Die Drückebergerei <span class="pagenumber">[203]</span>

32 Infolge der britischen Seeblockade und organisatorischer Mängel in der deutschen Kriegswirtschaft wurden seit 1916 Lebensmittel im Deutschen Reich immer knapper. Während des Ersten Weltkriegs starben in Deutschland bis zu 800.000 Zivilisten an den Folgen von Unterernährung – vor allem Frauen, Kinder und Greise. Eine exakte Zahl lässt sich freilich nicht erheben. Zum härtesten Kriegswinter wurde der sogenannte Kohlrübenwinter 1916/17, den Hitler in Berlin erlebte. Die Versorgung mit Lebensmitteln sank teilweise um mehr als die Hälfte, insbesondere brach die Versorgung mit Kartoffeln ein. Streiks und Demonstrationen waren die Folge, vor allem im April 1917.

Vgl. Vincent, Politics; Offer, War, bes.S. 54 – 78; Jackson, Germany; Bonzon/ Davis, Feeding, S. 323 f.; Salewski, Weltkrieg, S. 172 – 185; Luban, Massenstreiks, S. 17 f.; Weber, Krieg, S. 225 f.; Leonhard, Büchse, bes.S. 371 f., 375 – 379, 518 f.

35 Mitte Juni 1916 kam es in München erstmals zu Hungerdemonstrationen und Krawallen, an denen sich vor allem Jugendliche und Frauen, aber auch Soldaten beteiligten. Es sollten nicht die einzigen Unruhen dieser Art bleiben. Die zunehmende Entfremdung zwischen Front und Heimat manifestierte sich seit Beginn des Jahres 1917 auch in Artikeln der Feldzeitungen, in denen darüber geklagt wurde, dass viele in der Heimat die Bedeutung des Kriegs noch nicht erkannt hätten und vor allem damit beschäftigt seien, ihre »Schäfchen ins Trockene zu bringen«. »Wer nun noch zuruecksteht, der ist kein gewoehnlicher Drueckeberger – er ist ein Verraeter an der Sache des Vaterlandes.«

Vgl. Somme-Wacht vom 25. 1. 1917, »Jetzt gilt’s!«; Hillmayr, München, S. 467; Geyer, Welt, S. 40 – 47; Bauer/ Piper, München, S. 184 f.

37 Der jahrelange Stellungskrieg sowie die gigantischen personellen und materiellen Bedürfnisse der Massenheere des Ersten Weltkriegs hatten zur Folge, dass das Hinterland der Front eine immer größere Bedeutung erlangte. Unter der Führung eigener Kommandanturen war das Hinterland für die Versorgung, Auffrischung, Ausbildung und Erholung der Fronttruppe zuständig. Für das militärische Selbstverständnis war es von zentraler Bedeutung, ob man nach »vorn« oder nach »hinten« gehörte. Zwar waren die Dienstleistungen der Etappe für die Front unersetzlich, doch galten deren Angehörige als »Soldaten zweiter Klasse«. Welch essenzielle Bedeutung diese Unterscheidung zwischen Front und Etappe für die Zeitgenossen besaß, zeigt eine nach Kriegsende eigens durch das Reichsarchiv erstellte Expertise: Während sich die »Kampfzone« 1914 noch auf eine Tiefe von zehn Kilometer erstreckt habe, hätte sich diese Tiefe bis 1918 – parallel zur Entwicklung der damaligen Waffentechnik – verdoppelt. Die politische Rechte übernahm die Verachtung der Etappe, die in ihrer Perzeption als Sammelbecken von Pazifisten, Feiglingen, Neurasthenikern und Juden galt.

Vgl. Kriegs-Etappen-Ordnung, S. 19 – 70; Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 593; Descovich, Waffen, S. 94 f.; Langemann, Zusammenbruch, S. 28; Gorsleben, Überwindung, S. 15; Ulrich, Militärgeschichte, S. 500; Hartmann, Wehrmacht, S. 457 f.

38 Der Vorwurf der jüdischen »Drückebergerei« war schon im Ersten Weltkrieg ein zentraler antisemitischer Topos. Nach 1918 wurde er zu einem omnipräsenten Bestandteil der völkischen Publizistik. Der wichtigste Impuls kam von der sogenannten Judenzählung, die der preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn im Oktober 1916 für das gesamte deutsche Heer veranlasst hatte, deren Ergebnisse jedoch nur teilweise veröffentlicht wurden. Zahlreiche völkische Agitatoren führten dies auf eine angebliche Intervention »mächtiger« jüdischer Hintermänner zurück und werteten die Nichtveröffentlichung als Beweis ihrer Vorwürfe: Die Erhebung, so Theodor Fritsch im Handbuch der Judenfrage, sei »wohl wenig rühmlich für die Hebräer ausgefallen«. Diese Vorwürfe wurden schon während des Kriegs scharf kritisiert, etwa von Arnold Zweig in seinem ergreifenden Artikel »Judenzählung vor Verdun«. Nach Kriegsende setzte sich insbesondere der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gegen solche Unterstellungen zur Wehr und veröffentlichte bis 1932 die Namen und Lebensdaten von über 12.000 gefallenen jüdischen Soldaten. Insgesamt entsprach der Anteil jüdischer Kriegsteilnehmer, Frontkämpfer und Gefallener im Ersten Weltkrieg recht genau dem Durchschnitt der deutschen Gesamtbevölkerung: Im Ersten Weltkrieg dienten etwa 96.000 jüdische Soldaten in Heer, Marine und Schutztruppe, rund 12 % davon als Kriegsfreiwillige. Fronterfahrungen sammelten knapp 80.000 jüdische Soldaten, von denen mehr als 12.000 fielen. Knapp 30.000 jüdische Soldaten erhielten Auszeichnungen, insgesamt 19.545 wurden befördert.

