Vorbemerkung

Warum diese Edition? Die Textvorlage ist bekannt. Mein Kampf war ein Bestseller, wie es selten einen gab. Ungefähr 12.450.000 Exemplare in mindestens 1.122 Auflagen1 wurden während der Jahre 1925 bis 1945 unters Volk gebracht. Hinzu kamen noch die ungezählten Exemplare der Übersetzungen in mindestens 17 Sprachen. 2 Von diesen Millionen von Büchern haben erstaunlich viele den Bildersturm der Nachkriegszeit überlebt3, wie schon ein Blick in die Antiquariate bzw. ihre elektronischen Anlaufstellen im Internet zeigt. Vor allem aber ist Mein Kampf – wie könnte es angesichts der technischen Möglichkeiten unserer Zeit auch anders sein – schon längst digitalisiert. Entsprechend einfach und auch diskret ist der Zugang: Hitlers Elaborat findet sich in Datenbanken4, existiert als eBook und lässt sich derzeit (für 99 Cent) bei iTunes herunterladen. »Hitlers ›Mein Kampf‹ stürmt die eBook-Bestsellerlisten«, lautete eine Meldung im Januar 2014. 5

Dabei besteht seit 1945 eigentlich ein Publikationsverbot. Doch ist dieses Buch offenbar nicht totzukriegen. Mein Kampf hat in Form einer unbekannten Zahl von Neuauflagen den Untergang des Dritten Reichs überlebt. Ein so zentraler Markt wie der englischsprachige war von diesem Verbot ohnehin ausgenommen: Bereits 1933 hatten sich ein britisches und ein amerikanisches Verlagshaus die Rechte an Mein Kampf gesichert, sodass Hitlers Buch seitdem in beiden Ländern in mehreren Auflagen erschienen ist – unter dem Titel My Struggle bzw. My Battle. 6 Auch nach 1945 konnte sich Mein Kampf in diesem Teil der Welt zu einer Art »Longseller« entwickeln, wie allein der Verkaufsrang und die Zahl der Kommentare bei einem Online-Versandhaus wie Amazon belegen. Hinzu kommt, dass mit zunehmender Entfernung vom Jahr 1945 mehr und mehr nicht autorisierte, meist fremdsprachige Nachdrucke in der Welt kursieren7 – ohne Rücksicht da­rauf, dass dies eigentlich illegal ist. 8 Nach dem Verbot des Eher-Verlags im Jahre 1945 lag das Urheberrecht für Mein Kampf seit 1965 beim Bayerischen Staatsministerium der Finanzen9, das mit allen Mitteln versucht hat, einen politischen und ökonomischen Missbrauch dieses unseligen Erbes zu verhindern. Während der Besitz von Mein Kampf und auch der antiquarische Handel erlaubt blieben, wurde der Nachdruck konsequent untersagt. Doch wurde es im Zeitalter des Internets immer schwieriger, dieser Politik Nachdruck zu verleihen.

Mit anderen Worten: Mein Kampf ist in der Welt; die Existenz dieses Buchs lässt sich weder ungeschehen machen noch lässt sie sich ignorieren. Noch schwieriger ist dies mit Ablauf des Jahres 2015. Denn 70 Jahre nach dem Tod des Autors endet das Urheberrecht für Mein Kampf. Das bedeutet: Ab dem 1. Januar 2016 ist dieses Buch gemeinfrei, sodass jeder diesen Text drucken kann.

