Gehen Völker an verlorenen Kriegen zugrunde? <span class="pagenumber">[242]</span>

16 Der Gedanke, Kriege seien historische Momente der Erneuerung, wurde bereits in der Romantik formuliert. Der sozialdarwinistische Zeitgeist um 1900 radikalisierte dieses Denken dann zu der Vorstellung, ein dauerhafter Frieden sei gleichbedeutend mit kulturellem, politischem und auch biologischem Niedergang. Friedrich von Bernhardi sprach in der Schrift Deutschland und der nächste Krieg (1912) gar von einer »biologische[n] Notwendigkeit« des Kriegs, ohne den »minderwertige oder verkommene Rassen die gesunden, keimkräftigen Elemente überwuchern« würden. Im selben Jahr schrieb der Vorsitzende des Alldeutschen Verbands (ADV), Heinrich Claß: »Heilig sei uns der Krieg, wie das läuternde Schicksal, denn er wird alles Große […] wecken in unserem Volke und seine Seele reinigen von den Schlacken der selbstischen Kleinheit. […] Willkommen sei er uns als der Arzt unserer Seelen, der mit stärksten Mitteln uns heilen wird.« Diese Ideologie zeigte sich auch in der Kunst: Berühmt wurde das 1909 veröffentlichte Manifest des Futurismus des italienischen Schriftstellers Filippo Tommaso Marinetti, in dem es heißt: »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus […], die schönen Ideen, für die man stirbt […].«

Zu solchen Äußerungen, die auch von einer profunden Unterschätzung des modernen Kriegs getragen waren, wie er sich dann in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs zeigen sollte, gab es allerdings gewichtige Gegenstimmen. So warnte der 90-jährige preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke in einer Rede vor dem Reichstag vom 14. 5. 1890 – durchaus im Widerspruch zu seinen früheren Äußerungen – vor einem Krieg, in dem »die größten Mächte Europas, […] gerüstet wie nie zuvor, gegeneinander in den Kampf treten« würden. Keine dieser Mächte könne »in einem oder zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie sich für überwunden« erklären müsse. Dadurch drohe »ein siebenjähriger«, ja »ein dreißigjähriger Krieg«, »und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!«

Vgl. Bernhardi, Deutschland, Zitat S. 11, 14; Frymann, Kaiser, Zitat S. 182 f.; Wirsching, Verschränkung, S. 77 f.; Seifert, Körper, S. 117 – 119; Kiesel, Jünger, S. 78 – 83, Zitate S. 79 f., 82; Kap. II/1, Anm. 38; Anm. 161 in diesem Kapitel.

18 Der Passus erinnert stark an den Aufsatz Der Anteil des Judentums am Zusammenbruche Deutschlands von Hans von Liebig, der 1919 in der Zeitschrift Deutschlands Erneuerung erschien und anschließend in großer Zahl als Sonderdruck verbreitet wurde. Der Aufsatz schließt mit den Worten: »Jedes Volk verdient die Regierung, die es hat; das Judentum hätte es in Deutschland niemals zum Sturz der Könige und zum Zusammenbruch des ganzen Reiches bringen können, wenn ihm nicht das deutsche Volk selbst in allen seinen Gliedern […] den Weg dazu gebahnt hätte. Es trägt jeder sein Teil Schuld daran.« Dass Hitler die Zeitschrift kannte und schätzte, ist durch ein von ihm signiertes Rundschreiben zu den Themen »Ortsgruppengründung, Versammlungsberichte, Propagandamaterial« vom 4. 3. 1922 belegt: »Als eine verhältnismäßig sehr gute Aufklärungsschrift ist die […] Zeitschrift ›Deutschlands Erneuerung‹ anzusprechen. In dieser Zeitschrift befinden sich häufig Aufsätze von ganz ausgezeichnetem Wert, statistisches Material usw.«

Vgl. Jäckel/ Kuhn (Hrsg.), Hitler, Dok. 370, Zitat S. 595; Liek, Anteil, Zitat S. 16.

