Die Organisation der nat.-soz. Bewegung <span class="pagenumber">[370]</span>

103 Das Problem war nicht ein Mangel an »Köpfen« – in der völkischen Bewegung tummelten sich seit jeher genügend Aktivisten, die sich zur Führung berufen fühlten –, sondern die zahlreichen Konflikte, zu denen es gerade nach dem Hitler-Putsch gekommen war. In Süddeutschland standen sich vor allem die Großdeutsche Volksgemeinschaft unter Führung von Alfred Rosenberg, Hermann Esser und Julius Streicher und die Nationalsozialistische Freiheitspartei unter Gregor Straßer, Erich Ludendorff und Albrecht von Graefe gegenüber. Zu Hitlers Konkurrenten zählten inzwischen auch Anton Drexler und sein im Frühjahr 1925 gegründeter Nationalsozialer Volksbund sowie kleinere völkische Gruppierungen in Norddeutschland. Die starke Zersplitterung der völkischen Bewegung war für den ehemaligen Münchner Polizeipräsidenten Ernst Pöhner im Dezember 1924 Anlass, zur DNVP zu wechseln. In einem – posthum im Miesbacher Anzeiger veröffentlichten – Brief vom 8. 12. 1924 rechnete er mit den zahlreich neu aufgetauchten, »sogen[annten] Führer[n]« der völkischen Bewegung ab, die in seinen Augen lediglich »politische Freibeuter« waren. Pöhner sprach gar von »geistig und moralisch wurmstichigen Persönlichkeiten«, »größtenteils mit psychopathischem Einschlag trüber Vergangenheit«. Zwischen den verschiedenen völkischen und nationalsozialistischen Gruppen entzündeten sich im Frühjahr 1925 immer wieder heftige Konflikte um die Frage der künftigen Führung. Während Hitler den mangelnden Gehorsam seiner Gegner kritisierte, warfen diese ihm vor, sich persönlich wichtiger zu nehmen als die gemeinsame Sache. Im Reichswart war hier von einer »kindliche[n] Ueberspannung des Führergedanken[s]« die Rede, ja gar von einem »krankhafte[n] Führerbyzantismus [sic!]« mit »pathologischen Beimischungen«, an den man »nur mit Schaudern zurückdenken« könne. Die Auseinandersetzungen zogen sich bis 1927/28 hin, ehe sich die NSDAP schließlich endgültig als stärkste Partei im völkischen Lager durchsetze.

Vgl. Reichswart vom 21. 2. 1925, »Zum Stande der völkischen Bewegung«; Miesbacher Anzeiger vom 30. 8. 1925, »Aus Pöhner’s Nachlaß« (Zitate); Deuerlein (Hrsg.), Aufstieg, bes.S. 242 – 250; Rösch, NSDAP, S. 170 – 175; Plöckinger, Geschichte, S. 82 – 84; Ullrich, Hitler, Bd. 1, S. 214 f.; Kap. II/8, Anm. 6.

104 Die Forderung nach einem heroischen »Führertum« lässt sich weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen und begann sich vor 1914 aus zunehmender Enttäuschung über Kaiser Wilhelm II. in nationalistischen Kreisen zu radikalisieren. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs zählte diese Forderung zum ideologischen Kernbestand völkischer und nationalistischer Autoren. Ende Februar 1925 schrieb etwa Ernst Graf zu Reventlow im Reichswart: »In nationalen und völkischen Kreisen ist [es] zu einer Art Dogma geworden, daß die deutsche Zukunftsfrage eine Führerfrage sei.« Insgesamt war die politische Kultur der Weimarer Republik auch in der gesellschaftlichen Mitte deutlich von der Sehnsucht nach politischen »Führern« gekennzeichnet.

Vgl. Claß, Staatskunst, S. 34; Reichswart vom 28. 2. 1925, »Was fehlt?«; Kap. II/8, Anm. 6.

