Der Parlamentarismus <span class="pagenumber">[77]</span>

64 Theophil (ab 1867 Ritter von, ab 1884 Freiherr von) Hansen (1813 – 1891) orientierte sich als Architekt des Reichsratsgebäudes am Vorbild der klassischen attischen Tempel. Hansen »versuchte« sich übrigens nicht – wie Hitler meint – an bloßen »Entlehnungen an der Antike«. Vielmehr wollte Hansen, der selbst acht Jahre in Athen verbracht und dort bereits den Bau zentraler Gebäude wie der Kathedrale Mariä Verkündigung (1842), der Sternwarte (1846) und der Universität (1849) geleitet hatte, die Formensprache der Antike mit den technischen Möglichkeit seiner Zeit versöhnen und daraus etwas Neues schaffen, das er selbst als »Wiener Stil« bezeichnete. Im Zentrum des monumentalen Baus an der Ringstraße, der zwischen 1871 und 1883 entstand, befinden sich die halbkreisförmig angeordneten Sitzungssäle der beiden Kammern. Die Fassaden zitieren mit den korinthischen Säulen und den Giebeln griechische Tempel und verweisen mit dieser »sprechenden Architektur« klar auf die griechische Demokratie. Nicht zuletzt wegen seiner Ausgewogenheit und Harmonie, seiner erstklassigen Bausubstanz und seines prachtvollen Interieurs gilt dieser Monumentalbau bis heute als »Gesamtkunstwerk«, das die weitere Entwicklung des mitteleuropäischen Baustils maßgeblich beeinflussen sollte.

Vgl. Wagner-Rieger/ Reissberger, Hansen, S. 111 – 163; Haiko, Parlament; Parlamentsdirektion, Baumeister.

66 Paul Wallot (1841 – 1912) gewann 1882 den zweiten Wettbewerb um das Reichstagsgebäude in Berlin. Von 1884 bis 1894 leitete er als Architekt den Bau dieses Gebäudes. Die Widmung »Dem deutschen Volke« hatte Wallot bereits 1894 vorgeschlagen, doch wurde sie, vermutlich auf Initiative Wilhelms II., der in dem Bau ohnehin einen »Gipfel der Geschmacklosigkeit« sah, zunächst nicht realisiert. Der dafür vorgesehene Platz am Westgiebel blieb über 20 Jahre leer. Erst 1915 schrieb der Chef der Reichskanzlei, Arnold Wahnschaffe, an den Chef des Zivilkabinetts, Rudolf von Valentini, der Kaiser verlöre im Krieg allmählich die Unterstützung des Volks; mit dem Schriftzug könne der Kaiser dagegen ein Zeichen setzen. Nachdem dieser antworten ließ, dass er hierfür zwar keine Genehmigung erteilen, dies aber auch nicht verhindern werde, konnte die Inschrift dann als »Weihnachtsgeschenk für das deutsche Volk« zwischen dem 20.  und 24. 12. 1916 angebracht werden. Dabei wurden die 17 Bronze-Buchstaben aus zwei erbeuteten französischen Kanonenrohren von der deutsch-jüdischen Bronzegießerei Albert und Siegfried Loevy angefertigt. Die Inschrift überstand die beiden Weltkriege fast unversehrt – im Gegensatz zu drei Söhnen der Gebrüder Loevy: Peter Loevy fiel 1915, Ernst Loevy wurde am 22. 2. 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet, Erich Gloeden, der diesen Nachnamen 1918 angenommen hatte, wurde am 27. 11. 1944 zusammen mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter in Berlin-Plötzensee hingerichtet, nachdem er General Fritz Lindemann, einen Verschwörer des 20.  Juli, versteckt hatte.

Vgl. Raack, Reichstagsgebäude; Cullen, Reichstag; Wefing (Hrsg.), Volke, S. 4 f.; Hammer-Schenk/ Riemann, Wallot, S. 9 – 12; Braun/ Dorrmann (Hrsg.), Volke; Kap. I/10, Anm. 202.

