Das österreichische Ultimatum <span class="pagenumber">[169]</span>

24 Die 1870 gegründete Zentrumspartei, die Partei des politischen Katholizismus, war eine der stärksten Parteien des Kaiserreichs. Tatsächlich forderte sie eine enge Zusammenarbeit mit der Habsburgermonarchie; neben konfessionellen Gründen spielte dabei der nationalpolitische Wunsch nach einer »großdeutschen Lösung« unter Einschluss Österreichs – wenn auch ohne dessen slawische Reichsteile – eine Rolle. Außenpolitischer Kontrapunkt war die Feindschaft gegenüber Russland – auch hier spielten konfessionelle wie politische Gründe eine Rolle: Einerseits beklagte man, dass die russisch-orthodoxe Staatskirche den römischen Katholizismus unterdrückte, andererseits wurden die russische Politik auf dem Balkan und der von Russland geförderte Panslawismus als Bedrohung Österreich-Ungarns gewertet. Wohl noch feindseliger als das Zentrum stand freilich die Sozialdemokratie Russland gegenüber. Bereits die Neue Rheinische Zeitung, das Sprachrohr von Karl Marx und Friedrich Engels in den Revolutionsjahren 1848/49, propagierte einen revolutionären Krieg gegen das Zarenreich, das als sozial rückständiger Hort der Unterdrückung und Barbarei galt. Populär wurde später eine Äußerung August Bebels, der auf dem Parteitag der SPD 1907 meinte, wenn es gegen Russland ginge, würde auch er noch einmal die Flinte schultern. Die deutsche Reichsregierung nutzte im Sommer 1914 die Furcht vor dem reaktionären Russland propagandistisch aus und konnte zahlreiche Sozialdemokraten von der Notwendigkeit des Kriegs überzeugen. Für die SPD-Reichstagsfraktion war die Stoßrichtung gegen Russland dann auch einer der Hauptgründe für ihre Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. 8. 1914. 

Vgl. Gollwitzer, Katholizismus, S. 241 – 246; Geyer, Ostpolitik, S. 145 f.; Carsten, Bebel, S. 233, 236; Zarusky, Sozialdemokraten, S. 19 – 25; Zarusky, Zarismus, S. 99 – 107; Niemann, Geschichte, S. 14; Kap. I/4, Anm. 137.

25 Wohl eine Anlehnung an Oberst Max Bauer, der bereits 1919 kritisiert hatte: »Unsere Außenpolitik war tatsächlich ein Trauerspiel ersten Ranges. Säbelrasseln, Friedensschalmeien, Rückzüge und alles im verkehrten Augenblick, bis wir glücklich den halben Erdball gegen uns hatten.« Hintergrund dieser Äußerung bildete der »eigentümlich schwankende außenpolitische Kurs« des Deutschen Reichs nach dem Sturz Bismarcks. Dieser lag nicht nur in den wechselnden, oft schwer durchschaubaren außenpolitischen Konstellationen begründet, in Fehleinschätzungen und in der Rücksicht, die das Deutsche Reich auf seine Verbündeten nehmen musste; auch innenpolitische Zwänge spielten zunehmend eine Rolle: Unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die mit der Sozialdemokratie auf der einen sowie den Konservativen und ihren mächtigen Interessenverbänden auf der anderen Seite stark polarisiert war, wurde eine pragmatische Außenpolitik für die Reichsregierung immer schwieriger.

Vgl. Bauer, Krieg (1919), Zitat S. 10; Ullrich, Großmacht, S. 223 – 238, 581; Afflerbach, Dreibund, S. 385 – 389, Zitat S. 388; Hildebrand, Reich (2008), S. 251 f. Zu der zeitgenössisch weitverbreiteten Perzeption, das Deutsche Reich sei 1914 Opfer eines gezielten Angriffs geworden, vgl. Kap. I/6, Anm. 39.

26 Schon eine zeitgenössische Sammlung deutscher und österreichisch-ungarischer Zeitungsberichte über den Kriegsbeginn widerlegt diese Behauptung. Das österreichisch-ungarische Ultimatum wurde in den verschiedenen Tageszeitungen sehr unterschiedlich beurteilt. Während etwa die liberale Berliner Tageszeitung schrieb, die österreichisch-ungarische Regierung habe ihre Forderungen in »ruhigem und ernstem Ton« aufgestellt, »der nichts Verletzendes für die serbische Regierung« habe und deshalb uneingeschränkt zu billigen sei, hieß es in der Vossischen Zeitung: »Es ist nicht zu leugnen, daß fast jeder Punkt der von Österreich aufgestellten Liste einen Eingriff in die Hoheitsrechte des serbischen Staates bedeutet.« Und die Rheinisch-Westfälische Zeitung urteilte: »Das österreichisch-ungarische Ultimatum ist nichts als ein Kriegsvorwand, aber diesmal ein gefährlicher.« Ganz abgesehen von solchen Stimmen aus dem liberalen und nationalistischen Lager verurteilte die gesamte deutsche sozialdemokratische Presse Österreich-Ungarn wegen seines Ultimatums.

Vgl. Buchner, Kriegsdokumente, Bd. 1, S. 9 f., Zitate S. 10; Müller, Stellung, S. 37 – 46; Schmidt, Zeitung, S. 372 f.

