Die Besudelung großer Vergangenheit <span class="pagenumber">[275]</span>

166 Der vor allem in den Ohren konservativer Bildungsbürger provokante Anspruch und Gestus, die Weimarer Klassik »überwunden« zu haben, verband mehrere radikale Vertreter der Moderne. So berichtet Oskar Maria Graf in seinen Erinnerungen Wir sind Gefangene (1927) von einer seiner ersten Begegnungen mit dem expressionistischen Schriftsteller Franz Jung in München unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs: »Er sah meine Bücher an, wetterte über Schiller und sagte, ich solle mitkommen. Er lächelte ein wenig schief und meinte plötzlich: ›Was braucht man heut’ noch Schiller! … Alles Blödsinn!‹ Ich ging mit. […] So lernte ich allerhand Literaten, Maler und sonstiges Kaffeehausvolk kennen. […] Es wurde philosophiert, gestritten oder psychoanalysiert. Mit aller Anstrengung hörte ich oft hin, verstand aber nicht das mindeste. Da wurden literarische Größen und ewige Werte mit ein paar Worten abgetan, förmlich vernichtet. Ich staunte wie ein junger Spatz und sagte nichts. Das war eine neue Welt.« Empörung über derartige Einstellungen findet sich schon in dem 1907 veröffentlichten Buch Der Volks-Goethe: »Gewisse Bildungsbeflissene glauben Goethe überwunden zu haben. Neben heuchlerischem Lippen- und Reliquiendienst hat sich ein frecher Goethesnobismus breit gemacht. Es gibt nicht wenige unter unsern modernen Geistern, die, sobald von Goethe die Rede ist, den Mund voll nehmen und von der innern Kraft des Dichters keine Ahnung haben.«

Vgl. Krüger-Westend, Volks-Goethe, Zitat S. 20; Graf, Gefangene, Zitate S. 86 f.

da sein müßten und nicht zur Ergötzung alter blasierter Lebensschichten dienen dürften. Was würden wohl die großen Dramatiker aller Zeiten zu einer derartigen Maßregel gesagt haben und was vor allem zu den Umständen, die dazu die Veranlassung gaben? Wie würde da wohl ein Schiller aufgeflammt sein und ein Goethe sich empört abgewendet haben!# 1926: Wie würde da wohl ein Schiller aufgeflammt sein und ein Goethe sich empört abgewendet haben! ersetzt durch: Wie wäre da Schiller aufgeflammt, wie würde sich Goethe empört abgewendet haben!;
1930: gestrichen: da

Aber freilich, was sind denn Schiller, Goethe oder Shakespeare gegenüber den »Heroen«# 1926: »Heroen« ersetzt durch: Heroen der neueren deutschen Dichtkunst?# 1930: Fragezeichen ersetzt durch: Ausrufezeichen Alte abgetragene und überlebte, nein »überwundene«# 1926: »überwundene« ersetzt durch: überwundene Erscheinungen.166 Das war nämlich das Charakteristische# 1926: Das war nämlich das Charakteristische ersetzt durch: Denn das war das Charakteristischste;
1933: Denn das war das Charakteristische dieser Zeit: nicht daß sie selber nur mehr Schmutz produzierte, besudelte sie# 1930: eingefügt: obendrein alles wirklich Große der Vergangenheit um so ärger# 1930: gestrichen: um so ärger . Es ist dies# 1926: Es ist dies ersetzt durch: Das ist allerdings eine Erscheinung, die man immer zu solchen Zeiten beobachten kann. Je niederträchtiger und elender die Erzeugnisse einer Zeit und ihrer Menschen sind, um so mehr haßt man die Zeugen einer einstigen größeren Höhe und Würde.167 Am liebsten möchte man in solchen Zeiten die Erinnerung an die Vergangenheit überhaupt der Menschheit wegtilgen, um so durch# 1926: Vergangenheit überhaupt der Menschheit wegtilgen, um so durch ersetzt durch: Vergangenheit der Menschheit überhaupt wegtilgen, um durch;
1930: wegtilgen ersetzt durch: tilgen die# 1944: gestrichen: die Ausschaltung jeder Vergleichsmöglichkeit den eigenen Kitsch immerhin noch als »Kunst« vorzutäuschen. Daher wird jede neue Institution, je elender und miserabler sie ist, um so mehr die letzten Spuren der vergangenen Zeit zu verlöschen# 1930: verlöschen ersetzt durch: löschen trachten, während jede wirklich wertvolle Erneuerung der Menschheit auch unbekümmert an die guten Errungenschaften vergangener Generationen anknüpfen kann, ja diese oft erst zur Geltung zu bringen versucht. Sie braucht dann nicht zu befürchten# 1926: Sie braucht dann nicht, zu befürchten ersetzt durch: Sie braucht nicht zu befürchten , etwa vor der Vergangenheit zu verblassen, sondern sie gibt von sich aus dem allgemeinen Schatz der menschlichen Kultur einen so wertvollen Beitrag, daß sie oft gerade zu dessen voller Würdigung die Erinnerung an die früheren Leistungen selber wachhalten möchte, um so der neuen Gabe erst recht das volle Verständnis der Gegenwart zu sichern. Nur wer der Welt von sich aus gar nichts Wertvolles zu schenken vermag, aber zu tun versucht, als ob er ihr weiß Gott was geben wollte, wird alles wirklich schon Gegebene hassen und am liebsten verneinen oder gar vernichten.