Ein Guß Taufwasser <span class="pagenumber">[125]</span>

253 Als prosperierende und schnell wachsende Metropole besaß Wien im 19. Jahrhundert eine große Anziehungskraft. Zwischen 1810 und 1910 stieg die Bevölkerungszahl von 240.000 auf über zwei Millionen. Unter den Zuwanderern befanden sich besonders viele Tschechen. Obwohl diese oft als »Bauern- und Dienstbotenvolk« angesehen wurden, fassten sie in der neuen Umgebung schnell in verschiedensten Berufszweigen Fuß. Bis 1914 drängten Tschechen zunehmend in die Bereiche Industrie und Handwerk. Obwohl die amtlichen Statistiken nicht eindeutig sind, dürften unter Berücksichtigung der Geburtsorte etwa ein Viertel der Wiener Bevölkerung, unter Einbeziehung der Elterngeneration sogar fast die Hälfte aus Böhmen und Mähren gestammt haben. Besonders häufig waren sie in Wien als Schneider und Schuster tätig (27,6 % der Berufstätigen), in der Holz- und Kautschukindustrie (9,8 %), im Baugewerbe (7,9 %) sowie in der metallverarbeitenden Industrie (6,6 %).

Vgl. Glettler, Tschechen, S. 25 – 72, bes.S. 64; Kořalka/ Crampton, Tschechen, S. 506 – 508; Kořalka, Tschechen, S. 112 – 116; Hamann, Wien, S. 430, 441; John, Atem, S. 31 – 60. 

255 Die Wiener Juden empfanden dies damals anders. Seit der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Österreich-Ungarn im Jahr 1867, vor allem aber seit der Wirtschaftskrise um 1880, begann sich dort immer stärker ein Antisemitismus zu verbreiten, als dessen wirkungsvollste Agitatoren Schönerer und auch Lueger auftraten. So erinnerte sich 1949 etwa der Schriftsteller Felix Braun daran, dass schon damals »die politische Bewegung in Wien eine Steigerung der Erregung erreicht [hatte], die zu rohen Ausschreitungen bei Versammlungen und auch in den Straßen ausartete«. Er sei nicht nur in der Schule oder auf Spielplätzen permanent gehänselt worden, sogar der Gärtnerbursche zu Hause habe ihn als Juden beschimpft und geschlagen. Noch gewalttätiger waren die Zusammenstöße, zu denen es zwischen jüdischen Studenten und deutschnationalen Burschenschaftern an der Wiener Universität kam. Wie sehr sich damals die Stimmung veränderte, dokumentierte auch der Publizist Karl Kraus im April 1900. In seiner Zeitschrift Die Fackel berichtete er von einer jüdischen Abordnung, die beim österreichischen Ministerpräsidenten erschienen sei, um anzumahnen, dass »auch den Juden gegenüber die österreichischen Staatsgrundgesetze beobachtet werden mögen«. Dennoch blieben tätliche Übergriffe oder Aktionen wie der Ausschluss jüdischer Studenten aus Burschenschaften oder Aufrufe zum Boykott jüdischer Geschäfte eher Ausnahmen – schon weil Kaiser Franz Joseph I. seine schützende Hand über die Juden hielt. Insgesamt war der Antisemitismus in Wien vor dem Ersten Weltkrieg »hauptsächlich ein Schimpf-, kein Aktionsantisemitismus«.

Vgl. Braun, Licht, Zitat S. 135; Hamann, Wien, S. 474 – 476; Pulzer, Momente, Zitat S. 138; Rozenblit, Segregation, S. 227 – 239; Weitzmann, Politik, S. 209; Schwarz, Wien, S. 7 – 32; Kraft, Wassermann, Zitat S. 72; Urbanitsch, Deutschen, S. 98.

256 Die zunehmende Assimilierung der Juden in Österreich-Ungarn – mit dem Staatsgrundgesetz vom 21. 12. 1867 besaßen auch die Juden »die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« – manifestierte sich unter anderem in den Austritten aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft. In Wien, das 1910 insgesamt 175.318 Juden zählte (8,6 % der Einwohner), verließen in den Jahren 1891 bis 1914 12.035 Juden ihre Glaubensgemeinschaft; von ihnen wurden 48,8 % Katholiken, 25,6 % Protestanten und 22,6 % bekannten sich fortan zu keiner Religion mehr. Grund dafür waren nicht selten Ehen zwischen Juden und Nichtjuden; 1881 machten sie 11,8 %, 1901 dann 14,9 % aller israelitischen Eheschließungen in Wien aus.

Vgl. Bihl, Juden, S. 908 – 910, Zitat S. 894.

warum dieser Fehler unterlief, war der gleiche, der auch den zweiten Irrtum veranlaßte.

Wollte die christlich-soziale# 1937: christlich-soziale ersetzt durch: Christlich-soziale;
1939: christlich-soziale Partei Österreich retten, dann durfte sie sich, nach der Meinung ihrer Begründer, nicht auf den Standpunkt des Rassenprinzips stellen, da sonst in kurzer Zeit eine allgemeine Auflösung des Staates eintreten mußte. Besonders aber die Lage in Wien selber erforderte, nach der Ansicht der Führer der Partei, eine möglichst große Beiseitelassung aller trennenden Momente und an deren Stelle ein Hervorheben aller einigenden Gesichtspunkte.

Wien war zu dieser Zeit schon so schwer# 1926: schwer ersetzt durch: stark besonders mit tschechischen Elementen durchsetzt252, daß nur größte Toleranz in bezug auf alle# 1939: gestrichen: alle; 1944: wieder eingefügt: alle Rassenprobleme diese noch in einer nicht von vornherein deutsch-feindlichen# 1937: deutsch-feindlichen ersetzt durch: deutschfeindlichen;
1939: deutsch-feindlichen;
1944: deutschfeindlichen Partei zu halten vermochte. Wollte man Österreich retten, durfte auf sie nicht verzichtet werden. So versuchte man die besonders sehr zahlreichen tschechischen Kleingewerbetreibenden in Wien253 zu gewinnen durch den Kampf gegen das liberale Manchestertum254 und glaubte dabei eine über alle Völkerunterschiede des alten Österreich# 1944: Österreich ersetzt durch: Österreichs hinwegführende Parole im Kampf gegen das Judentum auf religiöser Grundlage gefunden zu haben.

Daß eine solche Bekämpfung auf solcher Grundlage der Judenheit nur begrenzte Sorge bereitete, liegt auf der Hand.255

Im schlimmsten Falle rettete dann# 1930: gestrichen: dann ein Guß Taufwasser immer noch Geschäft und Judentum zugleich.256

Mit einer solchen oberflächlichen Begründung kam man auch niemals zu einer ernstlichen wissenschaftlichen Behandlung des ganzen Problems und stieß aber# 1926: gestrichen: aber dadurch nur zu viele, denen diese Art von Antisemitismus unverständlich sein mußte, überhaupt zurück. Die werbende Kraft der Idee war damit fast ausschließlich an geistig beschränkte Kreise gebunden, wenn man nicht vom rein gefühlsmäßigen Empfinden hinweg zu einer wirklichen Erkenntnis kommen wollte. Die Intelligenz verhielt sich dann# 1926: gestrichen: dann grundsätzlich ablehnend. Die Sache erhielt so mehr und mehr den Anstrich, als handle es sich bei der ganzen Angelegenheit nur um den Versuch einer neuen Judenbekehrung oder gar um den Ausdruck eines