Warum dann aber – um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen – eine Edition dieses Buchs? Zunächst einmal: weil es sich bei Mein Kampf um eine zentrale historische Quelle handelt. Es ist das umfangreichste und in gewisser Weise auch intimste Zeugnis eines Diktators, dessen Politik und dessen Verbrechen die Welt vollkommen verändert haben. Die Wirkungen sind spürbar bis zum heutigen Tag. Mein Kampf war »die deutlichste und ausführlichste Darlegung« dessen, was Hitler dachte und plante – so Ian Kershaw. 10 Auch Hitler hat das so verstanden. Für ihn war sein Buch eine Art Klärungsprozess. 11 Nachdem er einmal seine Gedanken zu Papier gebracht und zu einer Weltanschauung geordnet hatte, erfolgten daran nur noch »taktische Korrekturen, aber keine wesentlichen Veränderungen«12. Von dieser Weltanschauung hat Hitler, der eigentlich peinlich darauf bedacht war, möglichst wenig über seine eigene Person preiszugeben, in Mein Kampf »so viel […] wie nirgends sonst«13 offenbart. Zudem vermittelt Mein Kampf »ein bemerkenswert genaues Porträt des Verfassers, der sich in der immer präsenten Besorgnis, durchschaut zu werden, erst eigentlich durchschaubar macht«14 – so das noch immer gültige Urteil von Joachim Fest.

Schließlich kann noch eine weitere Überlegung erklären, warum gerade Mein Kampf als historische Quelle unverzichtbar ist. Der Nationalsozialismus war eine Weltanschauung, die sich nicht gerade durch ein übergroßes Maß an Theoriebildung auszeichnete. Es waren »Tat« und »Aktion«, die im Selbstverständnis ihrer Anhänger einen deutlich höheren Stellenwert besaßen. Auch waren für die nationalsozialistische Weltanschauung »nicht so sehr spezifisch politische Inhalte als vielmehr eine bestimmte Struktur politischen Denkens«15 charakteristisch, in deren Zentrum das Prinzip des Erfolgs stand. Hinzu kommt, dass die NS-Bewegung ihre Ziele nicht vollständig realisieren konnte. Im Moment ihres Scheiterns, erst recht aber in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, taten ihre Protagonisten viel, um die Radikalität und Inhumanität ihrer eigentlichen Absichten herunterzuspielen. Schon deshalb wäre es eine völlige Verkürzung, die historiografische Bedeutung von Mein Kampf allein auf den biografischen, den partei- oder den ideologiegeschichtlichen Aussagewert dieser Quelle zu reduzie­ren. Ihre Bedeutung ist sehr viel umfassender: Ohne die Lektüre, ja das Studium von Mein Kampf wird sich das, was der Nationalsozialismus war, und das, was er angerichtet hat, nur unvollständig erschließen – so mühsam, quälend und mitunter unappetitlich die Lektüre dieser Schrift auch sein mag. Schon Eberhard Jäckel hat das sehr genau erkannt: »Selten oder vielleicht tatsächlich nie in der Geschichte hat ein Herrscher, ehe er an die Macht kam, so genau wie Adolf Hitler schriftlich entworfen, was er danach tat. Nur deswegen verdient der Entwurf Beachtung. Anderenfalls wären die frühen Aufzeichnungen, die Reden und die Bücher, die Hitler verfaßte, höchstens von biographischem Interesse. Erst die Verwirklichung erhebt sie in den Rang einer historischen Quelle.«16

Dass eine solche Quelle Einordnung, Erläuterung und auch Verständnishilfen braucht, bedarf eigentlich keiner langen Begründung. Mein Kampf ist uns heute in vielerlei Hinsicht fremd geworden, erinnert sei nur an die Begrifflichkeit, das Pathos und an die Themen oder Ereignisse, die hier beschrieben werden – wie etwa der hochgradig fragmentierte Mikrokosmos der völkischen Parteien und Verbände in der unruhigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Vieles, was in Mein Kampf steht, ist heutzutage kaum noch zu verstehen oder fällt heutigen Lesern schon gar nicht mehr auf. Die Arbeit der Herausgeber an dieser Edition, ihr großer Rechercheaufwand bei der Kommentierung, hat dies wieder und wieder bestätigt. Auch ist mittlerweile so viel über Hitler, über seine Zeit sowie über die Geschichte des Nationalsozialismus publiziert worden, dass eine Edition wie diese die Ergebnisse und Deutungen einer schier überbordenden Forschung nicht einfach ignorieren kann. Mit einer Edition von Mein Kampf bietet sich zudem die Chance für eine Bilanz der Forschung, für deren Überprüfung und zuweilen auch für deren Diskussion.

