Der rote Terror <span class="pagenumber">[40]</span>

104 Diese Passage ist in doppelter Hinsicht fragwürdig: Zum einen ist unwahrscheinlich, dass Hitler in Wien überhaupt auf dem Bau gearbeitet hat; zum anderen bedient Hitler das Klischee des »gewerkschaftlichen Terrors«, das sich auch im Kapitel Volk und Rasse (I/11) findet, wo es heißt, die »gewerkschaftliche Bewegung« sei »auf brutalste Gewaltanwendung« eingestellt gewesen. Weder in Deutschland noch in Österreich-Ungarn entsprach das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts jedoch der Wirklichkeit. In Österreich spaltete sich die Arbeiterbewegung Anfang der 1880er Jahre angesichts staatlicher Unterdrückung in ein radikales und ein gemäßigtes Lager. Die Radikalen unter Führung von Josef Peukert waren anarchistisch orientiert und schreckten vor Gewalttaten, die bis hin zu einzelnen Mordanschlägen reichten, nicht zurück. Daraufhin verhängte die Regierung am 30. 1. 1884 den Ausnahmezustand über Wien, wo die Hälfte aller österreichischen Gewerkschaften angesiedelt war, und verfolgte die Gewerkschaftsbewegung in den folgenden Monaten so hart, dass sich viele Gewerkschaftsgruppen freiwillig auflösten. »Es hatte sich gezeigt, daß […] die Gewalt eine sehr schlechte Waffe des Proletariats gewesen war«, schrieb schon der österreichische Sozialdemokrat Julius Deutsch in seiner Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von 1908. Nachdem sich diese Erkenntnis auch beim radikalen Flügel der Arbeiterbewegung rasch durchgesetzt hatte, näherten sich die Radikalen wieder den Gemäßigten an. Damit war der Weg gebahnt zur Gründung einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei mit gemäßigtem Kurs auf dem Hainfelder Parteitag (30. 12. 1888 – 1. 1. 1889).

Vgl. Deutsch, Geschichte (1908), Zitat S. 130; Deutsch, Geschichte (1929), S. 159 – 214; Klenner, Gewerkschaften, S. 21 – 28; Hautmann/ Kropf, Arbeiterbewegung, S. 104 – 108; Klenner/ Pellar, Gewerkschaftsbewegung, S. 209 – 212; Anm. 46, 88 in diesem Kapitel; Kap. I/11, S. 342 sowie die dortige Kommentierung.

105 Schon im späten 19. Jahrhundert kam es in Wien immer wieder zu Straßenkrawallen. Anlass waren meist Teuerung und Wohnungsnot. 1882 kam es wegen der Schließung eines Vereinslokals der Schuhmacher zu zweiwöchigen Straßenkämpfen, die den Einsatz von Polizei und sogar Militär erforderlich machten. Nach Übergriffen und Attentaten auf Unternehmer, Bankiers und Polizisten sowie Brandanschlägen auf öffentliche Gebäude wurde über Wien von 1884 bis 1892 der Ausnahmezustand verhängt. Während die Unruhen in den 1890er Jahren abebbten, wuchsen sie seit 1907 erneut an und erreichten 1910/11 mit 327 Teuerungs- und Mieterdemonstrationen einen neuen Höhepunkt. Besonders bekannt wurden die Demonstrationen vom 2. 10. 1910, als Wiener Arbeiter gegen die Lebensmittelverteuerung und Fleischknappheit protestierten, und vom 19. 11. 1910, als der Christlich-soziale Fachverein der städtischen Straßenbahnbediensteten gegen Teuerung und hohe Mieten auf die Straße ging. Bemerkenswert an dieser »Kultur der Widersetzlichkeit« war auch der hohe Anteil an Frauen, die etwa mit »Katzenmusik« gegen den Abbruch von Mietshäusern protestierten, ihre Wohnungstüren verbarrikadierten, um ihre »Entmietung« zu verhindern und in einer »Pracker«-Demonstration Hauseigentümer mit Teppichklopfern bedrohten. Ein Teil der Sozialdemokraten unterstützte diese Kundgebungen und Umzüge, forderten aber, dass sie friedlich verliefen. Die Protestbewegung eskalierte am 17. 9. 1911, als mehr als 100.000 Teilnehmer gegen die Teuerung protestierten; im Anschluss an die Protestzüge kam es zu Krawallen, Steinwürfen gegen das Rathaus und zur Plünderung von Geschäften und Gasthäusern, insbesondere im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring. Beim Einsatz von ungarischem und bosnischem Militär starben vier Menschen, weit über hundert wurden verletzt. Tags darauf verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über Ottakring. Bis zum 22. 9. 1911 dauerten die Zusammenstöße an, in deren Verlauf 488 Personen verhaftet und hart bestraft wurden. Hitler, der damals in der Meldemannstraße 27 im Arbeiterbezirk Brigittenau wohnte, wurde zwangsläufig immer wieder Zeuge dieser Unruhen. Die Demonstration vom 17. 9. 1911 dürfte er persönlich miterlebt haben.

