Empfang in Koburg <span class="pagenumber">[197]</span>

238 Wie wenig Hitler an der Veranstaltung selbst gelegen war und wie sehr er deren Organisatoren, die doch eigentlich demselben politischen Lager angehörten wie er, provozierte und schließlich auch überspielte, wird daran deutlich, dass er sich bei seiner Darstellung des »Deutschen Tags« allein auf den Auftritt von SA und NSDAP fokussierte. Dabei haben die Zeitgenossen diese Unruhen nur als Teil dieses Treffens erlebt. Die Coburger Zeitung sprach von einem Ereignis von »echt deutschvölkischem Gepräge«, dessen Verlauf einen bürgerlich-betulichen Charakter erkennen lässt; Inhalte und Stil entsprachen eher den Feiern und Umzügen des 19. Jahrhunderts. Geboten wurden Vorträge über Themen wie »Neue Arbeitsmethoden in der völkischen Bewegung« oder »Lebenserneuerung«, eine »Deutsche Andacht« in der Schlosskirche, ein Hans-Sachs-Spiel sowie Gau-Tage der einzelnen regionalen Sektionen, ferner »Darbietungen des Gesangsquartetts Zapf«, der Auftritt eines »Cornettquartetts«, das Weihespiel Schwertweihe, der »packende Vortrag des Gedichtes ›Vergessen‹« sowie die Weihe eines neuen Vereinsbanners.

Vgl. BA, NS 26 – 2054: Flugblatt »Dritter Deutscher Tag in Koburg, Tagesordnung und Verhandlungsplan«; Coburger Zeitung vom 16. und 18. 10. 1922, »Dritter deutscher Tag in Coburg« (Zitate).

239 Als der Sonderzug am 14. 10. 1922 um ca. 14.45 Uhr in Coburg eintraf, hatten sich bereits 200 – 300 Demonstranten versammelt, welche die Nationalsozialisten mit Pfui-Rufen begrüßten. Hans Dietrich informierte daraufhin Hitler über eine Anweisung der Regierung von Oberfranken, er solle mit seinen Anhängern in aufgelöster Marschordnung, ohne Musik und Fahnen in die Stadt marschieren. Hitlers Antwort soll gelautet haben, er sei hier »zu einem Deutschen Tage gekommen, nicht zu einem Sauhaufen. So werde ich mit meinen Leuten dahin gehen, wo es mir paßt. Ich habe keine Abmachungen getroffen, werde auch keine treffen, sondern werde handeln, wie ich es für gut halte« – so der Bericht eines anonymen Informanten an den Reichskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung. Währenddessen beschimpften die linken Demonstrationen die sich formierende SA. »Ausdrücke wie ›Mörder, Blausäurehengste, Gauner, Lumpen, Saubayern‹ fielen in Menge.«

Vgl. Russisches Kriegsarchiv Moskau (RGWA), fond 1355k, opis’, 1, delo 38, Privatkanzlei Adolf Hitler: Bezirksamt Coburg, Schreiben an das Regierungspräsidium von Oberfranken vom 16. 10. 1922 (Zitat); Erdmann, Coburg, S. 99 f., Zitat S. 100, Anm. 399; Albrecht, Avantgarde, S. 80 – 83.

240 Bemerkenswert ist die Dichotomie von Hitlers Darstellung: Auf der eigenen Seite Disziplin und Defensive, auf der Gegenseite Chaos und Aggression. Die militärähnliche Inszenierung der SA mit ihren geordneten Formationen, mit Gleichschritt, wehenden Fahnen und dröhnender Musikkapelle war immer auch ein psychologischer Appell an die Zuschauer – weniger als Reminiszenz an das untergegangene Kaiserreich als vielmehr die vorweggenommene Präsentation einer neuen »Volksgemeinschaft«, jenseits der als unruhig, heterogen und kompliziert empfundenen politischen und sozialen Wirklichkeit. Geflissentlich unterschlagen wird dabei freilich der inhärente Widerspruch einer solchen Strategie – einerseits Hitlers offizielles Bekenntnis zur öffentlichen Ordnung, andererseits die permanente Provokation und Beseitigung dieser Ordnung durch die SA.

Vgl. Balistier, Gewalt; Paul, Aufstand, S. 133 – 142.

