4. Kapitel
München

Dieses Kapitel bildet in Mein Kampf einen Einschnitt. Durch seinen Übergang von einem autobiografischen Text zu einer politischen »Abrech­nungsschrift« ergibt sich ein deutlicher Perspektivenwechsel: Dienen Hitler die ersten drei Kapitel des ersten Bands zur Stilisierung seiner frühen Biografie sowie zur Diskussion innenpolitischer Probleme der Habsbur­germonarchie, so entwickelt er in Kapitel I/4 nun erstmals seine außen­politische Weltsicht.

In den frühen Skizzen zu Mein Kampf spielte Hitlers Zeit in München und im deutschen Heer noch keine Rolle, mit der neuen Ausrichtung der Schrift im Juni 1924 traten sie hingegen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit.1 Dies verdeutlichen auch die erhalten gebliebenen Konzeptblätter, die Hitler damals für dieses und die folgenden Kapitel angefertigt hat.2 Mit der Neukonzeption einher gingen ein wesentlich konzentrierteres Arbeiten ­Hitlers und auch das Ende seiner gelegentlichen »Lesungen« vor Mitge­fan­genen in Landsberg.3 Erst nachdem Hitler die chronologisch folgenden Kapitel über den Ersten Weltkrieg umgeschrieben hatte, folgte gegen Ende Juli 1924 die eigentliche Ausarbeitung des vorliegenden Kapitels.4 Über die Themen schrieb Rudolf Heß am 23. Juli 1924: »Sein Kommen nach München vor dem Krieg und die ihm dort aufgetauchten Probleme: Überschätzung Österreichs, Volk und Bodenerwerb, Bündnispolitik.«5 Diese Auflistung entspricht im Wesentlichen dem Inhalt des Kapitels, zumal Hitler in ihm kaum auf sein Leben in München eingeht und auch seine Beschreibung der Stadt marginal bleibt. Der Titel des Kapitels ist somit irre­führend, fast ein Etikettenschwindel.

Grundlage von Hitlers Ausführungen ist sein Artikel Warum mußte ein 8. November kommen?, den er im April 1924 in der völkischen Zeitschrift Deutschlands Erneuerung veröffentlicht hatte.6 Im Juli 1924 lernte Hitler durch Rudolf Heß und Karl Haushofer den Begriff »Lebensraum« kennen. Er verwendete ihn erstmals bei der Ausarbeitung dieses Kapitels; in den entsprechenden Passagen der Konzeptblätter fehlt er hingegen noch. Bei der Ausarbeitung des Kapitels nahm Hitler außerdem eine wesentliche inhaltliche Verschiebung vor: Kam er im Konzept bei seinen Überlegungen zur Bildung eines Staats noch ohne jeden Hinweis auf die Juden aus, so stellt er in der Ausarbeitung dem räumlich unbegrenzten »jüdischen Staat« den »Organismus« eines »völkischen Staats« gegenüber. Dies untermauert auch Hitlers Behauptung von Ende Juli 1924, er habe im Laufe der Arbeit an seinem Buch seine Ansicht über die »Kampfweise gegen das Judentum« geändert, will heißen: verschärft.7 Die außenpolitischen Überlegungen dieses Kapitels führte Hitler 1928 in seinem unveröffentlichten »Zweiten Buch« weiter aus. Darüber hinaus weist das Kapitel deutliche inhaltliche Parallelen mit den Kapiteln Deutsche Bündnispolitik nach dem Kriege (II/13) und Ostorientierung oder Ostpolitik (II/14) auf.