Vgl. John, Straßenkrawalle; Hamann, Wien, S. 251 – 257; Maderthaner, Lebenswelten, S. 533. 

über die nun einmal umstrittenen Punkte besaß. So begann ich in den Quellen zu spüren, aus denen sie ihre vermeintliche Weisheit zogen. Buch um Buch, Broschüre um Broschüre kam nun# 1926: nun ersetzt durch: jetzt an die Reihe.102

Am Bau aber ging es nun oft heiß her. Ich stritt, von Tag zu Tag besser auch über ihr# 1937: gestrichen: ihr; 1939: wieder eingefügt: ihr eigenes Wissen informiert als meine Widersacher selber, bis eines Tages jenes Mittel zur Anwendung kam, das freilich die Vernunft am leichtesten besiegt: der Terror, die Gewalt.103 Einige der Wortführer der Gegenseite zwangen mich, entweder den Bau sofort zu verlassen oder vom Gerüst hinunterzufliegen# 1939: hinunterzufliegen ersetzt durch: herunterzufliegen . Da ich allein war, Widerstand aussichtslos erschien, zog ich es, um eine Erfahrung reicher, vor, dem ersten Rat zu folgen.104

Ich ging, von Ekel erfüllt, aber zugleich doch so ergriffen, daß es mir ganz unmöglich gewesen wäre, der ganzen Sache nun den Rücken zu kehren. Nein, nach dem Aufschießen der ersten Empörung gewann die Halsstarrigkeit wieder die Oberhand. Ich war fest entschlossen, dennoch wieder auf einen Bau zu gehen. Bestärkt wurde ich in diesem Entschlusse# 1944: Entschlusse ersetzt durch: Entschluß noch durch die Not, die einige Wochen später, nach dem Verzehren des geringen ersparten Lohnes, mich in ihre herzlosen Arme schloß. Nun mußte ich, ob ich wollte oder nicht. Und das Spiel ging denn auch wieder von vorne los, um ähnlich wie zum# 1926: zum ersetzt durch: beim [sic!] ersten Male zu enden.

Damals rang ich mit meinem Inneren# 1944: mit meinem Inneren ersetzt durch: in meinem Innern : Sind dies noch Menschen, wert, einem großen Volke anzugehören?!# 1944: gestrichen: Ausrufezeichen

Eine qualvolle Frage; denn wird sie mit Ja beantwortet, so ist der Kampf um ein Volkstum wirklich nicht mehr der Mühen und Opfer wert, die die Besten zu bringen haben für einen solchen Auswurf# 1930: zu bringen haben für einen solchen Auswurf ersetzt durch: für einen solchen Auswurf zu bringen haben ; heißt die Antwort aber Nein, dann ist unser Volk schon arm an Menschen.

Mit unruhiger Beklommenheit sah ich in solchen Tagen des Grübelns und Hineinbohrens die Masse der nicht mehr zu ihrem Volke zu Rechnenden anschwellen zu einem bedrohlichen Heere.

Mit welch anderen Gefühlen starrte ich nun in die endlosen Viererreihen einer eines Tages stattfindenden Massendemonstration Wiener Arbeiter.# 1939: Punkt ersetzt durch: Ausrufezeichen 105 Fast zwei Stunden lang stand ich so da und