241 Den Marsch der SA durch die Coburger Innenstadt begleiteten in der Tat schon bald heftige Auseinandersetzungen. Dass die Linksparteien diesen Marsch verhindern wollten, steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, dass die Nationalsozialisten diese Konfrontation bewusst provozierten. Von wem schließlich die Initiative zur Straßenschlacht ausging, lässt sich nicht mehr klären; die überlieferten Berichte sind zu widersprüchlich. Während sich die Vertreter der rechten und linken Szene jeweils gegenseitig die Schuld gaben, machten die Vertreter des bayerischen Staates meist die Linksparteien für die Coburger Gewaltexzesse verantwortlich. Grund dafür waren nicht nur die partiellen Sympathien der Staatsorgane für das rechtsradikale Lager, sondern auch der Versuch, das eigene Versagen zu kaschieren.

242 Anspielung auf das Motto »Liberté, Égalité, Fraternité«, eine der zentralen Parolen der Französischen Revolution, die aber erst am 27. 2. 1848 zur offiziellen Losung der Zweiten Französischen Republik erhoben wurde. Die Bedeutung der Französischen Revolution für die Entwicklung des Marxismus ist unbestritten, doch verstand sich dieser – wie Karl Marx am 18./28. 3. 1875 an August Bebel schrieb – als Weiterentwicklung dieses Ereignisses und seiner Ideen: »Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹, eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind.« Anders deutete hingegen Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) im Jahr 1919 dieses Ereignis. Seine Regierungserklärung vom 23. 7. 1919 beendete er emphatisch mit den Worten: »Wir nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen, sondern auch die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern, den Völkerbund erschaffen muß.«

Vgl. Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 328, Zitat S. 1852; Marx/ Engels, Werke, Bd. 19, S. 3 – 9, Zitat S. 8 (Herv. i. Orig.); Kap. I/11, Anm. 181.

243 Nachdem sich die Einweisung der SA durch die Coburger Polizei in das Hofbräuhaus, dem Versammlungslokal, als Irrtum erwiesen hatte, kam es dort zu einem erregten Wortwechsel zwischen Hitler und der Polizei. Dieser erzwang die Fortsetzung des Marschs zum eigentlichen Quartier im »Alten Schießhaus« am Anger. Dabei erreichten die Schlägereien zwischen der SA und den Demonstranten, die mittlerweile auf 500 bis 600 Mann angewachsen waren, ihren Höhepunkt. Demonstranten versuchten mit einem Lastfuhrwerk die Straße zu sperren, mithilfe von Radfahrern die Marschkolonnen zu stören und die Marschierenden anzurempeln. Die SA-Männer »ließen sich dadurch hinreißen, aus dem Zug herauszuspringen und auf die Angreifer mit Stöcken und Gummiknüppel loszuhauen«. Das Ganze endete in einer Straßenschlacht, bei der es der SA tatsächlich gelang, ihre Gegner zurückzudrängen. Nach dieser Machtprobe sprachen Hitler und andere völkische Redner im Großen Saal des Hofbräuhauses vor 2.500 bis 3.000 Menschen. Vor der Münchner Polizei suchte Hitler wenig später die Aggressivität seiner Anhänger herunterzuspielen; allein der politische Gegner trage Schuld an der Eskalation. Am 13. 1. 1923 gab er zu Protokoll: »Der Zweck dieser Tagung war, eine gegenseitige Fühlungnahme der vaterländischen völkischen Verbände zu ermöglichen. Irgendwelche aggressive Tendenzen gegen andere Bewegungen besaß diese Tagung um so weniger, als sie mehr in die Form eines Festes gekleidet war.«

Vgl. Russisches Kriegsarchiv Moskau (RGWA), fond 1355k, opisʼ 1, delo 38, Privatkanzlei Adolf Hitler: Bezirksamt Coburg, Schreiben an das Regierungspräsidium von Oberfranken vom 16. 10. 1922 (Zitat); BA, NS 26 – 2054: Flugblatt »Dritter Deutscher Tag in Koburg, Tagesordnung und Verhandlungsplan«; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 410, 457; Rosenberg, Aufzeichnungen, S. 103 f.; Albrecht, Avantgarde, S. 80 f.