106 Eine Anspielung auf die Vereinigung der NSDAP mit anderen völkischen Gruppen 1920/21, insbesondere mit der Deutschsozialistischen Partei (DsP), auf die Hitler am 11. 7. 1921 mit einem Parteiaustritt reagierte und die dann in der Parteikrise des Sommers 1921 kumulierte. Hitler akzeptierte lediglich die Unterwerfung unter seinen absoluten Führungsanspruch, alles andere lehnte er ab. In der Satzung der NSDAP vom 29. 8. 1921 und auch in ihren späteren Satzungen waren Vereinigungen mit anderen Parteien nur noch unter dem Vorbehalt möglich, dass die NSDAP keinerlei Gegenleistungen erbringen müsse. In einem Rundschreiben vom 26. 4. 1922 führte Hitler aus, es sei »eine wahnsinnige Theorie, die da meint, durch Verbindung zweier Krüppel einen Gesunden machen zu können, oder die gar glaubt, einen Gesunden stärker zu machen dadurch, daß man ihm einen Krüppel anhängt«. In der politischen Praxis war Hitler jedoch bisweilen auch zu Kooperationen bereit. So schloss sich etwa im Herbst 1922 die SA den Vereinigten Vaterländischen Verbänden Bayerns (VVVB) an – eine Zusammenarbeit, die Hitler selbst später scharf kritisieren sollte.

Vgl. Tyrell (Hrsg.), Führer, S. 36; Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 381, Zitat S. 636; Hitler, Reden, Bd. I, Dok. 64, 146; Tyrell, Trommler, S. 100 f.; Kap. II/9, Anm. 226. Zur Parteikrise 1921 vgl. Kap. II/11, Anm. 42.

stellen und die Bewegung in dem betreffenden Gebiete zu organisieren und zu führen.

Es kann vorkommen, daß sich dann in großen Gebieten niemand findet, in anderen Orten# 1930: eingefügt: dagegen wieder zwei oder gar drei annähernd gleich fähige# 1930: fähige ersetzt durch: Fähige sind . Die Schwierigkeit, die in einer solchen Entwicklung liegt, ist groß und kann nur nach Jahren überwunden werden.103

Immer aber ist und bleibt die Voraussetzung bei der# 1930: bei der ersetzt durch: für die Bildung einer organisatorischen Form der zu ihrer Führung fähige Kopf.

So wertlos eine Armee in all ihren organisatorischen Formen ohne Offiziere# 1939: Offiziere ersetzt durch: Offizier;
1944: Offiziere ist, so wertlos ist eine politische Organisation ohne den entsprechenden Führer.

Der Bewegung nützt beim Mangel einer entsprechenden Führerpersönlichkeit das Unterlassen der Bildung einer Ortsgruppe mehr als ihre mißglückte Organisation infolge des Fehlens eines leitenden und vorwärtstreibenden Kopfes# 1930: Der Bewegung nützt beim Mangel einer entsprechenden Führerpersönlichkeit das Unterlassen der Bildung einer Ortsgruppe mehr als ihre mißglückte Organisation infolge des Fehlens eines leitenden und vorwärtstreibenden Kopfes ersetzt durch: Für die Bewegung ist das Unterlassen der Bildung einer Ortsgruppe besser als das Mißglücken ihrer Organisierung, wenn eine leitende und vorwärtstreibende Führerpersönlichkeit fehlt .

Zum Führertum selber# 1944: selber ersetzt durch: selbst gehört nicht nur Wille, sondern auch Fähigkeit, wobei jedoch der Willens- und Tatkraft eine größere Bedeutung zugemessen werden muß als der Genialität an sich und am wertvollsten eine Verbindung von Fähigkeit, Entschlußkraft und Beharrlichkeit ist.104

12. Die Zukunft einer Bewegung wird bedingt durch den Fanatismus, ja die Unduldsamkeit, mit der ihre Anhänger sie als die allein richtige vertreten und anderen Gebilden ähnlicher Art gegenüber durchsetzen.

Es ist der größte Fehler, zu glauben, daß die Stärke einer Bewegung zunimmt durch die Vereinigung mit einer anderen, ähnlich beschaffenen.105 Jede Vergrößerung auf solchem Wege# 1930: Wege ersetzt durch: Weg;
1937: Wege;
1939: Weg bedeutet zunächst freilich eine scheinbare# 1930: gestrichen: scheinbare Zunahme an äußerem Umfang und damit in den Augen oberflächlicher Betrachter auch an Macht, in Wahrheit jedoch übernimmt sie nur die Keime einer später wirksam werdenden inneren Schwächung.106

Denn was immer man von der Gleichartigkeit zweier Bewegungen reden mag, so ist sie in Wirklichkeit doch nie vorhanden. Denn im anderen Falle gäbe es eben praktisch nicht zwei, sondern nur eine Bewegung. Und ganz gleich, worin die Unterschiede liegen – und