Doch ist Mein Kampf mehr als nur eine historische Quelle. Dieses Buch besitzt sehr viele Seiten – auch in einem übertragenen Sinne. Schon die Bezeichnungen, die sich für Mein Kampf finden lassen, machen dies deutlich. Hitlers Buch gilt als Autobiografie, weltanschauliches Bekennt­nis, rassistische Hetzschrift, taktische Handlungsanleitung, aber auch als Machwerk, Schandfleck, Politikum, Skandal, Lachnummer und öffentliches Ärgernis. Sind solche Zuschreibungen stets gebunden an Zeiten oder Positionen, so besteht in einer Hinsicht Übereinstimmung: Mein Kampf bleibt ein wirkmächtiges, mythisch überladenes Symbol. Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Ursprünglich die »Bibel des Nationalsozialismus«, inzwischen eine Art vergiftetes Buch, ein Gral des Bösen, auf den die Öffentlichkeit mit Abwehr, Scham, Zorn oder auch Gelächter reagiert. Schon deshalb lässt sich dieses Buch nicht so präsentieren wie andere historische Quellen. Zwar ist mittlerweile fast alles, was sich von Hitler erhalten hat, ediert oder wenigstens publiziert (intensiv kommentiert freilich eher selten): seine Reden, seine Tischgespräche, seine militärischen Weisungen und auch seine vergleichsweise raren Briefe. Doch hat die Öffentlichkeit daran nur wenig Anteil oder gar Anstoß genommen. Das Interesse an diesen Hitler-Texten beschränkte sich in der Regel auf einen eng gezogenen Kreis wissenschaftlicher Spezialisten. 17

Bei Mein Kampf ist das völlig anders. Das verdeutlicht nicht nur der Bann, mit dem das Buch bisher belegt war und der zumindest in den ersten Jahrzehnten nach 1945 durchaus berechtigt schien. Auch die schier überwältigende Aufmerksamkeit der Medien während der Entstehung dieser Edition, der öffentliche Rumor, die Nervosität von Politik und Verwaltung und nicht zuletzt die Ängste der Opfer des Nationalsozialismus belegen, dass selbst über 70 Jahre nach Kriegsende die dunkle Strahlkraft von Mein Kampf noch immer nicht erloschen ist. »It is a Pandora’s box that, once opened again, cannot be closed«, wurde unlängst Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, in der Washington Post zitiert. 18

Ein solches Urteil ist psychologisch verständlich und muss ernst genommen werden. Aber wird es der Sache wirklich gerecht? Lässt sich diese »Büchse der Pandora«, wenn es denn eine ist, weiterhin durch ein Publikationsverbot geschlossen halten? Vor allem aber: Ist diese Charakterisierung angemessen? Wird damit das Potenzial eines Buchs, dessen erster Band vor nunmehr 90 Jahren erschien und das in mancherlei Hinsicht ganz einfach alt, abgestanden und für heutige Leser unverständlich geworden ist, nicht völlig überschätzt, von Neuem mystifiziert und schließlich auch verdrängt? Sicher ist: Mein Kampf war bis zum heutigen Tag stets präsent, nicht offiziell, aber doch im Untergrund, wo es nach wie vor ein seltsam klandestines Eigenleben führt. In einer Zeit, die immer weniger Tabus kennt, ist so etwas nicht ungefährlich. Schließlich ist dieses Buch auf dem Kehrichthaufen der Geschichte oder nun auch im »Netz« für jeden, der sich dafür interessiert, leicht zu finden. Vor diesem Hintergrund scheint eigentlich nur eine Strategie sinnvoll: die offene, intensive und kritische Auseinandersetzung.