244 Hierüber berichtete das Bezirksamt Coburg rückblickend: »Auf Ketschendorfer Gebiet war es in der Nacht zum 15. Oktober zu gemeinsamer schwerer Körperverletzung gegen 2 in Ketschendorf einquartierte Hitlerleute gekommen. Die Ermittlungen haben ergeben, daß diese beiden Leute von 20 – 30 Leuten aus Ketschendorf und der Umgebung überfallen worden sind. Auf die Hilferufe der Überfallenen kamen Hitler’sche Sturmabteilungen zu Hilfe.« Die SA-Männer verprügelten darauf die Angreifer, »verhafteten« sie und verschleppten sie ins Alte Schießhaus, um sie dort weiter zu misshandeln, etwa in Form von simulierten Hinrichtungen. Nachdem bei den anschließenden Ermittlungen die SA-Männer behaupteten, »keiner der Ermittelten [sei daran] beteiligt gewesen«, wurde das Verfahren eingestellt.

Vgl. Russisches Kriegsarchiv Moskau (RGWA), fond 1355k, opis’, 1, delo 38, Privatkanzlei Adolf Hitler: Schreiben des Bezirksamts Coburg an das Bayerische Staatsministerium des Innern vom 27. 10. 1922 sowie Schreiben des Landgerichts Coburg an das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 16. 2. 1923; Verhandlungen des Bayerischen Landtags, III. Tagung 1922/23, Bd. 7, S. 169.

antreten und mit klingender Musik und wehenden Fahnen in die Stadt marschieren werde.238

So geschah es dann auch.

Schon auf dem Bahnhofplatz#1929: Bahnhofplatz ersetzt durch: Bahnhofsplatz empfing uns eine nach vielen Tausenden zählende, gröhlende#1937: gröhlende ersetzt durch: grölende;
1939: gröhlende;
1944: grölende und johlende Menschenmenge. »Mörder«, »Banditen«, »Räuber«, »Verbrecher«, waren die Kosenamen, mit denen uns die vorbildlichen Begründer der deutschen Republik liebreich überschütteten.239 Die junge S. A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. hielt mustergültige Ordnung, die Hundertschaften formierten sich auf dem Platz vor dem Bahnhof und nahmen zunächst von den Anpöbelungen keine Notiz.240 Durch ängstliche Polizeiorgane wurde der abmarschierende Zug in der für uns alle ganz fremden Stadt nicht, wie bestimmt, in unser Quartier, eine an der Peripherie Koburgs liegende Schützenhalle, sondern in den Hofbräuhauskeller, nahe dem Zentrum der Stadt, geleitet. Links und rechts vom Zuge nahm das Toben der begleitenden Volksmassen immer mehr zu. Kaum daß die letzte Hundertschaft in den Hof des Kellers eingebogen war, versuchten auch schon große Massen, unter ohrenbetäubendem Geschrei, nachzudrücken. Um dies zu verhüten, schloß die Polizei den Keller ab. Da dieser Zustand ein unerträglicher war, ließ ich nun die S. A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. noch einmal antreten, ermahnte sie kurz und forderte von der Polizei die augenblickliche Öffnung der Tore. Nach längerem Zögern kam sie dem auch nach.241

Wir marschierten nun den Weg, den wir gekommen waren, wieder zurück, um zu unserem Quartier zu gelangen, und da mußte nun allerdings endlich Front gemacht werden. Nachdem man durch Schreien und durch#1930: gestrichen: durch beleidigende Zurufe die Hundertschaften nicht aus der Ruhe hatte bringen können, griffen die Vertreter des wahren Sozialismus, der Gleichheit und Brüderlichkeit242, zu Steinen. Damit war unsere Geduld zu Ende, und so hagelte es zehn Minuten lang links und rechts vernichtend nieder, und eine Viertelstunde später war nichts Rotes mehr auf den Straßen zu sehen.243

Nachts kam es noch zu schweren Zusammenstößen. Patrouillen der S. A.#1937: S. A. ersetzt durch: SA. hatten Nationalsozialisten, die einzeln überfallen worden waren, in gräßlichem Zustande aufgefunden. Daraufhin wurde mit den Gegnern kurzer Prozeß gemacht.244 Schon am nächsten Morgen