Vgl. Fritsch (Hrsg.), Handbuch, S. 593; Zechlin, Politik, bes.S. 516 – 543; Wenzel (Hrsg.), Zweig, S. 555 – 557; Messerschmidt, Juden, S. 105 – 110; Ullrich, »Drückeberger«; Rosenthal, Judenzählung, bes.S. 63 – 79, 203 – 206; Welker, Reichsbund; Grady, Battle; Plöckinger, Soldaten, S. 188, 295 – 299; Ullrich, Soldaten; Kap. II/10, Anm. 61.

Die Not war ersichtlich überall sehr herbe# 1939: herbe ersetzt durch: herb;
1944: herbe . Die Millionenstadt litt Hunger. Die Unzufriedenheit war groß.32 In verschiedenen, von Soldaten besuchten Heimen33 aber# 1926: gestrichen: aber war der Ton ähnlich dem des Lazaretts. Es machte ganz den Eindruck, als ob mit Absicht diese Burschen gerade solche Stellen aufsuchen würden, um ihre Anschauungen weiterzuverbreiten.

Aber um wieviel ärger# 1926: Aber um wieviel ärger ersetzt durch: Noch viel, viel ärger waren noch# 1926: noch ersetzt durch: jedoch die Verhältnisse in München selber!

Als ich nach Ausheilung aus dem Lazarett entlassen und dem Ersatzbataillon überstellt# 1930: überstellt ersetzt durch: überwiesen wurde34, glaubte ich die Stadt nicht mehr wieder zu erkennen# 1937: wieder zu erkennen ersetzt durch: wiederzuerkennen;
1939: wieder zu erkennen;
1944: wiederzuerkennen . Ärger, Mißmut und Geschimpfe, wohin man nur kam.# 1930: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen 35 Beim Ersatzbataillon selber war die Stimmung unter jeder Kritik. Hier wirkte noch mit die unendlich ungeschickte Art der Behandlung der Feldsoldaten von seiten alter# 1939: alter ersetzt durch: aller;
1944: alter Instruktionsoffiziere36, die noch keine Stunde im Felde waren und schon aus diesem Grunde nur zu einem Teile# 1939: Teile ersetzt durch: Teil ein anständiges Verhältnis zu den alten Soldaten herzustellen vermochten. Diese besaßen nun einmal gewisse Eigenheiten, die aus dem Dienste# 1939: Dienste ersetzt durch: Dienst an der Front erklärlich waren, die aber den Leitern dieser Ersatztruppenteile gänzlich unverständlich waren und blieben# 1926: die aber den Leitern dieser Ersatztruppenteile gänzlich unverständlich waren und blieben ersetzt durch: den Leitern dieser Ersatztruppenteile indessen gänzlich unverständlich blieben , während sie der ebenfalls von der Front gekommene Offizier sich wenigstens zu erklären wußte. Endlich aber war dieser selbst# 1926: Endlich aber war dieser selbst ersetzt durch: Letzterer selbst war von den Mannschaften natürlich auch ganz anders geachtet als Etappenkommandeure# 1926: Etappenkommandeure ersetzt durch: der Etappenkommandeur .37 Aber von dem ganz abgesehen, war die allgemeine Stimmung miserabel; die Drückebergerei galt schon fast als Zeichen höherer Klugheit, das treue Ausharren aber als Merkmal innerer Schwäche und Borniertheit. Die Kanzleien aber# 1926: gestrichen: aber waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber. Ich staunte über diese# 1944: diese ersetzt durch: die Fülle von Kämpfern des auserwählten Volkes und konnte nicht anders, als sie mit den so# 1933: gestrichen: so spärlichen Vertretern an der Front zu vergleichen.38

Noch schlimmer lagen die Dinge bei der Wirtschaft. Hier war das jüdische Volk tatsächlich »unabkömmlich«39 geworden. Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. Über dem Umwege der# 1926: Über dem Umwege der ersetzt durch: Auf dem Umwege über die Kriegsgesellschaften hatte man das Instru-