19 Anspielung auf Kurt Eisner, der als bayerischer Ministerpräsident am 23. 11. 1918 Akten des bayerischen Ministeriums des Äußern aus dem Juli 1914 veröffentlichen ließ, welche die Schuld der deutschen Reichsleitung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs belegen sollten. Zum einen wollte Eisner damit der deutschen Öffentlichkeit das Versagen der Außenpolitik des Kaiserreichs und ihrer Protagonisten vor Augen führen, zum anderen hoffte er, der Entente das Bild von einem grundlegend gewandelten, neuen Deutschland vermitteln zu können. Dieser Vertrauensbonus sollte wiederum bessere Friedensbedingungen ermöglichen. Eisners Konzept scheiterte. Die Veröffentlichung der Dokumente sorgte in Deutschland für einen Sturm der Entrüstung, der sich auch im sozialdemokratischen Vorwärts artikulierte. In der deutschen Rechten galt Eisner seither – und auch noch nach seiner Ermordung am 21. 2. 1919 – als Inbegriff des Landesverräters.

Vgl. Kap. II/10, Anm. 22, 23.

Die Antwort darauf kann sehr kurz sein: Immer dann, wenn Völker in ihrer militärischen Niederlage die Quittung für ihre innere Fäulnis, Feigheit, Charakterlosigkeit, kurz Unwürdigkeit erhalten. Ist dies# 1930: dies ersetzt durch: es nicht so, dann wird die militärische Niederlage eher noch# 1930: gestrichen: noch zum Antrieb eines kommenden größeren Aufstieges, als zum Leichenstein eines Völkerdaseins.16

Die Geschichte bietet unendlich viele Beispiele für die Richtigkeit dieser Behauptung.17

Leider ist nun# 1930: gestrichen: nun die militärische Niederlage des deutschen Volkes nicht eine unverdiente Katastrophe, als vielmehr# 1930: als vielmehr ersetzt durch: sondern eine verdiente Züchtigung der ewigen Vergeltung. Wir haben diese Niederlage mehr als verdient. Sie ist nur die größte äußere Verfallserscheinung unter einer ganzen Reihe von inneren, die vielleicht in ihrer Sichtbarkeit dem Auge# 1926: dem Auge ersetzt durch: den Augen der meisten Menschen verborgen geblieben waren, oder nach der Vogel-Strauß-Manier nicht gesehen werden wollten# 1926: oder nach der Vogel-Strauß-Manier nicht gesehen werden wollten ersetzt durch: oder die man nach der Vogel-Strauß-Manier nicht sehen wollte .18

Man beachte doch einmal die Begleiterscheinungen, unter denen das deutsche Volk diese Niederlage entgegennahm. Hatte man nicht in vielen Kreisen in der schamlosesten Weise geradezu Freude über das Unglück des Vaterlandes geäußert? Wer aber tut dieses, wenn er nicht wirklich eine solche Strafe verdient? Ja, ging man nicht noch weiter und rühmte sich, die Front endlich zum Weichen gebracht zu haben? Und dieses tat nicht etwa der Feind, nein, nein, solche Schande luden Deutsche auf ihr Haupt! Traf sie# 1933: eingefügt: etwa das Unglück etwa# 1933: gestrichen: etwa zu Unrecht? Seit wann aber geht man dann noch her und mißt sich selbst auch noch die Schuld am Kriege zu? Und zwar wider bessere Erkenntnis und besseres Wissen!# 1939: Ausrufezeichen ersetzt durch: Fragezeichen;
1944: Ausrufezeichen 19

Nein und noch einmal# 1926: noch einmal ersetzt durch: nochmals nein: in# 1944: in ersetzt durch: In der Art und Weise, in der das deutsche Volk seine Niederlage entgegennahm, vermag man am deutlichsten zu erkennen, daß die wahre Ursache unseres Zusammenbruches ganz wo anders# 1937: wo anders ersetzt durch: woanders;
1939: wo anders;
1944: woanders zu suchen ist, als in dem rein militärischen Verlust einiger Stellungen oder dem Mißlingen einer Offensive20; denn hätte wirklich die Front als solche versagt und wäre durch ihr Unglück das Verhängnis des Vaterlandes hervorgerufen worden, so würde das deutsche Volk die Niederlage ganz anders aufgenommen haben. Dann hätte man das nun folgende Unglück mit zusammen-