Damit sind die beiden zentralen Aufgaben der vorliegenden Edition umrissen: Sie hat zunächst eine historische Quelle als wissenschaftlich kommentierte Ausgabe aufzubereiten, sie hat sich aber auch mit einem Symbol auseinanderzusetzen, dessen Wirkung noch immer nicht erloschen ist. Diese doppelte Aufgabe erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich – es geht sowohl um nüchterne Wissenschaft als auch um entschiedene Aus­einandersetzung. Jedenfalls wird man nicht darum herumkommen, sich sehr genau auf dieses Buch einzulassen, Hitler gewissermaßen »beim Wort« zu nehmen und den Inhalt seiner Schrift – Satz für Satz – wissenschaftlich zu analysieren und auch zu bewerten. Mein Kampf arbeitet mit Emotionen, appelliert an Emotionen und weckt Emotionen. Das Prinzip der Versachlichung ist daher ein erster notwendiger Schritt, um diese Wirkung zu durchbrechen. Hitlers Schrift ausschließlich unter dem Postulat nüchterner Wertfreiheit zu edieren, wäre angesichts ihrer hohen Symbolkraft, angesichts ihres Inhalts – dieser einzigartigen Mischung aus gedanklicher Enge, Ahnungslosigkeit, radikalem Dogmatismus, Macht- und Vernichtungswillen – und angesichts der Intention dieses Buchs, das seine Leser überzeugen, ja überwältigen will, jedoch unzureichend. Mein Kampf ist, wie Barbara Zehnpfennig völlig zu Recht festgestellt hat, eine »Herausforderung«19.  Daher versteht sich diese Edition auch als eine Edition mit Standpunkt. Sie kann sich nicht auf eine lediglich passive Präsentation einer historischen Quelle beschränken. Gefragt sind hier auch deutliche, klare und allgemein verständliche Stellungnahmen, gefragt ist eine umfassend kritische und nicht zuletzt auch selbstbewusste Auseinandersetzung mit Hitlers Text und gefragt ist schließlich eine Form der Präsentation, welche die potenzielle Wirkung dieses Symbols ein für alle Mal beendet. Dass diese aufklärerische Auseinandersetzung unter der Maßgabe von Rationalität, Überprüfbarkeit und Allgemeingültigkeit zu führen ist, versteht sich schon deshalb von selbst, weil Mein Kampf das glatte Gegenteil dieser Prinzipien darstellt.

Auch deshalb, mit Blick auf den doppelten Charakter von Mein Kampf als einer Quelle und als einem Symbol, will diese Edition einen möglichst großen Leserkreis erreichen, vielleicht auch fremde Kulturen oder gar einmal ferne Zeiten. Auch das verlangt ein editorisches Konzept sui generis – ein Konzept, das sich nicht nur an Fachwissenschaftler wendet und das zum Teil auch deutlichere Positionierungen im Anmerkungsapparat zulässt, als das sonst in einer Edition üblich ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Edition und Interpretation ist ein altes, oft diskutiertes Problem der Editionswissenschaft. 20 Dass diese Edition klar Stellung bezieht, dass sie interpretiert, ja interpretieren will (dies freilich auch kennzeichnet und überprüfbar macht), mag vielleicht aus der Sicht der klassischen Editionswissenschaft ungewöhnlich scheinen. Aber ungewöhnlich ist auch – und damit sind wir beim Kernproblem des gesamten Projekts – ungewöhnlich ist auch die Edition einer Quelle, deren Historisierung noch immer nicht abgeschlossen ist.

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Diese Einleitung soll nicht das Handbuch ersetzen, und sie soll auch nicht all die vielen Informationen und Erkenntnisse wiederholen, die bereits an anderer Stelle über Hitler, sein Buch, den Nationalsozialismus und das Dritte Reich zu finden sind. Vielmehr ist diese Einleitung in erster Linie als eine knapp gefasste Hinführung zu dieser Edition konzipiert, der vor allem eine textimmanente Interpretation zugrunde liegt – ferner als »Gebrauchsanleitung« sowie als Zusammenfassung einiger wichtiger Beobachtungen, die wir während unserer Editionsarbeit gemacht haben.