27 Tatsächlich war die Reaktion der deutschen Gesellschaft auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ungleich heterogener als von Hitler suggeriert. Euphorie über den Kriegsausbruch beschränkte sich vor allem auf das städtische Bürgertum und die Studenten; bei den Arbeitern und Bauern war davon hingegen wenig zu spüren. Hier herrschten Ängste und auch die Hoffnung vor, der Krieg würde sich doch noch abwenden lassen. Von einer kollektiven Kriegssehnsucht konnte keine Rede sein. Selbst ein konservatives Blatt wie der Berliner Lokal-Anzeiger schrieb am 1. 8. 1914 in Reaktion auf einen Beitrag des sozialdemokratischen Vorwärts: »Der Vorwärts versichert […] für sich und seine Gesinnungsgenossen: ›Wir wollen keinen Krieg!‹ Auch darin können ihm ausnahmsweise einmal alle Deutschen zustimmen.« In Hitlers Behauptung ist daher noch immer die Wirkung jener deutschen Propaganda spürbar, die das »Augusterlebnis« und den »Geist von 1914« während des Ersten Weltkriegs immer wieder beschwor und damit maßgeblich zu jener Mythologisierung beitrug, von der später auch zahlreiche Darstellungen durchdrungen waren. Demnach seien durch das gemeinsame »Urerlebnis« kollektiver Kriegsbegeisterung die inneren Konflikte der »Klassengesellschaft« überwunden und erstmals eine deutsche »Volksgemeinschaft« verwirklicht worden.

Vgl. Berliner Lokal-Anzeiger vom 1. 8. 1914 (MA), »Die deutsche Arbeiterschaft und der Krieg«; Kruse, Kriegsbegeisterung, S. 73 ff.; Kruse, Krieg, S. 54 – 61; Verhey, Geist, S. 307 f., 317 – 328; Lipp, Meinungslenkung, S. 92; Schröder, Kriegsbegeisterung; Raithel, Augusterlebnisse; Stöber, Augusterlebnis.

29 Am 2. 8. 1914, einen Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Russland, versammelte sich eine begeisterte Menschenmenge zu einer Kundgebung vor der Feldherrnhalle in München. Heinrich Hoffmann, später Hitlers »Leibfotograf«, fotografierte die Menge, als sie patriotische Lieder sang. 1927 entdeckte Hitler das Bild bei Hoffmann, der darüber in seinen Erinnerungen berichtet: »›Unter dieser Menschenmenge stand auch ich!‹ rief Hitler erregt aus. ›Dann müßten Sie ja zu finden sein‹ antwortete ich und machte mich gleich an die Arbeit, um Vergrößerungen herzustellen. […] Auf [der] letzten Platte entdeckte ich Hitler! Es gab keinen Zweifel, barhäuptig stand er unter der Menge und sang mit.« Das Foto wurde eine der begehrtesten Aufnahmen von Hitler und bereits während der NS-Zeit in zahlreichen Publikationen abgedruckt.

Vgl. Bade, Deutschland, S. 10; Hoffmann, Hitler, Zitat S. 32; Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 308; Heydecker (Hrsg.), Hitler-Bild, S. 50. 

giösen Gesichtspunkten den österreichischen Staat am meisten zum Angel- und Drehpunkt der deutschen Politik gemacht.24 Nun hatte man die Folgen dieses Irrsinns zu tragen. Was nun# 1926: gestrichen: nun kam, mußte kommen und war unter keinen Umständen mehr zu vermeiden. Die Schuld der deutschen Regierung war dabei, daß sie, um den Frieden nur ja zu erhalten, die günstigen Stunden des Losschlagens immer versäumte, sich in das Bündnis zur Erhaltung des Weltfriedens verstrickte und so endlich das Opfer einer Weltkoalition wurde, die eben der Erhaltung# 1930: eben der Erhaltung ersetzt durch: eben dem Drang nach Erhaltung des Weltfriedens die Entschlossenheit zum Weltkrieg entgegenstemmte.25

Hätte aber die Wiener Regierung damals dem Ultimatum eine andere, mildere Form gegeben, so würde dies an der Lage gar nichts mehr geändert haben als höchstens das eine, daß sie selber von der Empörung des Volkes weggefegt worden wäre. Denn in den Augen der breiten Masse war der Ton des Ultimatums noch viel zu rücksichtsvoll und keineswegs etwa zu brutal# 1930: brutal ersetzt durch: weitgehend oder gar zu weitgehend# 1930: weitgehend ersetzt durch: brutal . Wer dies heute wegzuleugnen versucht, ist entweder ein vergeßlicher Hohlkopf oder ein ganz bewußter Schwindler und# 1926: gestrichen: Schwindler und Lügner.26

Der Kampf des Jahres 1914 wurde den Massen, wahrhaftiger Gott, nicht aufgezwungen, sondern von dem gesamten Volke selbst begehrt.27

Man wollte einer allgemeinen Unsicherheit endlich ein Ende bereiten. Nur so kann man auch verstehen, daß zu diesem schwersten Ringen sich über zwei Millionen deutscher Männer und Knaben freiwillig zur Fahne stellten, bereit, sie zu schirmen mit dem letzten Tropfen Blute# 1930: Blute ersetzt durch: Blutes .28

Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.29