69 England gilt traditionell als das »Mutterland der Demokratie«, bzw. als »mother of parliament«, so die bekannte Formel des britischen Politikers John Bright vom 18. 1. 1865. Die verfassungsrechtliche Grundlage bildete die Magna Carta (1215): Sie band den englischen König an das Gesetz und ermöglichte einem Great Council, dem Vertreter von Adel und Kirchenfürsten (dem späteren House of Lords) sowie Repräsentanten aus Städten und Gemeinden (dem späteren House of Commons) angehörten, die Mitwirkung an bestimmten politischen Entscheidungen, vor allem an der Steuergesetzgebung. Seit dem späten 16. Jahrhundert wurde das Parlament, nachdem die Magna Carta zuvor für fast zwei Jahrhunderte nahezu in Vergessenheit geraten war, zunehmend zum »Instrument für die Vermittlung von königlicher Politik und Interessen der Nation«. Der Englische Bürgerkrieg (1642 – 1649) und die Hinrichtung König Karls I. (1649) sowie die »Glorious Revolution« und die Bill of Rights (1689) stärkten den englischen Parlamentarismus. Dennoch existierte damit noch längst keine Demokratie im modernen Sinne. Das Wahlrecht blieb auch im 18. Jahrhundert ein Privileg, »das nur ungefähr 250.000 männliche Persönlichkeiten für sich in Anspruch nehmen konnten«. Mit dem Reform Act (1832) begann dann eine Phase, die rückblickend als die »goldene Zeit des Parlamentarismus« bezeichnet worden ist. Allerdings erhielten erst mit dem Representation of the People Act (1918) alle britischen Männer ab 21 Jahren sowie 40 % der Frauen das allgemeine Wahlrecht, eine völlige Gleichstellung erfolgte schließlich 1928 durch den Representation of the People Act.

Vgl. Birke, Deutschland, Zitat S. 22; Wende, Großbritannien, Zitat S. 26; Fröhlich, Geschichte, Zitat S. 14; Böker/ Houswitschka, Einführung, S. 33. 

tung vollendet hatte, da blieb ihm auch zur Zierde nichts anderes übrig als Entlehnungen bei der Antike zu versuchen.64 Römische und griechische Staatsmänner und Philosophen verschönern nun dieses Theatergebäude der »westlichen Demokratie«, und in symbolischer Ironie ziehen über den zwei Häusern die Quadrigen nach den vier Himmelsrichtungen auseinander65, auf solche Art dem damaligen Treiben im Inneren# 1933: Inneren ersetzt durch: Innern auch nach außen den besten Ausdruck verleihend.

Die »Nationalitäten« hatten es sich als Beleidigung und Provokation verbeten, daß in diesem Werke österreichische Geschichte verherrlicht würde, so wie man im Reiche selbst ja auch erst unter dem Donner der Weltkriegsschlachten wagte, den Wallotschen Bau des Reichstags# 1944: Reichstags ersetzt durch: Reichstages durch Inschrift dem deutschen Volke zu weihen.66

Als ich, noch nicht zwanzig Jahre alt, zum ersten Male in den Prachtbau am Franzensring67 ging, um als Zuschauer und Hörer einer Sitzung des Abgeordnetenhauses beizuwohnen68, ward ich von den widerstrebendsten Gefühlen erfaßt.

Ich hatte schon von jeher das Parlament gehaßt, jedoch durchaus nicht als Institution an sich. Im Gegenteil, als freiheitlich empfindender Mensch konnte ich mir eine andere Möglichkeit der Regierung gar nicht vorstellen, denn der Gedanke irgend einer# 1933: irgend einer ersetzt durch: irgendeiner Diktatur wäre mir bei meiner Haltung zum Hause Habsburg als Verbrechen wider die Freiheit und gegen jede Vernunft vorgekommen.

Nicht wenig trug dazu bei, daß mir als jungem Menschen infolge meines vielen Zeitungslesens# 1939: Zeitungslesens ersetzt durch: Zeitunglesens;
1944: Zeitungslesens , ohne daß ich dies wohl selber ahnte, eine gewisse Bewunderung für das englische Parlament eingeimpft worden war, die ich nicht so ohne weiteres zu verlieren vermochte.69 Die Würde, mit der dort auch das Unterhaus seinen Aufgaben oblag (wie dies unsere Presse so schön zu schildern verstand), imponierte mir mächtig. Konnte es denn überhaupt eine erhabenere Form der Selbstregierung eines Volkstums geben?

Gerade deshalb aber war ich ein Feind des österreichischen Parlaments. Ich hielt die Form des ganzen Auftretens für unwürdig des großen Vorbildes. Nun trat aber noch folgendes hinzu: