bewusstsein der europäischen Gesellschaften hatte. Im Jahr 1921 entwickelten die französischen Bakteriologen Albert Calmette und Camille Guérin am Pariser Institut Pasteur nach jahrelanger Laborarbeit einen ersten, oral einzunehmenden Tuberkulose-Impfstoff, den »Bacillus Calmette-Guérin« (BCG). Der Impfstoff wurde außer in Frankreich unter anderem in Russland, Spanien, den USA und auf dem Balkan erfolgreich eingesetzt. In Deutschland war er hingegen zunächst nur unter Experten bekannt, sodass Hitlers Unkenntnis nicht überrascht. 1928 wurde der Impfstoff durch den Völkerbund anerkannt, konnte sich international aber nicht endgültig durchsetzen. Ein Grund hierfür war ein verheerendes Impfunglück in Lübeck im Jahr 1930, bei dem auf Verschulden der Leiter des dortigen Gesundheitsamts und des Allgemeinen Krankenhauses, Ernst Altstaedt und Georg Deycke, über 250 Neugeborene mit einem von Tbc-Erregern kontaminierten Impfstoff behandelt wurden. Über 70 Säuglinge starben. Aufgrund dieses Unglücks stieß der Einsatz des BCG in mehreren Ländern jahrzehntelang auf heftige Ablehnung, vor allem in Deutschland und Großbritannien.

Vgl. Weder, Sozialhygiene, S. 122 f.; Winkle, Geißeln, S. 148 f.; Schneider/ Lilienfeld, Health, Bd. 2, S. 344; Anm. 95 in diesem Kapitel.

Für das deutsche Volk darf man es fast als ein großes Glück betrachten, daß die Zeit seiner schleichenden Erkrankung nun# 1930: gestrichen: nun plötzlich in einer so furchtbaren Katastrophe abgekürzt wurde, denn im anderen Falle wäre die Nation wohl langsamer, aber auch noch# 1926: auch noch ersetzt durch: um so sicherer dennoch# 1930: gestrichen: dennoch zugrunde gegangen. Die Krankheit wäre so# 1930: gestrichen: so zu einer chronischen geworden, während sie nun# 1930: gestrichen: nun in der akuten Form des Zusammenbruches mindestens den Augen einer größeren Menge klar und deutlich erkennbar wurde. Der Mensch wurde nicht durch Zufall der Pest leichter Herr als der Tuberkulose. Die eine kommt in schrecklichen, die Menschheit aufrüttelnden Todeswellen, die andere im langsamen# 1939: im langsamen ersetzt durch: in langsamem Schleichen; die eine führt zur entsetzlichen Furcht, die andere zur allmählichen Gleichgültigkeit. Die Folge aber war# 1930: war ersetzt durch: ist , daß der Mensch der einen mit der ganzen Rücksichtslosigkeit seiner Energie entgegentrat, während er die Schwindsucht mit schwächlichen Mitteln einzudämmen versucht. So wurde er der Pest Herr30, während die Tuberkulose ihn selber beherrscht.31

Genau so verhält es sich auch mit Erkrankungen von Volkskörpern.32 Wenn sie nicht katastrophal auftreten, beginnt sie# 1926: sie ersetzt durch: sich [sic!] der Mensch langsam# 1926: eingefügt: an sie zu gewöhnen und geht endlich an ihnen, wenn auch erst nach Zeiten, so doch um so sicherer zugrunde# 1926: sicherer zugrunde ersetzt durch: gewisser zugrunde . Es ist dann schon ein (freilich bitteres) Glück, wenn das Schicksal sich entschließt, in diesen langsamen Fäulnisprozeß einzugreifen und mit plötzlichem Schlage das Ende der Krankheit dem von ihr Erfaßten vor Augen führt. Denn darauf kommt eine solche Katastrophe öfters# 1937: öfters ersetzt durch: öfter als einmal hinaus. Sie kann dann leicht zur Ursache einer nun mit äußerster Entschlossenheit einsetzenden Heilung werden.

Aber auch in einem solchen Falle ist die Voraussetzung doch wieder das Erkennen der inneren Gründe, die zu der in Frage stehenden Erkrankung die Veranlassung gaben.

Das Wichtigste bleibt auch hier die Unterscheidung der Erreger von den durch sie hervorgerufenen Zuständen. Dies# 1926: Dies ersetzt durch: Diese wird um so schwerer werden, je länger die Krankheitsstoffe in dem Volkskörper sich befinden und je mehr sie diesem schon zu einer selbstverständlichen Zugehörigkeit geworden waren. Denn es kann sehr leicht vorkommen, daß man nach einer bestimmten Zeit unbedingt schädliche Gifte als